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Vom Wagen aus ließ er sich von der Zentrale sämtliche Kontaktdaten von Bianca Wolff, der Nichte der toten Dagmar Bieberstein, übermitteln. Anschließend erkundigte er sich bei der Spurensicherung nach Ergebnissen einer ersten Überprüfung der Wohnung des Opfers. Zu seinem Erstaunen hatte noch niemand die Wohnung betreten, man hatte lediglich geklingelt und, als niemand öffnete, die Wohnung versiegelt. Dass er das wiederum für Schlamperei hielt, sagte er nicht. Stattdessen forderte er augenblicklich die Spurensicherung an und fuhr direkt zum Erlenweg in Oberneuland, um das Team an der Wohnung der verstorbenen Frau Bieberstein in Empfang zu nehmen. Während er vor dem gepflegten Mehrfamilienhaus mit terrassierten Balkonen, das von vielen hohen Laubbäumen umrahmt unscheinbar abseits der Straße stand, in seinem Wagen wartete, fielen ihm die Augen zu. Als sein Kopf nach unten sackte, zuckte er zusammen, er musste durchhalten, er durfte sich gegenüber den Leuten der Spurensicherung nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Es war sein erster Fall, und diesen wollte er schnellstmöglich aufklären, es war die beste Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen. Dass er dabei vielen bequemen Leuten auf die Füße treten musste, war ihm ganz recht. Das verschaffte Respekt und konnte seiner zukünftigen Laufbahn nur zuträglich sein.

Als er gegen achtzehn Uhr die weißen Wagen der Spurensicherung im trüben Abendlicht um die Ecke biegen sah, steckte er drei Stückchen Pocket-Coffee in den Mund. Während er den Kaffee-Ersatz kaute, wies der Kriminalkommissar die beiden Fahrzeugführer mit Handzeichen an, direkt vor der Eingangstür zu parken. Hier gab er die Kommandos, das sollte allen klar sein. Diesen Punkt hatte er in der Nacht am Pavillon leider nicht beachtet, was ihm diese Fotogeschichte von Hassan eingebrachte hatte.

Er erläuterte den Männern kurz, worauf in der Wohnung zu achten war.

»Ach ja, nehmen Sie zusätzlich Zahnpasta, Haftcreme, falls vorhanden, und Medikamente sowie Kosmetika, Hygieneartikel und alle Cremes mit. Wenn wir Glück haben, stoßen wir in dieser Wohnung auf die Quelle der Vergiftung.«

Dann nahm er ernst die Schlüsseltasche der Toten an sich, die ihm Nils Stemmer, ein junger blonder Beamter, mit sehr kurz rasiertem Nackenhaar ungefragt reichte. Also, es ging doch, eine erste Geste der Anerkennung seiner Autorität. Er straffte den Rücken und führte die Gruppe ins Treppenhaus. Während er die Treppen in den ersten Stock bewältigte, musste er an Verena und die Emanzipationsdebatte denken. In diesem Team der Spurensicherung arbeitete jedenfalls keine Frau.

Burkhardt öffnete die Tür einen Spalt und atmete verhalten die Luft ein, die ins saubere, kühle Treppenhaus drang. Erleichtert machte er sie weit auf, es kam ihm ein trockener, angenehmer Duft entgegen, vielleicht mit einem Hauch von Lavendel. Burkhardt merkte, wie sich seine angespannten Gesichtsmuskeln lockerten. Es hätte auch anders kommen können, von verdorbenen, vor sich hin schimmelnden Speisen, gärenden Mülleimern bis hin zu einem weiteren Leichenfund war alles im Bereich des Möglichen gewesen. Doch die Wohnung wirkte auf den ersten Blick sauber und aufgeräumt. Dieser Eindruck bestätigte sich, als sie in ihre weißen Schutzanzüge gehüllt ihrer Arbeit nachgingen. Dagmar Bieberstein war eine sehr ordentliche Frau gewesen, alles war aufgeräumt, die Kleidung mindestens so ordentlich in die Schränke sortiert wie Ware im Kaufhausregal. Damit hatte Burkhardt niemals gerechnet, denn die Kleidung und besonders die langen grauen Haare der Toten im Pavillon hatten einen gegenteiligen Eindruck gemacht.

Selbst in der Küche stand nichts herum, obwohl Dagmar Bieberstein anscheinend viel kochte. Jedenfalls seufzte der Mitarbeiter der Spurensicherung laut auf, als er die Gefrierschranktür öffnete. Er fand ein wahres Warenlager. Die Regalböden waren ordentlich gefüllt mit Gefrierdosen, alle in der gleichen Größe. Sie trugen fein säuberlich beschriftete Etiketten. Karotteneintopf, Grünkernsuppe, …. Das Datum stand ebenfalls dabei, Dagmar Bieberstein hatte große Mengen Eintopf produziert, jede Woche eine andere Sorte.

Burkhardt wurde neugierig und öffnete Schranktüren. Es gab verschiedene Gewürze, diverse Mehlsorten und alles, was man als gute Köchin benötigte. Die schmalen, übersichtlichen Schrankauszüge ließen trotz der Vielfalt eine akribische Ordnung zu. Interessiert überprüfte Burkhardt das Haltbarkeitsdatum einiger Verpackungen, keines war überschritten. Er pfiff anerkennend durch die Zähne, ihre Küche hatte Frau Bieberstein sicher im Griff gehabt, jetzt blieb nur die Frage, versteckte sich hier irgendwo das Gift?

