Читать книгу Die Stimme - Marijana Dokoza - Страница 10
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Оглавление»Herrgott! Was ist das?«, stieß Kiara hervor, als sie zum ersten Mal die Fotoaufnahmen von Joseph Merrick sah, besser bekannt als der »Elefantenmensch«. Die Welt hatte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Joseph Carey Merrick erfahren, als er die Hauptattraktion eines Ladens in der Whitechapel Street in London gewesen war. Die Leute waren in den Laden gekommen und hatten einen Penny bezahlt, um ihn zu sehen, ihre Neugierde zu befriedigen und sich über dieses menschliche Wesen, das kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen aufgewiesen hatte, lustig zu machen oder es zu bemitleiden. Die Ärzte waren damals der Überzeugung gewesen, dass es sich bei dem Leiden des Unglücklichen um das so genannte Proteus-Syndrom handelte, weswegen sich auf dem Kopf und der ganzen rechten Körperhälfte Tumore ausgebreitet und Knochendeformationen gebildet hatten. Als Merrick einundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte sein Kopfumfang aufgrund der Geschwülste 92 cm betragen, und mit der Zeit war er so schwer geworden, dass er nur noch sitzend oder mit dem Kopf auf den Knien schlafen konnte.
»Weißt du, in welchem Alter er starb? Mit dreißig Jahren. Er ist erstickt, nur weil er beweisen wollte, dass er nicht anders war als normale Menschen. Er versuchte, wie normale Menschen zu schlafen!«, sagte Luca Illoni sichtlich erschüttert.
Luca war einundzwanzig Jahre alt und hatte selbst erste Gesichtsdeformationen erlitten. Die Ärzte konnten nicht herausfinden, unter welcher Krankheit er litt, doch als er irgendwann auf Fotoaufnahmen von Joseph stieß, erkannte er seine eigene Krankheit wieder. Da er von der bekannten Wissenschaftlerin Kiara Horst gehört hatte, nahm er die weite Reise aus Italien auf sich, um sie um Hilfe zu ersuchen. Das war genau am 12. November, aber auch nach drei Monaten, in denen sie ihn untersucht, ihm Gewebe entnommen und es analysiert hatte, hatte sich Lucas Zustand nicht im Geringsten verbessert.
»Ich will nicht sterben, und schon gar nicht von allen ausgelacht werden. Ich glaube an Sie und werde die Laboratorien nicht eher verlassen, als bis Sie einen neuen Menschen aus mir gemacht haben. Stellen Sie mit mir an, was Sie wollen, aber helfen Sie mir!«, flehte er sie an.
Sie war unglücklich, weil sie ihm nicht helfen konnte. Ihr Team stellte dem unglücklichen jungen Mann ein Zimmer zur Verfügung, das sich in der Nähe des Laboratoriums befand und das normalerweise Eltern, die ihre Kinder zur Beobachtung dalassen mussten, als Übernachtungsmöglichkeit diente. Das Zimmer war stets verdunkelt, und außer Kiara und dem Personal, das Luca Essen brachte, hatte niemand Zutritt.
»Menschen wie ich werden ausgelacht, ausgenutzt und aus der Welt der Normalen ausgeschlossen. Sie betrachten uns als Monster, als Menschen mit angeborenen oder erworbenen Deformationen, die so selten sind, dass sie glauben, unser Leben würde nur im Zirkus einen Sinn ergeben. Aber ich bin keine Zirkusattraktion! Unter dieser verfluchten äußeren Verunstaltung bin ich ein Mensch, ein ganz normaler Mensch! Bitte, helfen Sie mir!«, flehte er sie an, als sich seine Krankheit bereits in einem Stadium befand, da sie nicht mal mehr seine Augen erkennen konnte.
