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ОглавлениеAimé Bonplands Kindheit.
Der Herbst hatte ungewöhnlich früh begonnen. Es war Anfang September. Der Vater, die Mutter, der Bruder und die Schwester nahmen am Tisch Platz. Alle kauten schweigend.
Das Hausmädchen stellte eine Schüssel mit gekochtem Kohl auf den Tisch, die einen widerwärtigen Geruch verströmte. Die Mutter nahm den Teller von Aimé und tat ihm auf. Dazu ein Stück Schweinefleisch, ebenfalls gekocht, bleich.
Der Vater beobachtete sie. Mit der Gabel schob Aimé ein paar Stücke beiseite und setzte damit ein Kohlblatt zusammen. „Jetzt ist es wieder ein Kohlblatt“, sagte er, „wieder ganz.“
Der Vater nahm seinen Becher Wein und nahm neben ihm Platz. Er betrachtete das zusammengesetzte Kohlblatt. „Schön“, fand er und ließ seine Gedanken schweifen.
Aimé stellte eine Sammlung der Pflanzen zusammen, die er in der Umgebung von La Rochelle und an den Ufern des Flusses fand. Das war damals Mode, und man nannte es „botanisieren“.
Viele Leute, auch die gesetztesten, botanisierten. Es botanisierten Väter, Atheisten, Damen der besten Gesellschaft, Griechischlehrer, ja sogar Dienstmädchen.
Die Natur hatte viel zu bieten, und sie war eine Unbekannte.
Als Kind verschwand Aimé einmal einen ganzen Sonntag. An den Ufern des Flusses schob er die Zweige der Weiden beiseite und sammelte, den Blick zu Boden gerichtet, seine Pflanzen. Er hob den Kopf; die ersten Nebel dieser Jahreszeit hüllten die alte Steinbrücke ein, sie erfüllten seine Seele mit einem Gefühl, das er aus den Gedichtbüchern der häuslichen Bibliothek kannte. Der Vater verbot ihm keine Lektüre, er gestattete ihm sogar, die in den angesehenen Kreisen verteufelten Philosophen zu lesen.
Aimé ging wieder in sein Zimmer und breitete die Pflanzen auf seinem Arbeitstisch aus. Er hatte die Species Plantarum aufgeschlagen und versuchte, sie zu bestimmen. Er verbrachte schlaflose Nächte, wenn es ihm nicht gelang, eine besondere Pflanze in dem Buch zu finden. Später sollte es einige geben, die seinen Namen trugen. Sie gehören zur Art Bonplandia aus der Familie der Polemoniacaeae.
In seiner Jugendzeit begann er sich für den menschlichen Körper zu interessieren, für die Krankheiten und infolge seiner Lektüre der Philosophen für die Revolution.
Er las den Émile von Rousseau, den Zadig von Voltaire, und er las Descartes.
Er las Pascal; jetzt war es soweit, dass etwas in seinem Leben geschehen musste.
Sein Bruder fragte ihn, wann er gedenke, sich etwas Ernsthaftem zuzuwenden, und Aimé antwortete ihm, derzeit brauche er diese Dinge. Später werde er Medizin studieren. Sei das denn nicht das, was man von ihm erwarte?
Um ihn von diesen heiklen Themen abzulenken, begann seine Schwester, ihn das Klavierspiel zu lehren. Bereits nach wenigen Monaten spielten sie vierhändig das Andante der Sonata facile in C-Dur von Mozart. Olive hatte im Haus nicht viel zu tun. Sie wartete darauf zu heiraten.
Aimé Bonpland lernte schnell und ohne Hilfe, einige leichtere Werke von Haydn zu spielen. Daraufhin entschloss sich sein Vater, ihm einen Klavierlehrer zu bezahlen, der sich aber sofort den Mantel wieder anzog und seine Tasche mit den Noten an sich nahm.
„Der Junge hat einen solchen Hang zum Herumklimpern, dass er lieber etwas anderes lernen sollte.“
Er fühlte sich seinem Vater gegenüber schuldig. Er konnte ihn kaum ansehen, ohne sich vorzustellen, welches Missvergnügen dieser deswegen empfand.
Deshalb lernte er so gut Latein wie ein Abt. Er pflegte zu sagen, er tue das, um die Species Plantarum zu lesen, auch wenn das Latein vor allem nützlich dafür war, Anatomie zu studieren.
Im passenden Alter las er Ars Amandi von Ovid. Der Vater sah ihn mit dem Buch und lächelte, bevor er die Kerze ausblies und schlafen ging.