Читать книгу Die Stimme - Marijana Dokoza - Страница 6
I
ОглавлениеReglos und still lag sie da. Ihr schmächtiges, schmerzgeplagtes Gesicht sah jetzt sorgenfrei aus. Es war nicht starr, wie bei anderen Toten, und die langen, noch immer schwarzen Haare umrahmten in einer Art wirrer Ordnung ihren Kopf. Auf der kleinen Totenbahre lag ein schmächtiger Körper, der viele Jahre gelebt und sich trotz etlicher Qualen bis zum Ende heroisch gewehrt hatte. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, doch diejenigen, die sie in der Vergangenheit verletzt hatten, standen jetzt mit betretenem Blick neben der Bahre.
Kiara saß bei ihr und weinte. Sie konnte nicht glauben, dass die alte Frau nicht mehr lebte. Warum war das Schicksal nur so grausam zu einem so guten Menschen wie Johanna? Sie versank in Gedanken.
Zur Beisetzung der alten Frau waren nur wenige erschienen, nur die engsten Verwandten und Kiara. Das machte sie noch wütender. Tränen liefen über ihr Gesicht, doch sie wusste nicht genau, woher dieser tiefe Schmerz kam, hatte sie Johanna doch nur so kurze Zeit gekannt. Plötzlich kam ihr das Leben schmutzig und verlogen vor. Es gab so viele Menschen, die nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht waren und über Leichen gingen, um ihre Ziele zu erreichen. Vor lauter Aufregung wurde Kiara übel. Ihre innere Wut brachte sie zum Nachdenken. Es gab nichts Bestandloseres als das Leben.
Kiara betrachtete ihre Mitmenschen nach Johannas Tod mit anderen Augen. Sie konnte der brutalen, finsteren, materialistischen Welt, in der man die unglückliche alte Frau wegen ihrer Armut, ihres ungewöhnlichen Aussehens und ihres Buckels verachtet hatte, nichts Gutes mehr abgewinnen. Von seinen Mitmenschen verachtet zu werden, war schrecklich, aber nicht das Schlimmste, denn noch schlimmer war es, selbst Verachtung zu empfinden. Genau diese Erkenntnis bewahrte Kiara davor, beim Anblick der alten Frau, die von allen im Stich gelassen worden war, die unentwegt ums Überleben gekämpft und den verschiedensten Krankheiten der modernen Gesellschaft standgehalten hatte, zu resignieren. Johannas langes Leben war gepflastert gewesen mit erlittenen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, und zum Schluss war sie als Opfer menschlicher Brutalität schmachvoll vor ihrem Wohnhaus zusammengebrochen. Die Leute waren stundenlang an ihrer Leiche vorbeigegangen, und erst am nächsten Tag hatte man festgestellt, dass sie tot war. Die Ärzte hatten keine natürliche Todesursache diagnostizieren können. Man hatte sie auf das Bett in ihrem kleinen Zimmer gelegt. Am nächsten Tag war eine entfernte Verwandte mit ihrer Tochter gekommen, um sich um die Beerdigung zu kümmern.
Kiara empfand großes Mitleid und dachte über dieses grausame menschliche Verhalten nach. Es verstärkte in ihr den Drang, anderen Menschen zu helfen. Künftig wollte sie nichts mehr mit den Leuten zu tun haben, die keinerlei Mitleid mit Hilfsbedürftigen hatten. Auf einmal kam ihr alles so bedeutungslos vor, auch die Tatsache, dass sie eine junge, schöne und ehrgeizige Frau war, die eine Zukunft vor sich hatte, von der andere nur träumen konnten.
Sie ging bei Johannas Beerdigung im Dorf nicht mit, sondern kehrte über dieselbe Straße, die sie vor etwa einer Stunde hochgelaufen war, wieder zurück. Die Leute wunderten sich darüber, dass sie weinte, aber es war ihr gleichgültig. Es waren Fremde, die sie nicht verstanden, die Menschen wie Johanna nicht sahen und ihnen nicht helfen wollten, wenn sie Hilfe nötig hatten. Sie fragte sich, warum die Menschen so gefühllos waren, sie verstand sie nicht mehr und fühlte sich vollkommen hilflos. Kiara hatte Angst. Sie konnte nicht fassen, dass sie das Leben vor nicht allzu langer Zeit noch wundervoll gefunden hatte. Wie ironisch, dachte sie – eine Achtundzwanzigjährige, die tatsächlich glaubte, das Leben sei wundervoll.
Vollkommen in ihre Gedanken versunken, bemerkte sie nicht, wie ein schwarzer Mercedes auf sie zufuhr und die Straße überquerte. Plötzlich hörte sie ein Bremsen, den Aufprall eines Autos auf einen menschlichen Körper – und dann Stille. Kiara fiel zu Boden. Das Einzige, was sie spürte, war ein dumpfer Schmerz, kurz darauf sah sie nichts mehr. Sie konnte weder etwas sehen, hören oder spüren … noch machte ihr das etwas aus. Auf einmal sah sie die alte Johanna, ganz in Weiß gekleidet, gen Himmel schweben. Johanna lächelte gutmütig und schaute mit ihren freundlichen Augen, die selbst beim herzlosesten Menschen Güte hervorzurufen vermochten, auf sie herab. Es schien, als wollte sie etwas sagen.