Ihr Herz blutete bei dem Gedanken an die Qualen, die er in so jungen Jahren bereits hatte erleiden müssen. Sie zog ihre weiße Hose und ihren Kittel an, band ihre langen Haare zu einem festen Dutt zusammen und ging die Treppe zum Laboratorium hinauf. Sie nahm ihren kostbarsten Besitz – eine Uhr, die ihr Vater ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte – vom Handgelenk ab. Das war eines von zwei Dingen, die ihr von ihrem Vater, an dem sie sehr gehangen hatte, geblieben waren. Kiara war ein Einzelkind, und ihr Vater sah in ihr bis zu seinem Tod das kleine Mädchen, das niemals erwachsen werden würde. Er war gestorben, als sie zwanzig Jahre alt war, woraufhin sie sich von ihrem damaligen Freund, mit dem sie für den Rest ihres Lebens hatte zusammenbleiben wollen, getrennt hatte. Sie hatte aufgehört, ihn zu lieben. Er sah den Trennungsgrund in ihren Verpflichtungen an der Universität, wo sie gleichzeitig studieren und ihr Praktikum als angehende Ärztin ableisten musste. Kiara hatte lange darüber nachgedacht, wie es mit ihrem Leben und ihrer Beziehung weitergehen sollte. Eines aber wusste sie ganz gewiss: Sie liebte Christian – so hieß ihr damaliger Freund – nicht mehr und konnte sich auch keine gemeinsame Zukunft mit ihm vorstellen. In dieser Zeit befand sich die junge Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Sie hatte Christian gebeten, sie in Ruhe zu lassen, aber er wollte ihre Bitte nicht akzeptieren. Er wusste, dass in ihrer Beziehung etwas nicht stimmte, dass sie sich vollkommen verändert hatte und er sie nicht mehr wiedererkannte.
Eines Tages jedoch sprach er offen mit ihr und gab ihr zu verstehen, dass sie sich entscheiden müsse. Kiara aber brachte es nicht übers Herz, eine endgültige Entscheidung zu treffen, weil er so unendlich gutmütig war. Ihr schlechtes Gewissen zerriss sie, sie weinte jeden Tag, nachts wurde sie von unerträglichen Alpträumen heimgesucht, in denen sie stets die Übeltäterin war; gleichzeitig konnte sie aber auch seine Nähe nicht ertragen. Ihr Verhältnis war nicht mehr dasselbe wie früher, beide litten darunter. Für beide wurde die Belastung unerträglich. Die vollendete Liebesbeziehung war ihrer Ansicht nach ein Kompromiss zwischen Verstand und Gefühl. Sie war ausgesprochen sensibel, und Christian war es auch. Sie war immer der Auffassung gewesen, dass sensible Menschen die intensivsten Beziehungen hatten, aber inzwischen hatte sie eingesehen, dass sich in ihrer Beziehung zu viele negative Gefühle angestaut hatten.
Kiara und Christian waren in vielerlei Hinsicht sehr verschieden. Sie sehnte sich nach der romantischen Liebe, denn für sie war die Liebe die größte Glückseligkeit auf der Welt, ein uneigennütziges Gefühl des Aushaltens und der Hingabe. Sie glaubte an die Liebe und erachtete sie als einzigen Antrieb im Leben. Christian dagegen war der Auffassung, man solle die Liebe nicht herbeisehnen, da sie rational sei. Man tue besser daran, sie mit dem eigenen Verstand zu erforschen, zu kontrollieren. Er war ein unverbesserlicher Realist, in seiner Weltauffassung war kein Platz für etwas, das eines Tages vielleicht möglich sein würde. Er betrachtete und plante sein Leben im Hier und Jetzt, und jede ihrer Vorstellungen von zukünftigen Möglichkeiten versuchte er im Keim zu ersticken, sobald sie nur anfing, darüber nachzudenken. Obwohl ihr Altersunterschied nicht groß war, hatte er im Gegensatz zu Kiara eine ganz genaue Vorstellung vom Leben und nahm sich vom Leben