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Um die Zeit herum las er den Werther in einer Übersetzung, und der Schluss führte bei ihm zu einer Mischung von Entsetzen und Ekstase.

Man nannte ihm den Namen Goethe.

Ein Kommilitone stürzte sich in die Seine, nachdem er sich mit einem Brief von der Welt verabschiedet hatte. Er erwähnte weder eine verbotene Liebe noch Spielschulden. Nur Überdruss. Er brach das Schreiben in der Mitte ab, mit einem überlangen Federstrich, der ganz oben auf der Seite begann und bis nach unten reichte.

Die Selbstmörder vermachen uns, da sie keine Antworten finden, Fragen.

Bis auf Chénier waren die Romantiker zwar gegen die Brutalitäten der Revolution, aber dennoch keine Monarchisten. Sie waren gar nichts, nur unfruchtbarer Wille und leere Schönheit. Die Suche nach Schönheit führte sie zu mittelalterlichen Tournieren, zu Seen, in denen sich der Mondschein zwischen Wolken spiegelte, zu Duellen im Morgengrauen, zum Zwitschern der Vögel, zu Ruinen im Sturm, zum Balsam der Auen, zu den seufzenden Zypressen der Friedhöfe, zu Hamlet sowie Tristan und Isolde.

Aber die Begeisterung für die Natur und die hohen Stehkragen der Incroyables sollten die am längsten andauernden Modeerscheinungen werden.

Wenn Aimé Bonpland mit seinem Weidenkorb allein durch die Pariser Vororte streifte, stellte er manchmal alles auf den Boden, setzte sich hin und genoss ausgiebig den Sonnenuntergang. Er nannte ihn den „Wagen Apollos“, wurde dann aber dieser altmodischen Ausdrucksweise überdrüssig. Die klassischen Dramen der Comédie Française verließ er oft vor dem Ende der Vorstellung und spazierte durch den Palais Royal, wo noch die erregte Stimme von Camille Desmoulins widerhallte, die das Volk mit den Worten „Aux armes! Aux armes!“ zu den Waffen rief.

Die Musik, dies nichtphilosophische Ens, wie ihm die Radikalen zuflüsterten, könnte ein Trost für ihn sein. Er ging zu den Aufführungen des Concert Spirituel, die es zu dieser Zeit im Théatre des Italiens gab. Er setzte sich in die billigsten Logen. Er hörte Païsiello, doch das führte nur dazu, dass er diese bombastische, leere Musik verabscheute.

Er besuchte häufig Privathäuser, in denen man zum Vergnügen Musik machte. Selbst auf dem Höhepunkt der Revolution ging das Leben weiter. Dort spielten Quartette oder Quintette. Weil viele ihn dazu drängten, setzte er sich eines Abends ans Klavier und spielte aus dem Gedächtnis ein Stück aus der Sonate, die er bei seiner Schwester gelernt hatte. Man applaudierte und servierte den Kaffee.

Man lebte in einer für Musik, für Architektur, für Malerei ungünstigen Zeit. Die weit verbreitete Oberflächlichkeit der Künste wurde indessen durch die Blüte der Naturwissenschaften wettgemacht.

Robespierre führte die Schreckensherrschaft ein, welche die Stadt in einen gefährlichen Ort verwandelte. Die Massenhinrichtungen tränkten die Erde des Place de la Révolution mit Blut und verpesteten die Luft mit einem Gestank von Fäulnis. Angeekelt, verlangten die Pariser, dass man die Guillotine von dort fortbringe.

Die akademischen Instanzen stellten fest, dass man Aimé Bonpland das Diplom nicht geben könne, weil ihm das Praktikum fehle. Er bewarb sich um eine Stelle bei der Marine, und man schickte ihn auf die Fregatte Ajax, die im Kriegshafen von Toulon vor Anker lag.

Dort erblickte er zum ersten Mal das Mittelmeer. Tausende von Lebewesen bevölkerten das Meer, man konnte sie im Wasser sehen. Dort an der See in der frischen Luft war die Revolution nur ein fernes Donnergrollen.

Vom Aufbau auf dem Heck aus starrte er auf den Horizont, hinter dem man Nordafrika entdecken könnte. Wenn Aimé Bonpland „Afrika“ murmelte, dachte er an alle Gegenden der Erde voller Licht, Pflanzen und phantastischer Tiere.

Bei dem Gedanken an eine Reise geriet er ins Träumen. Er wollte reisen. Reisen, koste es, was es wolle.

Die Fregatte Ajax verließ den Hafen nie. Nach dem Abschluss seines Praktikums, in dem Aimé Bonpland es mit den anstößigen Krankheiten der Seeleute zu tun gehabt hatte, konnte er nach Paris zurückkehren, wo man ihm ein Arztdiplom verlieh.

Aber nach seiner Rückkehr war er nicht mehr derselbe. In Toulon war aus der Liebe, einst ein Gebinde blumiger Wörter, ein ungestümer Drang des Fleisches geworden. Sie hieß Corinne, war vierundzwanzig Jahre alt und erledigte Näharbeiten für die Offiziere. Sie war weiß und launisch, und in ihren Augen leuchtete eine stets unvollendete Fröhlichkeit.

In Paris brachte der Staatsstreich vom Thermidor die Hoffnung auf inneren Frieden. Aimé Bonpland nahm wieder Verbindung zu den Wissenschaftlern auf, deren Namen unsterblich zu werden begannen. Er wohnte Vorlesungen von Jussieu bei, der im Jahre des Sturms auf die Bastille das Werk Genera Plantarum Secundum Ordines Naturales Disposita veröffentlicht hatte, in dem er eine Vereinfachung von Linnés Systematik vorschlug. Er besuchte Lamarcks Vorträge im Amphitheater.

Die wichtigste Neuerscheinung war für seinen volkstümlichen Geschmack indessen die Flora Atlantica von Desfontaines, Ergebnis von dessen Reisen durch Algerien und Tunesien. Er hatte tausend fünfhundert Arten und dreihundert Unterarten von Pflanzen registriert. Er hatte Hunderte von Herbarien ins Museum gebracht. Seine Bücher wurden mit so viel hingebungsvoller Sorgfalt ausgestellt wie die Aquarelle von Redouté. Man trennte die Illustrationen heraus und rahmte sie ein. Poetische Namen kamen sowohl unter den Intellektuellen als auch in den anrüchigen Salons in Umlauf.

Linum grandiflorum. Linum tenue.

Lonicera biflora.

Milium coerulescens.

Nigella hispanica.

Ornithogalum fibrosium.

Panicum numidianum. Passerina nitida.

Passerina virgata.

Pimpinella lutea.

Aimé Bonpland erwarb beide Bände. Er studierte die Illustrationen und fragte sich niedergeschlagen: „Was könnte größer und schöner sein als das?“

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