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Prolog

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Estanzia Santa Ana, Corrientes, Argentienien,1858

Es ist ein sonniger Nachmittag auf der Pampa. Der Himmel ist wolkenlos. Die Luft ist leicht und schimmert bläulich. Am Vormittag und an den sechs Tagen davor hat es in Strömen geregnet. Düstere Nebelschwaden zogen durch die Luft. Der Bach Las Ánimas war über die Ufer getreten und hatte sich mit dem nahen Fluss, dem Uruguay, vereinigt. Die Felder waren zu Seen geworden, die Mais- und Maniokpflanzungen waren vernichtet. Der Mateplantage hatte es nichts ausgemacht.

Jetzt sind alle glücklich, dass wieder gutes Wetter herrscht.

Die beiden Männer unterhalten sich im größten der drei mit Pampagras gedeckten Gebäude, die einen eigenartigen Komplex bilden. Von oben gesehen hätte er die Form eines K’s.

Sie befinden sich im größten Raum dieses Gebäudes. Die Mauern aus Lehm werden von Baumstämmen gestützt, die denselben Zweck erfüllen wie die Dienste gotischer Dome. Die Risse in den Wänden, eine Folge jahrelanger Vernachlässigung, lassen schräg einfallende Lichtstrahlen hindurch, die allem dort innen einen sonntäglich-feierlichen Anstrich verleihen.

Don Amado Bonpland, der bejahrte Eigentümer, nennt diesen Raum seine salle à manger. Er dient jedoch nicht nur zum Essen, sondern auch zum Lesen, für ärztliche Sprechstunden und zum Empfang von Besuchen. Er ist für die Augenblicke da, in denen die Leute sich dessen bewusst werden, dass sie nicht nur einen Körper, sondern auch einen Geist haben.

Aber alles ist dort Vergangenheit.

In der Pampa sind alle Räume eines Hauses Vergangenheit.

In der Pampa ist alles Vergangenheit.

Don Amado Bonpland und sein junger Besucher setzen sich auf rustikale Stühle an den Tisch, der nichts anderes ist als eine alte hölzerne Tür, die auf zwei Fässern ruht. Darauf liegt eine im Laufe der Zeit verblichene Ledertasche.

Der kleine, tragbare Medikamentenschrank ist nicht zu übersehen. Darin stehen bunte Fläschchen. Einige von ihnen sind ausgetrocknet, sie haben keine Korken. Auf den Etiketten steht, geschrieben in einer Zeit, als die Hand von Don Amado Bonpland noch nicht zitterte: Romarin, Aspérule, Calamenthe, Céleri und anderes für die mangelhafte Sehkraft des Besuchers Unleserliches.

Der unzureichenden Standfestigkeit der Wände ist es geschuldet, dass man das Bücherregal mit fünf Brettern nicht vor Augen hat. Es liegt auf dem Boden und enthält etwa zweihundert Bände. Auf dreien von ihnen steht in Goldschrift auf dem Buchrücken: „Alexander von Humboldt - Kosmos“. Es gibt eine Reihe weiterer, in grünes Leder gebundener Bücher, von denen aber einige Nummern fehlen: „Alexander von Humboldt & Aimé Bonpland - Voyage aux Régions Équinoxiales du Nouveau Continent“.

Der Besucher, Robert Christian Avé-Lallemant, besitzt diese Bände bereits alle, bis auf einen, und jetzt entziffert er dessen Titel: „Description des Plantes Rares Cultivées à Malmaison et à Navarre – Aimé Bonpland“. Auf den Büchern liegt eine dünne Schicht dunkler Staub wie auf allem anderen, was sich dort befindet.

An der Türschwelle steht eine Vase mit fleischfarbenen Rosen. Ihr Stängel ist knotig, unförmig und verkrümmt, so oft ist er immer wieder beschnitten worden. Avé-Lallemant lächelt; er mag Rosen. Er züchtet sie, sogar in seinem angemieteten Haus in Rio de Janeiro.

Don Amado Bonpland bietet Avé-Lallemant einen Mate an, der ihn jedoch sehr höflich ablehnt.

Don Amado gibt nicht nach:

„Dr. Avé-Lallemant, das ist das Gewächs, das ich Ilex humboldtiana genannt habe, damals, als ich den Pflanzen noch Namen gegeben habe.“

Das Wort humboldtiana lässt Avé-Lallemant stutzen. Aber obwohl es den Namen seines lieben Freundes in Erinnerung ruft, lehnt Avé-Lallemant ab. Dieser grüne Tee in einer schmutzigen Kürbisschale ekelt ihn an. Es ekelt ihn, an demselben Metallröhrchen zu saugen, das schon in anderen Mündern gesteckt hat. Es ist der typische Abscheu, den die Fremden empfinden, und er spürt ihn, seit er in die Pampa gekommen ist.

„Aber“, fährt Don Amado Bonpland fort, „meine Kollegen, die Botaniker, haben diesen Namen nie akzeptiert. Sie benutzen andere.“

Avé-Lallemant ist damit beschäftigt, sich das Aussehen dieses Alten einzuprägen. Ein sinnloses Unterfangen; nur in der Jugend mit ihren Hoffnungen und Möglichkeiten unterscheiden sich die Leute.