das, was er kriegen konnte. Konsequent verfolgte er seine Ziele und legte großen Wert auf ein geordnetes Leben. Sie hingegen lebte in einer Welt, in der es verschiedene Versionen der Realität gab. Sie wollte das menschliche Dasein erforschen, das Unbekannte spornte sie an. Ihre Augen glänzten beim Gedanken an ferne Länder und unzählige unerforschte Routen, die einen völlig unbekannten Ort offenbarten. Auf alles in ihrem Leben war sie gefasst, nur nicht auf einen vorhersehbaren Alltag. Sie war hin- und hergerissen zwischen Christians Lebenskonzept und ihrem eigenen. Dieses Dilemma machte ihr immer schwerer zu schaffen, bis es schließlich unerträglich wurde. Es war ihr unmöglich, ihm in die Augen zu schauen und zu sagen, dass sie ihn liebte, wenn er es von ihr verlangte. Das schlechte Gewissen plagte sie, die Nächte und Alpträume zerrten mindestens genauso an ihren Nerven wie das Bewusstsein, ihn bei Tagesanbruch aufs Neue anlügen zu müssen. Es gab Augenblicke, in denen sie sich gar nicht des Schmerzes bewusst war, den sie ihm zufügte. Zuweilen gelang es ihr, ihr ungerechtes Verhalten ihm gegenüber zu verdrängen. Auf diese erholsamen Augenblicke folgten jedoch erneut Schmerz, Depression und schreckliche Träume, die ihr keine Ruhe ließen, auch nicht, wenn sie die Realität zu vergessen versuchte.
Auf ihre Apathie folgte ein nervlicher Zusammenbruch. Diese emotionale Verfassung führte schließlich zu einem Wendepunkt in Kiaras Leben – sie beschloss, fortzugehen, obwohl Christian sie mit allen Mitteln davon abzuhalten versuchte. Sie erinnerte sich daran, wie er damals zu ihr gesagt hatte: »Wenn du willst, gehe ich.«
Sie zwang sich, seine traurigen Augen und seinen noch traurigeren Blick zu vergessen. Als sie fortging, zerriss es ihr das Herz, aber sie wusste auch, dass, wenn sie jetzt nicht ging, die Qualen nie aufhören würden. Also verließ sie ihn. Als sie später versuchte, wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen, war er verschwunden. Eine unbestimmte Furcht hielt sie davon ab, sich bei ihren gemeinsamen Freunden nach ihm zu erkundigen. Ihre Freunde deuteten ihr Verhalten als Gefühllosigkeit, da sie der Mann, mit dem sie ihre Jugend verbracht hatte, überhaupt nicht mehr zu kümmern schien. Der wahre Grund, warum sie nie nach ihm fragte, war jedoch der, dass sie unter Umständen hätte erfahren müssen, wie sehr sie ihm tatsächlich wehgetan hatte. Das ahnte sie zwar, befürchtete aber, sie selbst würde es nicht ertragen können, wenn es jemand wirklich aussprechen würde.
Einige Monate waren verstrichen, als sie durch einen Zufall erfuhr, dass Christian eine neue Freundin hatte. Ihre Freude war grenzenlos. Bald kam ihr jedoch zu Ohren, dass diese Beziehung nur von kurzer Dauer war, was sie sehr bedauerte. Sie wünschte ihm alles Glück dieser Welt, das Glück, das sie ihm nicht mehr schenken konnte. Christian hatte immer gedacht, er hätte es mit Kiara gefunden. Kiara war am Boden zerstört. Ihr Vater hatte von Anfang an ein wachsames Auge auf sie gehabt, ihre Probleme miterlebt, mit ihr gelitten und ihren Schmerz mit ihr geteilt. Er war zu dem Zeitpunkt gestorben, als es ihr am schlechtesten ging. In den darauf folgenden Monaten war Kiara nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie lief ziellos in den Straßen Stuttgarts umher, manchmal bis tief in die Nacht hinein, wie ein Zombie. Der Herr allein legte zu dieser Zeit seine schützende Hand über sie und bewahrte sie vor den Lastern der Großstadt.
