Читать книгу Gestalt im Schatten - Luiz Antonio de Assis Brasil - Страница 21
14
ОглавлениеSie befanden sich im Heckkastell der Fregatte Pizarro mit Kurs auf Kuba.
Es wurde Abend. Aimé Bonpland beobachtete, wie ihm Europa aus den Augen schwand. Der Herkulesturm leuchtete über A Coruña, das Leuchtfeuer brannte.
Die Luft wurde langsam kühl.
Der Nordostwind sicherte ihnen eine ansehnliche Geschwindigkeit für den Fall, dass sie englischen Kriegsschiffen entkommen müssten.
Der Seegang war so stark, dass er sich beim Gehen festhalten musste. Mit jeder Welle kam eine Wolke von Gischt, welche die Kleidung durchnässte. Schon bald war es Nacht.
Aimé schrieb in sein Tagebuch in der Kabine, die er mit Humboldt teilte: „Der Reisende sieht nicht das Ganze, sondern die Einzelheiten seiner unmittelbaren Umgebung. Zudem beurteilt er sie nach seinen eigenen Interessen und Leidenschaften. Objektiv zu sein ist die geringste seiner Tugenden.“
Er bemerkte, dass Humboldt hinter ihm stand. Dieser legte ihm die Hand auf die Schulter. Er las, was darauf folgte:
„‘Ich werde also unvollständig und subjektiv sein.‘ Ich verstehe, Aimé. Subjektivität und Unvollkommenheit sind die einzige Möglichkeit, etwas zustande zu bringen, was im Gedächtnis der Menschen überdauern wird. Sie denken an die Nachwelt, an etwas, das nach Ihnen kommen wird?“
Aimé Bonpland wandte sich zu ihm um.
„Nein, Ich verstehe nicht, warum Sie diese Frage stellen, Alexander. Ich bin zu jung, um daran zu denken.“
„Nehmen wir dieses Schiff! Alle außer uns beiden sind hier um eines unmittelbaren Nutzens willen. Niemand denkt an die Nachwelt.“
Es war tiefe Nacht. Europa lag hinter ihnen.
Die flackernden Lichter am Horizont waren die letzten Signale, die vom Festland ausgingen. Die große Flamme des Leuchtfeuers auf dem Herkulesturm war noch immer beeindruckend. Nach einiger Zeit wurde auch diese schwächer und hörte auf zu scheinen, der Nebel verschlang sie.
Vor ihnen lagen der Geruch der Meeresluft und der Atlantische Ozean, in dichter Finsternis.
An den Tagen mit starkem Wind hörte man die Takelage zwischen den gewachsten Masten knarren.
Der Bug senkte sich bis ins Meer hinab. Das Wasser schoss über das Deck, floss bis zum Heck und in den Laderaum. Dann hob sich der Bug wieder, bis das aufgewühlte Wasser Regenbögen aufleuchten ließ, die sich in bunte Teile auflösten.
Humboldt maß die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit, die Wassertemperatur, den Luftdruck, die Stellung der Sterne und die Position des Schiffes nach Längen- und Breitengrad.
Man sah ihn auf das Deck steigen, gleichgültig gegenüber Seegang und Seekrankheit. Er war unermüdlich. Niemand tat es ihm gleich, aber es beneidete ihn auch keiner; hinter dieser eisernen Gesundheit musste etwas Furchtbares stecken.
Es war eine schwüle Nacht, die einen Sturm ankündigte.
Schlaflos ging Aimé Bonpland an Deck. Humboldt bemerkte ihn und machte ihm ein Zeichen, langsam zu kommen. Er legte den Finger auf die Lippen.
Aus der Ferne beobachtete sie der Steuermann.
Leicht hob Humboldt den Finger vom Mund, zeichnete das Segment einer Ellipse und zeigte nach oben zur Spitze der Masten.
Da waren sie: In einer verwirrenden Choreographie flogen weiß-bläuliche Lichter von einem Mast zum anderen, verschmolzen miteinander, tanzten, zitterten, bildeten Knäuel, die herumwirbelten und sich wieder auflösten, um sich dann wieder zu verschlingen. Sie hielten inne und pulsierten. Dann nahmen sie ihren Tanz wieder auf, in einer unaufhörlichen, sich ständig verändernden Bewegung. Aimé Bonpland kannte sie. Es waren die Elmsfeuer.
Humboldt entzündete eine Kerze. Er zeigte auf seinen Taschenkompass. Die Nadel zitterte fiebrig.
„Man sieht, dass es ein elektromagnetisches Phänomen ist“, sagte er.
„Warum wollten Sie, dass ich kein Geräusch mache?“
„Es gibt gewisse Dinge, die so schön sind, dass man sie schweigend betrachten muss.“
So standen die Dinge, als sie an den Kanarischen Inseln anlegten und den Vulkan El Teide bestiegen. Von den vergangenen Ausbrüchen waren Ströme erkalteter Lava und große Mengen schwarzer Asche zurückgeblieben.
Nur mit Mühe konnten sie atmen, ihr Gehirn war von der dünnen Luft und dem steilen Aufstieg leicht benebelt, sie zitterten vor Kälte; so betrachteten sie das Meer und die Inseln um sie herum.
„Psst!“, sagte Humboldt und flüsterte: „Das ist das erste Mal, das jemand mit unseren Kenntnissen diese Szenerie sieht.“
Bald darauf begann Humboldt aufzuzeichnen, wie sich die Vegetation in dem Maße, wie sie tiefer hinabstiegen, veränderte: Auf das Fehlen von Leben ganz oben folgten Büsche, Kiefern, Wälder von Pappeln und Lorbeerbäumen, Weinberge, Feigenbäume und Dattelpalmen.
Am Fuße des Berges sagte er zu Aimé Bonpland inmitten von üppigen Bananenplantagen in großer Hitze:
„Sehen Sie! Die Bananenstauden hier würden auf dem Gipfel des Berges nicht gedeihen, nur auf dieser Höhe.“