Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 137
ОглавлениеBlumenberg, Hans (1920–1996)
Prima facie gehört Blumenberg zu den Damnatoren, denen daran gelegen ist, dass Menschen die Erde möglichst lange oder möglichst zahlreich bewohnen: „Man muss Verständnis dafür haben, dass niemand tot sein möchte, wenn es sich vermeiden lässt. Ich habe auch Verständnis dafür, dass niemand eine Welt ohne Menschen haben möchte, auch wenn sich dieser Wunsch ungefähr so anhört, als wolle er keine ohne Schmetterlinge. Dabei ist eine Welt ohne Menschen viel unwahrscheinlicher als eine Welt ohne Schmetterlinge.“ (Rette, was wer kann!, Ein mögliches Selbstverständnis, S. 31) Mit diesen Worten scheint Blumenberg einer Perpetuierung der Menschheit zuzustimmen.
Aufmerksamen Lesern bleibt indes nicht verborgen, dass Blumberg weniger zu den Daseinsbejahern gehört, als vielmehr ein Arbeiter in jenem „philosophischen Untergrund“ (Genesis der kopernikanischen Welt, Bd. 1, S. 17) ist, den er bei Anaxagoras einsetzen und in Kant kulminieren lässt. Anaxagoras, so Blumenberg, habe „die nackte Frage herauspräpariert, was das Faktum des Lebens – als solches einmal hingenommen und ohne die gedankliche Konstruktion einer möglichen Wahl zuvor – rechtfertigen könnte.“ (Ebd.)
Damit wäre Anaxagoras der Ahnvater aller Anthropodizee. Die Frage nach Rechtfertigungsgründen für die Hervorbringung neuer Menschen in einer ihnen selten günstigen Welt lässt Blumenberg in Kant kulminieren, da Kant (Natalschuldumkehr) aus der Unmöglichkeit, vorab die Zustimmung der zu Zeugenden einzuholen, die Forderung ableitet, sie so zu erziehen und ihnen das Leben bis zur Mündigkeit so angenehm zu machen, dass sie ihrer Existenz nachträglich zustimmen können. Aus Blumenbergs Höhlenausgängen schimmert sein Standpunkt, dass die Elternpflicht so ungeheuer groß ist, dass es keinem Erzeuger gelingen kann, sie zu erfüllen (Elternpflicht). Hier führt das Denken im philosophischen Untergrund in den Antinatalismus. Seine Arbeit im philosophischen Untergrund fortsetzend, erörtert Blumenberg in Die Vollzähligkeit der Sterne die Vertragsillusion jeglicher Zeugung.
Blumenbergs weinender Paulus
Ein weiteres Beispiel für Blumenbergs antinatalismusnahe Arbeit im philosophischen Untergrund ist seine Darstellung des weinenden Paulus gemäß einer koptisch-apokryphen Paulusapokalypse. Von einem Engel angeführt muss Paulus tief in den Abyssos der Masse der Verdammten blicken, von woher –trotz des Heilstodes des Gekreuzigten – zahllose Erbamensrufe heraufwehen: „Paulus aber weint angesichts dessen, was er sieht, seufzt über das Menschengschlecht. Der Engel an seiner Seite verweist ihm das: Warum weinst du? Bist du barmherziger als Gott? Paulus sagt in seiner Apokalypse nichts von einer Antwort, die er gegeben hätte. Erst viel später, nach vielfältiger Umsicht unter den Qualen der Verdammten, stellt er die alles umfassende Frage: „Weshalb sind sie geboren worden? Wieder verweist es ihm der Engel: Warum weinst du? Bist du barmherziger als der Herr Gott? Und nochmals etwas später, diesmal sich selbst einbeziehend: Besser wäre es für uns, wenn wir nicht geboren wären, wir alle, die wir Sünder sind. Es ist schon viel, dass dieser Paulus weint. Wann ist jemals in der Geschichte dieser großen Liebesreligion von den Heilsgewissen geweint worden über die Verworfenen und Verdammten, deren Überzahl, die massa damnata?“ (S. 253)
In diesem Apokryphon regt sich früh Empörung darüber, dass das Paradox der jesusinduzierten Erlösung aller und der Möglichkeit ewiger Verdammnis (laut Augustinus später: der großen Mehrheit) unter ein Gottesbild gezwängt werden sollte. Auch wenn die Großkirche Augustinus’ Terrorpredigt von den wenigen Erwählten (Pauci electi) nicht in ihren Kanon aufnahm, durften gläubige Eltern im Grunde niemals Nachkommen zeugen, da ihren Kinder doch stets jene ewige Folter bevorstehen konnte, die Paulus zu Tränen rührte. Zwanglos lässt sich diese apokryphe Darstellung in eine postreligiöse Forma mentis transponieren: Wer von uns hätte noch nicht in jenen Abyssos geblickt, der Paulus zu Tränen rührte? Blumenbergs apokryphe Botschaft aus dem philosophischen Untergrund lautet daher: Weshalb sind all diese Menschen gezeugt worden?