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ОглавлениеKommissar Burkhardt trank den letzten Tropfen aus der Dose mit dem Red-Bull-Imitat, es schmeckte nicht gut, erfüllte aber hoffentlich seinen Dienst. Seine Schicht war um zehn Uhr am Vormittag genauso wie am Vortag schon lange beendet, aber er wollte sich auch heute, dem zweiten Tag nach dem Fund der Leiche im Pavillon, nicht zu früh von seinem Arbeitsplatz entfernen. In die Sache mit der alten Dame kam Bewegung, kurz nach Erscheinen des Fotos, das dieser Domoglu tatsächlich an ein Boulevardblatt verschachert hatte, waren die ersten Hinweise eingegangen.
Müde blinzelte er in die Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Jalousien seines Bürofensters bahnten. Es hatte durchaus Vorteile, in einem Gebäude zu arbeiten, dass eigentlich als Kaserne erbaut worden war. Die Räume waren streng in Reih und Glied angeordnet und ein Fenster genau so groß wie das andere. Man fand sich gut zurecht, es gab lange, übersichtliche Flure und in alle Räume fiel gleich viel und vor allem auch genügend Tageslicht. Er blies gedankenverloren in Richtung der Jalousie und brachte damit das Licht-Schattengemälde in Aufruhr.
Als das Telefon endlich klingelte, zuckte er erschrocken zusammen. Die Assistentin aus der Rechtsmedizin meldete sich: »Ja, wie Sie es vermutet haben, die Nichte hat die Tote als Dagmar Bieberstein identifiziert.«
»Vielen Dank, dass Sie mir das auf direktem Wege mitteilen.« Burkhardt lächelte bei seiner Antwort, die Assistentin hatte er zwar bisher nur einmal gesehen, bei seinem Antrittsbesuch im rechtsmedizinischen Institut, aber sie war ihm gleich aufgefallen. Sie war anders als alle diese von sich überzeugten Frauen in seiner eigenen Abteilung.
»Das ist doch selbstverständlich. Der vorläufige Obduktionsbericht wird heute fertig, den sende ich Ihnen dann sofort zu.« So ließ es sich doch viel besser arbeiten, als mit all den Griesgramen und Intriganten, die ihm hier so über den Weg liefen.
»Ja, das wäre sehr wichtig, wann ist denn die Obduktion voraussichtlich beendet?«
»Herr Dr. Müller-Lanz beginnt gleich um zehn Uhr dreißig, das dauert dann vielleicht zwei Stunden. Die Laboruntersuchungen beanspruchen natürlich einige Tage.«
Burkhardt merkte, wie er immer noch das Telefon anlächelte und entschied spontan: »Ist gut, ich bin pünktlich um zwölf Uhr bei Ihnen am Institut, ich pflege immer persönlich mit dem Untersuchenden zu sprechen. Manchmal geht es um kleinste Nuancen, die einem bei der Ermittlung weiterhelfen.«
Das klang sehr erfahren und entschieden, vielleicht beeindruckte es die Assistentin, half ihm aber bestimmt nicht bei seinem Fall weiter. Die Fakten, die er brauchte, kamen später aus dem Labor. Aber ein persönliches Gespräch mit der Assistentin hellte bestimmt seine Laune auf. Das schadete nicht, und wer weiß, vielleicht ergab sich daraus etwas, es war an der Zeit, dass er sich intensiver um sein Privatleben kümmerte.
Burkhardt rief die Akte der Toten am Rechner auf und las die durch die Identifizierung gesicherten Informationen. Die Tote war die neunundsechzigjährige Dagmar Bieberstein, alleinstehend, niemals verheiratet gewesen, kinderlos. Er nahm nochmals den Hörer ab und erkundigte sich in der Zentrale, ob man mit der Nichte bereits einen Termin im Präsidium vereinbart hatte.
»Nein, es ist nichts vermerkt, da müssten Sie sich wohl doch selbst bemühen.« Die weibliche Stimme klang schnippisch und Burkhardt merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, während sie weitersprach: »Gut dass Sie noch im Haus sind, Herr Jochens hat gerade mitgeteilt, dass er dringend mit Ihnen sprechen muss.«
Das Foto! Jochens war Leiter der Abteilung Medien und Öffentlichkeitsarbeit.
»Dann teilen Sie ihm mit, dass mein Dienst seit genau drei Stunden beendet ist!« Damit knallte Burkhardt den Hörer auf die Ladestation und stand auf. Das reichte, erst machte er Überstunden, um heute früh um acht Uhr die Zeugenaussage dieser widerspenstigen Tania Redleffs aufzunehmen und dann kamen sie ihm hier in die Quere. Die Redleffs hatte sich tatsächlich pünktlich eingefunden. Sie war ihm gegenüber einsilbig und verschlossen geblieben. Hatte kurz und knapp die Ereignisse zu Protokoll gegeben und dabei völlig ruhig und überlegen gewirkt. Er meinte immer wieder ein feines Lächeln gesehen zu haben, das ihren Mund umspielte. Ihr Verband an der rechten Hand war ihm nicht entgangen, aber da die Verletzung erst nach seiner kurzen Visite im Baguetteladen entstanden sein musste, hatte er keinen Anlass gefunden, sich danach zu erkundigen. Völlig widersprüchlich, diese Frau, obwohl sie ganz klar bei ihren Aussagen geblieben war, die sie ihm gegenüber schon in der Nacht beim Tatort gemacht hatte. Am Ende hatte sie ihm noch kühl erklärt, schriftlich bei seinem Vorgesetzten Beschwerde einzureichen, wegen seines Verhaltens an ihrem Arbeitsplatz. Das erschien ihm ebenfalls ungewöhnlich, normalerweise rannten Leute mit ihrer Beschwerde doch direkt zum Vorgesetzten. Wer machte sich denn die Mühe, deswegen einen Brief zu schreiben? Burkhardt verschloss seine Schreibtischschubladen und auch den Aktenschrank an der Wand, griff seine Jacke und verließ das Büro. Er war viel zu müde, um sich jetzt noch mit irgendeinem Abteilungsleiter wegen des veröffentlichten Fotos auseinander zu setzen. Außerdem hatte das Foto doch gute Dienste geleistet. Wer weiß, wie lange es sonst gedauert hätte, bis jemand diese mausgraue Frau vermisst hätte. Burkhardt verließ das Gebäude durch den seitlichen Personalausgang und beeilte sich, durch grellen Sonnenschein zum Wagen zu kommen. Als er den Parkplatz verließ, kam er am gut gefüllten Besucherparkplatz des Präsidiums vorbei. Gleich in der ersten Reihe standen zwei Fahrzeuge, in denen jeweils eine wartende Person saß. Er pfiff leise durch die Zähne, hatte seine Zeugin am frühen Morgen auch jemanden dabei gehabt, der im Wagen auf sie wartete? Hatte sie deshalb keine Zeit erübrigt, sich persönlich bei seinem Vorgesetzten zu beschweren? Ihr Lebensgefährte konnte es nicht gewesen sein, der befand sich nach ihrer Aussage auf einem Forschungsschiff. War es etwa dieser Hassan gewesen?
Burkhardt merkte, wie ihm der fehlende Schlaf zusetzte. Nicht mal nach dem Duschen und Rasieren fühlte er sich frisch. Eine gute Stunde blieb ihm noch, wenn er um zwölf im rechtsmedizinischen Institut sein wollte, und das wollte er unbedingt. Er entschied sich gegen Essen und für Schlaf. Etwas Schlaf war besser als keiner.