Ungewöhnlich ist indessen die Geschichte von Don Amado Bonpland.

Eine Koryphäe der botanischen Wissenschaft und Doctor honoris causa von verschiedenen europäischen Universitäten ist Don Amado Bonpland, wie ein Naturforscher aus Ansbach schrieb, der sich an Kaspar Hauser erinnerte, ein neue Aenigma sui temporis, ein Rätsel seiner Zeit.

Die Akademien schicken ihm in Röhren aus Weißblech eingerollte Diplome. Er nimmt diese Ehrungen dankbar und bescheiden an. Er bewahrt sie an Stellen auf, die er bald zu vergessen pflegt. Eine Ausnahme macht er mit zwei Sternen der Légion d’Honneur, er hat sie an das Revers seiner abgetragenen Jacke aus grobem Kattun geheftet. Es ist eine ironische Geste von Don Amado Bonpland; gefangen in der Falle ihrer ausufernden Bürokratie, haben die französischen Behörden ihm zweimal dieselbe Auszeichnung verliehen. Das hatte man Avé-Lallemant schon vorher erzählt, und er amüsierte sich, als er sie nun an Don Amado Bonplands Brust sah.

Obwohl er schon fünfundachtzig Jahre alt ist, nimmt dieser Mann weder Rat noch Hilfe an, so wird es Avé-Lallemant in seinem Tagebuch festhalten und später noch einmal in dem Buch, das er im folgenden Jahr in Leipzig veröffentlichen wird. Er wird außerdem notieren, wie erstaunt er ist, als er erfährt, dass dieser Mann von der französischen Regierung eine Rente von dreitausend Franken erhält; davon könnte er in jeder europäischen Hauptstadt leben.

Don Amado Bonpland ist imstande, alles zu tun, um zu erfahren, was es heißt, die Dinge auf die Spitze zu treiben. Er kleidet sich wie jedermann in der Gegend. Stiefel trägt er nur, wenn es regnet. Jetzt zeigt er sich gerade barfuß. Avé-Lallemant versucht sich vorzustellen, wie diese Beine in Malmaison in Seidenstrümpfen aus Lyon und glatten Lackschuhen mit Silberschnallen steckten. Diese Strümpfe hatten bis zum Knie hoch gereicht und waren in roten Culotten verschwunden, kurzen blumenbestickten Samthosen. Die Lackschuhe waren über Eichen- und Nussbaumparkett gegangen, das unter ägyptischen Teppichen verborgen lag. Napoleon hatte über Frankreich geherrscht, über Italien und Spanien, und alle hatten sich für unsterblich gehalten.

Die Fremden, die Don Amado Bonpland aufsuchen, verwechseln ihn meist mit einem Landarbeiter und fragen ihn nach dem Herrn der Estanzia. So hat es auch Avé-Lallemant gemacht, als er in Santa Ana ankam. Er wird jedes Mal rot vor Scham, wenn er sich daran erinnert.

Jetzt spricht Avé-Lallemant die Bitte aus, auf die Don Amado Bonpland solange gewartet hat.

Jemand tritt näher. Die Tochter von Don Amado Bonpland kommt von draußen herein und lehnt sich an den Rahmen der zum Feld hin offenen Tür. Carmen trocknet sich die Hände an der Schürze ab. Sie beobachtet ihren Vater. Carmen hat das runde Gesicht der Eingeborenen. Sie beherrscht die Sprache, in der sich ihr Vater mit dem Ausländer unterhält, nur unvollkommen, aber es reicht.

Sie hütet die Erinnerungen ihres Vaters. Er dankt ihr dafür mit dem kindlichen Blick, den alte Leute für ihre Familienangehörigen haben.

Don Amado Bonpland beginnt zu sprechen, nachdem er einen Schluck Mate geschlürft hat.

Erst jetzt bemerkt Avé-Lallemant, dass Don Amado Bonpland versucht, das anhaltende Zittern seiner linken Hand zu unterdrücken. Er presst sie gegen das Bein, wo sie flattert wie ein Schmetterling.

Dezent schaut Avé-Lallemant weg.

Don Amado Bonpland spricht langsam und lauscht seinen eigenen Worten:

„An dem Tag, an dem ich in der Küstenstadt La Rochelle im Königreich Frankreich das Licht der Welt erblickte, sank die Sonne mit einem violetten Schein am Horizont des Atlantischen Weltmeeres. Die Fischer fuhren mit ihren Booten aus, sie würden die Nacht auf offener See verbringen. Es war Sommer.“

Auch wenn Don Amado Bonpland sagt „…sank die Sonne mit einem violetten Schein am Horizont des Atlantischen Weltmeeres“, ist das doch die natürliche Sprechweise eines Mannes, der viel gelesen hat. Sie kommen auch Avé-Lallemant, einem späten Spross der deutschen Romantik, gewissermaßen Endprodukt eines Menschenschlages sowie Bewunderer von Schiller und Herder, nicht gekünstelt vor. Er ist hoch aufgeschossen und liebenswürdig. An der Universität Kiel hat er den Doktorgrad der Medizin erworben. Den Kopf zur Seite geneigt, so wie die Hunde es machen, wenn sie aufmerksam den Worten ihres Herren lauschen, hört er zu.

