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ОглавлениеHotel Boston, 4 Uhr nachmittags.
Sie waren in Aimé Bonplands Zimmer. Schon seit langem waren sie dort.
Sie sprachen miteinander, sie sagten sich, was sie seit dem Vortag getan hatten.
Jetzt beugte sich Aimé Bonpland über den Schreibtisch, der am offenen Fenster stand, um eine Reihe von Pflanzen beiseite zu schieben, die er anschließend mit den Pressplatten zusammendrücken wollte.
Humboldt saß neben ihm, den Arm auf dem Fensterbrett, und folgte Aimé Bonplands Händen mit den Augen.
Draußen war ein heißer Nachmittag.
„Und die Medizin?“, fragte Humboldt.
„Die Medizin…“ Aimé Bonpland schaute hinaus. Er wandte sich Humboldt zu. Da die Expedition Baudin wohl nicht stattfinden würde, plante er nun das Naheliegende, nämlich nach La Rochelle zurückzukehren, um dort vormittags im Krankenhaus zu arbeiten und nachmittags in seiner Praxis.
„Praxis, Krankenhaus, La Rochelle… Derselbe Weg, den Ihr Vater eingeschlagen hat; und die Botanik?“
Aimé Bonpland nahm seine Tätigkeit wieder auf. Humboldt konnte zerstreut wirken, wenn er wollte.
„Sie könnten mich auf einer Reise begleiten“, sagte er.
Aimé hielt inne, er merkte auf. „Reise?“
Dann fuhr Humboldt fort: „Eine Reise in für Europäer nahezu jungfräuliche Erdteile. Vergessen wir diese Expedition Baudin! Dank einer Erbschaft habe ich Geld“, setzte er hinzu und erklärte sein Vorhaben: Sie würden sich auf die Suche nach wissenschaftlichen Beweisen für das organische System machen, das es in der Natur gab.
Er antwortete auf eine Frage Bonplands: „Ob ich träume? Wir haben das Geld, wir haben die Zeit, wir haben die nötige Gesundheit, wir haben die Kenntnisse. Wenn es in Europa jemanden gibt, der sich dieses Unterfangen vornehmen kann, dann sind wir es. ‚Und wozu die Einheit der Natur beweisen? Inwiefern ändert das die Natur?‘, werden Sie mich jetzt fragen.“
Humboldt hob den Blick zur Decke empor. „Nicht im Geringsten. Aber es wird uns verändern. Denn wenn die Natur eins ist und systematisch, wird sie zu etwas Begeisterndem, Großartigem, wie ein Tempel. Und die menschliche Seele braucht das alles.“ „Diese Reise hätte zum Ziel, die Natur zu entdecken?“
„Nein, sie zu vermessen. Sie zu vermessen und dadurch zu beweisen, wie sie sich organisiert. Das ist weit mehr als die Botanik. Die Botanik bildet nur einen Teil dieser Einheit. Und um die Einheit der Natur zu entdecken“, sagte Humboldt, „muss man die verschiedenen Weltgegenden untersuchen und die Prozesse, die in jeder einzelnen von ihnen ablaufen, vergleichen.“
Es war das erste Mal, das Aimé Bonplands Ohren so etwas zu hören bekamen. Er begriff in diesem Augenblick, dass sein Leben in gewisser Weise in den Händen dieses Mannes liegen werde.
Humboldt erhob sich, nahm einen Zweig getrockneter Bougainvillea, an dem noch ein paar ausgebleichte, rötliche Blütenblätter hingen, sah sie sich genau an.
„Diese wunderschöne Bougainvillea stammt aus Brasilien. Hätten wir in Frankreich dasselbe Klima, würde sie hier ohne jedwede Pflege gedeihen. Nun, was ist, Aimé?“, schloss er. „Mein Entschluss steht fest. Ich habe schon die notwendigen Maßnahmen ergriffen. Sie brauchen nur zuzustimmen.“
Aimé Bonpland fragte. „Gestatten Sie?“. Er nahm Humboldt die Bougainvillea aus der Hand.
Er legte sie vorsichtig auf den Papierbogen.
Er antwortete nicht.
Nicht an dem Tag.