Um besser nachdenken zu können, verzog er sich auf den Balkon und ließ sich auf einen Stuhl mit kaltem Drahtgeflecht sinken. Die aufgeräumte Wohnung sprach dafür, dass Dagmar Bieberstein ihren Tod geplant hatte. Selbst die Mülleimer waren leer gewesen. Die produzierten Mengen an Eintopf sprachen dagegen. Wer legte sich Vorräte an, um sich dann umzubringen? Oder hatte jemand anders, vielleicht ihr Mörder, die Wohnung gereinigt? Aber wieso war der Leichnam nach dem Tod bewegt worden? Burkhardt übermannte die Müdigkeit und er nickte ein. Erst als ein Kollege der Spurensicherung auf den Balkon trat, erwachte er. Der Kriminalkommissar sah am weißen Schutzanzug empor und traf auf den interessierten Blick des Beamten Stemmer.

»Wir sind in der Küche durch, die Kollegen kümmern sich noch um Bad und Schlafzimmer.«

Burkhardt räusperte sich, dass man ihn schlafend auf dem Balkon überrascht hatte, ließ sich leider nicht mehr ausradieren, also ging er darüber hinweg.

»Haben Sie alles für die Analyse eingepackt?«

Der Mitarbeiter nickte, »Wir haben bereits einen weiteren Wagen für den Transport angefordert, dass bekommen wir sonst nicht alles mit.«

Solange die Kollegen hier oben beschäftigt sind, könnten Sie mit mir in den Keller gehen.

Die mit Metallgittern voneinander getrennten Kellerabteile erinnerten Burkhardt an Käfige im Tierheim. Man sah ein Sammelsurium aus alten Schränken, aufgetürmten Umzugskartons, Zeitungsstapeln und zerlegten Trainingsgeräten. In einem der Abteile standen lediglich zwei hohe Gefrierschränke nebeneinander.

Ein Lächeln huschte über Burkhardts Gesicht: »Hier, das ist der Kellerraum von Frau Bieberstein.« Er deutete auf die beiden Gefrierschränke. »Wetten, dass die bis oben hin mit fertigen Mahlzeiten gefüllt sind?«

Stemmer seufzte laut auf, als er die Gefrierschränke öffnete. »Da muss ich noch weitere Transportboxen anfordern. Ein Jammer, dass das alles nach der Analyse in den Müll kommt.«

»Apropos Müll, sorgen Sie auch dafür, dass die Mülltonnen der Wohnanlage beschlagnahmt und auf Spuren des Giftes überprüft werden. Vielleicht stoßen wir auf Abfälle aus Frau Biebersteins Wohnung.«

Burkhardt sah dem jungen Mann gerade in die Augen und wartete. Endlich nickte sein Gegenüber und schlug wie zur Betätigung die Augenlider nieder. Ein wenig genervt wirkte das schon, aber daran mussten sich alle gewöhnen, wenn sie mit ihm arbeiteten. Ab jetzt gab es klare Ansagen und genaue Aufgaben, Schludrigkeit hatte bei einer Mordermittlung nichts zu suchen. Er trug hier alleine die Verantwortung und die Sache mit dem Foto reichte ihm.

»Ich befrage jetzt die Nachbarn.«

Dieses Haus wirkte steril und tot.

Er klingelte an der linken Tür im Erdgeschoss. Niemand und nichts rührte sich, ebenso wie an der rechten Wohnungstür. Es widerstrebte ihm, an einer weiteren Tür dieses Geisterhauses zu klingeln.

Um etwas Zeit zu gewinnen, wählte er die Nummer von Frau Biebersteins Nichte. Er sprach ihr sein Beileid aus und kam dann schnell zu seinem Anliegen.

»Ich muss Sie heute Abend unbedingt noch persönlich sprechen, es ist sehr wichtig.«

Sie klang nicht sehr erfreut, es entstand eine Pause. Burkhardt spürte eine fast schmerzende Trägheit in sich, die er auf seine bleischwere Müdigkeit schob. Ihm kamen keine passenden Worte in den Sinn. Ohne sein Zutun änderte sie ihre Meinung plötzlich.

»Naja, wenn es unbedingt sein muss. Mein Sportkurs ist in einer Stunde zu Ende, auf dem Rückweg komme ich kurz in der Wohnung vorbei. Ich habe Sie doch richtig verstanden, Sie befinden sich gerade dort?«

Burkhardt ergriff das Angebot und stöhnte laut auf, nachdem er das Gespräch beendet hatte. Er wollte so schnell es ging diesen totenstillen Ort verlassen.

Inständig hoffte er, dass er wenigstens in der nächsten Wohnung auf einen Bewohner oder eine Bewohnerin traf. Er konnte schlecht den Schlüsseldienst bestellen und alle Wohnungen mit der Begründung öffnen lassen, er vermute eine Leiche darin. Spätestens dann würde sein Vorgesetzter ihm den Fall entziehen und ihn womöglich noch während der Probezeit aus dem Dienst entfernen.

Burkhardt rieb sich mit der rechten Hand den verspannten Nacken. So durfte er nicht denken, wenn er vorankommen wollte. Weitere Tote gab es in diesem Haus nicht, jedenfalls keine, die schon mehrere Tage verwesten.

Schattenfrucht

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