„Viele Jahre vorher hatte mein Großvater die Ranken einer seiner Weinreben beschnitten, als ihm ein Sohn geboren wurde, mein Vater. Er sagte, dass der Säugling ein gutes Gewächs werden würde, wie der Weinstock. Von dem Klang dieser Wörter bonne plante, gutes Gewächs, begeistert, ging er dazu über seinen Sohn Bon Plant zu nennen, und tat das auch noch, als dieser Chef-Chirurg im Krankenhaus von La Rochelle war. Ich habe diesen lächerlichen Spitznamen geerbt und in der Schule Bonpland daraus gemacht. Dort nahm mein Schicksal seinen Anfang. Meinen Taufnamen Aimé habe ich hier in der Neuen Welt übersetzt. Hier kennt man mich, wie Sie ja wissen, als Don Amado Bonpland. Aber man nennt mich auch den Gringo Loco, den verrückten Gringo, je nachdem.“

Don Amado Bonpland hätte noch den Spitznamen Caraí Arandu hinzufügen können, was in der Sprache der Guaranís „Weiser Herr“ bedeutet. Aber daran dachte er nicht.

Don Amado Bonpland erzählt ein Leben, in das sich große Lücken und unerklärliche Vorkommnisse fügen. Er scheint gerade seinen Besucher vergessen zu haben, so glaubt Avé-Lallemant. Aber dann nimmt er den Faden der Erzählung wieder auf:

„Ich mag diese Namen. Sie sagen alles darüber aus, was ich bin, was ich war und was ich sein möchte. Ich bin Amado, denn ich werde geliebt, und ich bin loco, d.h. verrückt. Ständig erfinde ich mein Leben neu, ich befand mich in der Menge, die dem Tode Ludwig XVI beiwohnte, danach in den Regenwäldern des Amazonas, auf dem Gipfel des Chimborazo, in den englischen Gärten der Kaiserin Joséphine, in der langen Gefangenschaft, die mir Doktor Francia in Paraguay auferlegte, in der weiten, majestätischen Pampa, unter den Helfern des Farroupilha-Aufstandes im Süden Brasiliens und im Krankenhaus Santa Casa de Misericórdia von Porto Alegre. Auf dem Höhepunkt meines Lebens schloss ich mich jenem schönen, wunderbaren Mann, unserem gemeinsamen Freund, dem Freiherrn Alexander von Humboldt an, dem ich den Weg zur Anatomie, zur Physiologie, zu den Gewächsen und dem Getier der Welt wies.“

Der Besucher atmet erleichtert auf. Endlich bringt Don Amado Bonpland die Rede auf Humboldt. Avé-Lallemant hatte gefürchtet, dass die beiden miteinander gebrochen hätten.

Er hört aufmerksam zu:

„Humboldt hat mich Astronomie und Physik gelehrt. Er hat mich im Gebrauch optischer, akustischer und mechanischer Geräte unterwiesen. Er hat mir beigebracht, wie man mit den Menschen spricht. Gemeinsam haben wir jene Reise nach Amerika unternommen, die Humboldt zur berühmtesten Persönlichkeit dieses Jahrhunderts gemacht hat.“

Avé-Lallemant weiß nicht nur in allen Einzelheiten über jene Reise Bescheid, sondern er hat auch alle Zeitungsnachrichten gelesen und alle Bücher gekauft, die damit zusammenhängen. Er schätzt Don Amado Bonpland über die Maßen, ja er verehrt ihn geradezu. Er ist sich dessen bewusst, dass er einer der wenigen Europäer ist, die diesen beiden Lichtgestalten der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts die Hand gedrückt haben.

Don Amado Bonpland unterbricht Avé-Lallemants Gedankengänge:

„Meine Reise mit Humboldt war erratisch, sie wurde von Seuchen, Politik, Leidenschaften, Geographie und der guten oder schlechten Stimmung der Schiffskapitäne bestimmt. Es war das Genie Humboldts, das einem Abenteuer, das vom Zufall bestimmt wurde, seinen Sinn gab. Die Reise war für ihn ein Mittel, seine Theorie zu beweisen. Er suchte das große Ganze inmitten des Durcheinanders der Geschöpfe. Er wird mit der Gewissheit sterben, es gefunden zu haben. Was mich betrifft, so habe ich die Einsamkeit gefunden, die Malaria und die Liebe. Danach dann den Kummer und die Gewissensbisse sowie schließlich Vergebung und Weisheit. Und je länger ich lebe, desto mehr stelle ich fest: Alles ist unterschiedlich, alles ist zerbrechlich, alles ist vielfältig, und alles ist überraschend.“

Gestalt im Schatten

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