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XVIII
ОглавлениеDas Gleiche, was Marcus in Amerika erlebte, widerfuhr Kiara in Europa – genauer gesagt in Deutschland, in der Kleinstadt am Neckar, wo sie zu Hause war. Jeden Tag glaubte sie, jemanden um sich zu haben; auch im Büro beschlich sie oft das Gefühl, jemand stehe hinter ihr; doch jedes Mal, wenn sie sich umdrehte und nachschaute, war im Zimmer niemand außer ihr.
›Ich werde langsam verrückt‹, dachte sie eines Tages, während sie in der Küche stand und ihre Teetasse ausspülte.
Katja bereitete gerade das Abendessen vor. Sie sagte etwas, aber Kiara hörte ihr nicht zu. Sie stand am Fenster, von dem aus man auf die Straße und das benachbarte Haus schauen konnte. Es war später Nachmittag, die meisten Leute gingen gerade von der Arbeit nach Hause.
»Wenn ich mir vorstelle, dass alle schon zu Hause sind, während mich mein Dienst heute Nacht erst noch erwartet«, sagte Kiara.
»Hör auf zu jammern, du hast schließlich nur einen Nachtdienst pro Woche«, entgegnete Katja lächelnd, während sie das Essen auf den Tisch stellte. »Was sollen denn die anderen sagen, die andauernd anstrengende Schichten schieben müssen? Und was sollen erst die Straßenreiniger sagen? Meinst du vielleicht, die hätten es leichter?«
»War ja klar, dass du ein Argument gegen mich parat hast«, lachte Kiara.
Gerade als sie sich vom Fenster abwenden wollte, verharrte ihr Blick plötzlich auf der Scheibe. Katja bemerkte weder das bleiche Gesicht ihrer Freundin, noch sah sie die junge Frau, die auf dem Bürgersteig stand und Kiara geradewegs anblickte. Die Frau war blass, hatte lange schwarze Haare und trug nichts weiter als ein langes weißes Kleid. Kiara wunderte sich nicht darüber, dass die Unbekannte trotz der Kälte nur ein Kleid trug. Sie war vielmehr mit der Frage beschäftigt, ob noch jemand außer ihr sie sehen konnte, da die Leute an ihr vorbeigingen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Noch immer schaute die junge Frau Kiara an.
»Katja?«
Katja deckte noch immer den Tisch und hörte nichts.
»Katja, kommst du mal bitte her?«
»Was ist denn jetzt schon wieder? Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin.«
»Jetzt komm schon her!«, rief Kiara erneut und drehte sich nur kurz zu Katja um.
»Ist ja schon gut, hier bin ich. Was gibt’s?«
»Siehst du diese …?« Kiara schaute auf die Straße hinunter und hielt inne.
»Was soll ich sehen?«
»Eben noch stand auf dem Bürgerstand eine Frau und hat mich beobachtet. Jetzt ist sie verschwunden«, sagte Kiara verwundert.
»Anscheinend fand sie dich interessant«, sagte Katja lachend und setzte sich an den Tisch.
Auf einmal überkam Kiara eine große Müdigkeit. Am liebsten hätte sie sich hingelegt, aber nach dem Abendessen musste sie zur Arbeit fahren.
