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Noch nie hatte es vermutlich im Lokalteil der örtlichen Zeitung eine so fette Überschrift über mehrere Spalten hinweg gegeben. An diesem Dienstag lautete sie: Bankdirektor und Tochter als Geiseln. Damit war kurz und knapp die ganze Dramatik umrissen. Den Artikel umgaben Fotos: ein Porträt des Bankiers sowie jeweils ein Bild von dessen Privathaus und dem weißen Mercedes, den die Täter gegenüber der Feuerwache abgestellt hatten. Dazu Phantomzeichnungen mit den Köpfen der beiden Haupttäter: Sonnenbrillen, Bärte, volles Haar, einer mit Polizeimütze. Sander hatte seinem Text die Angaben der Polizei hinzugefügt, wonach ein Täter Hochdeutsch mit nordbadischem Akzent gesprochen hatte. Gesucht würden ferner Zeugen, die in der Nacht zum Montag in der Göppinger Dornierstraße einen hellen Mittelklassewagen, möglicherweise einen weißen Audi 100, mit Waiblinger Kennzeichen gesehen hätten. Der genannte Bereich, das wusste Sander, grenzte direkt an den Tatort an.

Sander war an diesem Dienstagvormittag viel früher als üblich in die Redaktion geeilt. Es würde noch viel zu tun geben. Mittlerweile meldeten sich unzählige auswärtige Medien, die jetzt auch auf den ungewöhnlichen Kriminalfall aufmerksam geworden waren und Informationen und Fotos erbaten.

Der stellvertretende Redaktionsleiter Manfred Grüninger, der als Frühaufsteher galt, war oft schon um 6 Uhr in der Redaktion, was bei den üblicherweise notorischen Spätauf­stehern, zu denen Journalisten im Allgemeinen gezählt werden, meist unverständliches Kopfschütteln auslöste. Aber Grüninger wollte schon frühmorgens von der nahen Wetterwarte Stötten wissen, wie tief in der Nacht die Temperatur gefallen war, und mit welchen klimatischen Gegebenheiten man die nächsten Tage rechnen müsse.

Im Übrigen wurde Grüninger nachgesagt, nicht nur das Gras wachsen zu hören, sondern noch so manches mehr. Mit ihm hatte Sander schon immer einen guten Lehrmeister zum Thema Recherchieren gehabt. Beide verband sie die Lust, sich nicht abwimmeln zu lassen und niemals aufzugeben. Man kriege alles raus, wenn man nur wolle, lautete ihr Motto. Allerdings brauchte es dazu viele Kontakte und noch mehr Geduld – also Zeit. Kein Telefonat war dann zu aufwendig. Wenn es sein musste bis ins tiefste Afrika. Sander empfand es als wohltuend, dass bisher niemand von der Geschäftsleitung die hohen Telefonkosten moniert hatte. Und Redaktionsleiter Doktor Wolfgang Schmauz, ein charmanter Journalist der alten Schule und die Seriosität in Person, wusste die akribische Recherche zu schätzen. Er selbst hielt sich meist im Hintergrund und trug wohl zum Zeichen seiner leitenden Funktion in der Redaktion stets einen weißen Arbeitskittel. Weshalb man ihn liebe-, aber auch respektvoll, den »weißen Riesen« nannte.

Noch war die Medienwelt in der Provinz eher behäbig und in dieser Zeit, Anfang der 80er-Jahre, noch ziemlich überschaubar und vergleichsweise bieder eingestellt. Es gab keine Privatradios, keine privaten Fernsehstationen.

Sander, als Lokaljournalist auch fürs Kriminelle und die Justiz zuständig, bohrte gleich in diesen frühen Vormittagsstunden nach, stieß jedoch bei Staatsanwaltschaft und Polizei auf eine Mauer des Schweigens. Der neue Pressesprecher der Göppinger Polizeidirektion musste ehrlicherweise und zerknirscht eingestehen, dass auch er von den Ermittlern aus Stuttgart nicht ausreichend informiert wurde. Sander musste deshalb rasch erkennen, dass auch seine guten Kontakte in Polizeikreise zu keinen weiteren Informationen führten. Am meisten ärgerte ihn, dass er am gestrigen Vormittag zwar im Göppinger Polizeirevier gewesen war, aber nichts von dem Großeinsatz mitbekommen hatte, der sich zu dieser Zeit gerade anbahnte.

Sein an Dienstjahren und Erfahrung älterer Kollege Manfred Grüninger, um die 50, ein bodenständiger Journalist, der sein Handwerk verstand wie kaum ein anderer, durfte mit Fug und Recht als investigativer Journalist bezeichnet werden, obwohl dieser Begriff damals noch nicht geläufig war. Grüninger fühlte sich von den dürren Worten einer Pressemitteilung der zuständigen Staatsanwaltschaft Stuttgart richtiggehend angespornt, den Ablauf des Kidnappings detailgenauer zu recherchieren.

Grüninger, der alte Fuchs, brachte jetzt sogar das Kunststück fertig, den Bankchef zu einem Interview zu überreden. Auch im Hinblick darauf, etwaigen Verschwörungstheorien vorzubeugen, so hatte der Journalist sein Ansinnen begründet. Denn der geradezu filmreife Fall heizte bereits seit gestern Abend die Gerüchteküche kräftig an. Außerdem war wohl von offizieller Seite einiges verschleiert und nebulos dargestellt worden.

Am frühen Nachmittag saßen Grüninger und Sander im Büro von Seifritz. Noch auf der Herfahrt hatten sich die beiden Journalisten über die Vorgehensweise abgestimmt: möglichst einfühlsam, nicht allzu direkt, aber doch mit dem Wunsch, etwas mehr Einzelheiten zu erfahren, sprich: Persönliches.

Seifritz ließ Kaffee bringen und zeigte sich gegenüber den Fragen aufgeschlossen. Er wirkte zwar blass und erschöpft, schien jedoch den Ablauf des Überfalls sachlich und nahezu emotionslos schildern zu können. »Ich bin froh, dass alles ohne Menschenopfer vorübergegangen ist«, sagte er schließlich.« Und fügte an: »Aber für meine Tochter war es ganz schlimm.«

Groß sei seine Sorge auch gewesen, weil die Gangster gedroht hatten, es werde im Schalterraum ein Blutbad geben, falls sie nicht mit dem Geld sicher aus dem Gebäude wieder herauskämen. Sie hätten erklärt, es würden in den Morgenstunden Personen mit Handtaschen auftauchen, in denen Bomben und Granaten versteckt seien. Außerdem hätten sie behauptet, im Auftrag einer Organisation zu handeln.

Und auf die Frage von Sander, wie er denn diese Stunden der Ungewissheit nervlich überstanden habe, wurde er für einen Moment nachdenklich und sagte: »Das wird sich erst zeigen. Dass ein solcher Vorgang nicht an den Kleidern hängen bleibt, ist klar.«

Was jedoch die Übergabe des Geldes anbelangte, also das Geschehen im dritten Untergeschoss, blieb Seifritz wortkarg, flüchtete sich in allgemeine Formulierungen und erklärte, dass es sich um bankinterne Abläufe handle. Allerdings zeigte er sich davon überzeugt, dass zumindest einer der Täter sehr gute Bankkenntnisse haben müsse und offensichtlich auch mit dem Gebäude vertraut sei.

Grüninger riskierte eine Feststellung: »Demnach könnte es durchaus sein, dass der Täter aus dem Hause stammt?«

Seifritz atmete tief durch.

Die Gentlemen-Gangster

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