In einer dieser Nächte, etwa um Mitternacht, als es bitterkalt war, ging Kiara eine Straße entlang, auf der man die ganze Nacht über Leute antraf. Kiara merkte nicht einmal, dass Weihnachten vor der Tür stand. Halb erfroren, nur in einen dünnen Mantel gehüllt, schritt sie die Straße hinauf und dachte ununterbrochen an den Mann, dessen Herz sie gebrochen hatte. Sie bemerkte dabei nicht die alte Frau, die nun schon zum vierten Mal in Folge vor dem Schaufenster eines großen Kaufhauses stehen blieb und wahrscheinlich die einzige Person war, die wusste, wo sich Kiara in den vergangenen Tagen aufgehalten hatte.
»Sie sollten gnädiger zu sich selbst sein«, hörte sie an jenem vierten Abend eine Stimme sagen.
Kiara hatte den Eindruck, die Stimme komme von einem der Fenster eines Wohnhauses, das über zweihundert Jahre alt war. Als sie sich umdrehte, sah sie eine magere alte Frau mit tiefschwarzen Augen.
»Verzeihung?«
»Sie sehen unglücklich aus. Das lässt sich unschwer erkennen, weil es nun schon die vierte Nacht ist, in der Sie hierherkommen, als wären Sie eine Untote. So verhalten sich nur Menschen, die verloren sind, und Sie scheinen mir verloren«, fuhr die Alte fort.
»Es ist nichts weiter, es geht bestimmt bald wieder vorbei«, erwiderte Kiara und ging weiter.
Nach einigen Schritten drehte sie sich um, weil sie noch etwas sagen wollte, doch die alte Frau war nicht mehr da. Kiara schaute in alle Richtungen, konnte sie aber nicht sehen. Es war ihr unerklärlich, wohin die Frau so schnell verschwunden sein konnte. In der darauf folgenden Nacht ging Kiara wieder dieselbe Straße entlang, und als sie am Schaufenster vor dem alten Gebäude, in dem auch das Kaufhaus untergebracht war, angekommen war, sah sie dort keine Menschenseele. Sie blickte ins Schaufenster, und als sie sich umdrehte, glaubte sie für einen Augenblick gesehen zu haben, wie die alte Frau von gestern mit einer Leiter auf das oberste Stockwerk des alten Hauses hinaufstieg. Sie schaute noch mal hin, aber diesmal sah sie nichts. Aus dem Haus ließen sich keine Geräusche vernehmen. Es war menschenleer und teilweise erleuchtet, wie immer zu dieser Zeit. Kiara dachte, sie hätte sich alles nur eingebildet. Das wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen. Sie musste an ihre Kindheit denken, als sie eines Morgens aufgewacht und felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass ihr Traum der vergangenen Nacht kein Traum, sondern Wirklichkeit gewesen war. Die Beteuerungen ihrer Mutter Rosie, die ihr erklären wollte, dass sie nur schlecht geträumt und die ganze Nacht über tief und fest geschlafen habe, waren fruchtlos.
Auch am nächsten Abend ging Kiara zu dem Kaufhaus, diesmal aber etwas früher. Es hatte noch geöffnet, und als sie es betrat, wurde ihr sogleich etwas wärmer. Sie fuhr mit der Rolltreppe hinauf in die erste Etage, wo sie die alte Frau gesehen zu haben glaubte, sodann noch weiter, in die zweite Etage, schließlich in die dritte und letzte. Kiara befand sich in der Herrenabteilung, weiter ging es nicht. Sie fragte die Verkäuferin, die in der Nähe stand, was sich ein Stockwerk höher im Kaufhaus befinde.
»Nichts, nur der Dachboden«, erwiderte die Verkäuferin.
Da sie sich keinen Zutritt zum Dachboden verschaffen konnte, kehrte sie wieder zurück zu ihrer Wohnung, wo sie sich aufhielt, wenn sie gerade nicht an der Universität war. Am nächsten Tag war alles wieder vergessen. Kiara zog sich in ihr bescheiden ausgestattetes Zimmer zurück, das sie nur selten verließ. Sie legte sich ins ungemachte Bett, nahm eines ihrer vielen Bücher und las darin, bis sie es vor Müdigkeit aus der Hand fallen ließ.