Читать книгу Gestalt im Schatten - Luiz Antonio de Assis Brasil - Страница 11
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ОглавлениеMit siebzehn Jahren studierte Aimé Bonpland in Paris Medizin. Die Revolution nahm unterdessen ihren Gang.
Aimé Bonpland war ein Jahr, nachdem man Ludwig XVI und seine Familie nach ihrer Festnahme in Varennes in die Stadt zurückgebracht hatte, dorthin gekommen.
Sie durchlebten einen heißen Sommer.
Eine Woche später nahm die Hitze noch mehr zu. Der Sommer fühlte sich an wie eine Feuerwand, gegen die man stieß, wenn man die Tür öffnete. Die Kartoffeln keimten, noch bevor sie in Les Halles zum Verkauf angeboten wurden. Und es lag allzu viel Staub in der Luft.
Als erstes suchte er, nachdem er sein Gepäck im Hotel Boston gelassen hatte, den lieblichen Jardin du Roi auf, aus dem später der demokratische Jardin des Plantes werden sollte. Das Museum für Naturgeschichte, das der Konvent geschaffen hatte, enthielt Herbarien, die Reisende aus allen Teilen der Welt dorthin geschickt hatten.
In den nächsten Tagen erhielt er die Erlaubnis, die Herbarien von Lamarck durchzublättern. Sie verströmten einen Geruch von Ernsthaftigkeit. Aimé Bonpland notierte sich, wie Lamarck die Musterpflanzen auf den Pappbögen befestigt hatte, und seine Art der Katalogisierung. Er bemerkte seine gerundete, fast kindliche Schrift. Durch Lamarcks wissenschaftliche Betätigung waren diese Pflanzen verewigt worden. Er lernte auch Lamarcks Sammlung von Insekten und Fossilien kennen. Er begann ihn als einen Ahnherrn der Naturwissenschaften zu bewundern. Durch die Erklärungen eines Kommilitonen erfuhr er von Lamarcks Vorstellung von der ständigen Vervollkommnung der Lebewesen in einer Entwicklung hin zu etwas Edlerem. Der Mensch stand an der Spitze dieser biologischen Pyramide. So war es. Darwin kam mit seiner treffenden, auf das Edle verzichtenden Theorie erst später.
Auf dem Gelände des Jardin des Plantes lernte er die gläsernen Gewächshäuser kennen, die ganz Europa mit Bewunderung erfüllten. Dort, in jenen feucht-heißen Räumen wuchsen riesige nordafrikanische Palmen, Bromelien und Orchideen aus Brasilien, Magnolien aus der Algarve, Rhododendren und Azaleen. Er fühlte sich von denen mit den leuchtendsten Farben angezogen. Alle waren Spuren einer Kartographie der Pflanzen, die täglich an Umfang zunahm.
Die Revolution degenerierte indessen.
Aimé begriff nicht, wie man die Ideen der Philosophen mit soviel Hass umsetzen konnte. Dennoch glaubte er weiterhin, dass das Glück der Franzosen mit der absoluten Monarchie unter den Bourbonen unvereinbar sei.
Anatomie studierte er im Hôtel-Dieu. Im Sommer nahmen die Leichen sofort eine violette Färbung an, und nach einer kurzen Leichenstarre verwesten sie, sodass sie nicht mehr zu Studienzwecken seziert werden konnten.
Aimé schloss Freundschaft mit Xavier Bichat, der alle dreißig Tage jeweils mehr als hundert Autopsien vornahm.
„Das Leben“, pflegte Xavier Bichat zu sagen, indem er auf eine Leiche zeigte, „ist nur die Gesamtheit der Funktionen, die dem Tode trotzen.“
In der Charité schrieb sich Aimé Bonpland für die Vorlesungen des berühmten Corvisart ein, der sich dadurch auszeichnete, dass er die Brust seiner Patienten für die Diagnose abhörte. Das war neu, oder man hatte die Methode vergessen.
Corvisart pflegte bei seinen Vorlesungen auf seine Ohren zu deuten und zu erläutern: „Der Ton kommt aus den Tiefen des Körpers und mit ihm ein Hinweis auf alle Krankheiten.“
Man erzählte sich, dass er beim Anblick eines Menschen dessen Seele schaue. Aber das taten nur naive Leute.
Während seiner Vorlesungen hörte man das Geschrei und das Getrampel der Revolution durch die Fenster. Einige Studenten verließen die Anatomie-Demonstrationen und schlossen sich einer besonders lautstarken Gruppe an. Die Lehrveranstaltungen dauerten nur so lange, wie zwischen den Demonstrationen auf der Straße Ruhe herrschte.
Im Krankenhaus Salpêtrière lehrte Philippe Pinel die Studenten, wie man nervenkranke Patienten ohne Handschellen und Strafen behandelt. Es gab dort sogar ein Klavier. Aimé schlug zwei Akkorde an, es war verstimmt.
Während der Ferien in Paris verbrachte er einen Teil des Tages damit, einen Weidenkorb auf dem Rücken, Pflanzen zu sammeln, um sie danach in seinem Hotelzimmer zu bestimmen. Die verbleibende Zeit verbrachte er mit einem auffallenden Filzhut auf dem Kopf im Museum. Diese in Herbarien eingeordneten Pflanzen gaben ihm seine Sicherheit wieder.
Aber er war nur ein junger Mann mit einem Hut, den die Neuigkeiten aus dem Häuschen brachten.
Einmal blieb er im Museum vor einem Glas stehen, das den in Formaldehyd eingelegten Fötus eines Lemuren enthielt. Er sah sein Spiegelbild auf der Oberfläche des Glases.
Es war eine in die Länge gezogene, lächerliche menschliche Gestalt.