Eine Stunde später verließ sie das Haus und ging zu ihrem Auto. Sie wurde einfach das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete. Eilig schloss sie die Fahrertür auf und machte sich dann auf den Weg zum Forschungsinstitut. Während der Fahrt schaute sie ab und zu in den Rückspiegel, aber alles, was sie sah, waren andere Autos, die in der Dunkelheit die Straßen entlang rasten. Am Ziel angekommen, hielt sie vor der Tiefgarage, in der nur Mitarbeiter der Hauptklinik ihre Fahrzeuge abstellen durften. Nachdem sie sich einen Moment lang die schrecklichsten Horrorszenarien ausgemalt hatte – ihre Gedanken glichen Horrorfilmszenen, in denen eine Tiefgarage irgendwo in Amerika oftmals als Schauplatz des Grauens diente –, beschloss sie, ihr Auto lieber direkt am Institutseingang zu parken. Die Nacht war noch nicht hereingebrochen, doch Kiara fühlte sich unwohl – weshalb, wusste sie nicht genau. Langsam schritt sie zum Eingang, drehte sich dabei jedoch mehrmals um. Obgleich sie Ärzten begegnete, die ihren Dienst hinter sich gebracht hatten und gerade das Gebäude verließen, hatte sie permanent das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie schaute zu Lucas Zimmer hinauf, und in diesem Moment erblickte sie dort eine Person. Aus der Entfernung meinte Kiara zu erkennen, dass sie schwarze lange Haare hatte. Diese Person, die irgendetwas auf ihrem Kopf zu tragen schien, wich im selben Augenblick einen Schritt vom Fenster zurück, und die Vorhänge fielen zu, sodass man nicht mehr in das Krankenzimmer hineinschauen konnte. Kiara wunderte sich, dass in Lucas Zimmer überhaupt kein Licht brannte, weil sie genau wusste, dass der Raum aufgrund von Lucas Einschlafproblemen nie ganz abgedunkelt werden durfte. Sie wollte sich beeilen, um nachzusehen, was in Lucas Zimmer vor sich ging, als sie plötzlich von einer gebrechlichen Stimme aufgehalten wurde.
»Junge Frau, hätten Sie ein paar Cent für mich? Die Nacht wird unangenehm kalt werden, und ich bin hungrig«, sagte die alte Frau, die ihren Stammplatz vor dem Institutseingang in den letzten Jahren nicht verlassen hatte.
Ihre Stimme drang vom Eingang in das große Gebäude hinein. Kiara wandte sich um und sah die alte Frau, die ein einst weißes Kleid trug, das nun genauso schmutzig und alt aussah wie sie selbst. Ihr graues, dünnes Haar hing auf ihre schmalen Schultern herab. Da Haarsträhnen ihr Gesicht zur Hälfte verdeckten, starrte sie Kiara nur mit einem Auge an.
Kiara fühlte sich von dem Blick der alten Bettlerin durchbohrt, und sie übermannte das Gefühl, die Frau wolle in ihre Seele schauen, um herauszufinden, ob sie sich ihrer erbarmen und ihr Geld geben würde. Kiara begann am ganzen Leib zu zittern, während der gebannte Blick der alten Frau sie nicht losließ. Sie schaute auf die ausgestreckte, zittrige, mit Altersflecken und Falten übersäte Hand. Dann holte sie aus ihrer Handtasche ein paar Münzen heraus und hielt sie der Frau hin. Doch während sie in ihrer Handtasche nach dem Geld gesucht und das Gesicht der alten Frau aus dem Augenwinkel beobachtet hatte, hatte sie eine Sekunde lang geglaubt, pechschwarze Haare auf die Schultern der Frau herabhängen zu sehen, und nicht graue. Sie schaute noch einmal genauer hin. Die Haare waren grau. Auf den Lippen der alten Frau zeichnete sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln ab. Als Kiara schon weitergelaufen war, wollte sich die Bettlerin bei ihr bedanken.
»Sie sind so gütig. Ich weiß, dass Sie ihnen helfen werden«, sagte sie leise.
Kiara drehte sich um und trat ein paar Schritte näher, um die Frau besser verstehen zu können.
»Wem?«, fragte sie.
Doch die Alte antwortete nicht auf ihre Frage, sondern verhielt sich ganz so, als hätte sie den letzten Satz nie ausgesprochen.
»Redest du mit mir, mein liebes Kind?«
»Sie haben gesagt, Sie wüssten, dass ich ihnen helfen werde. Wen haben Sie damit gemeint?«
»Ich weiß nicht, mein Kind, ich weiß es nicht«, erwiderte die alte Frau mit leiser Stimme. »Ich bin alt und vergesse oft, was ich gesagt habe. Ich erinnere mich nicht daran, dass wir miteinander gesprochen haben. Falls ich doch mit dir gesprochen habe, musst du mir verzeihen, denn ich weiß es nicht mehr.«
Indes Kiara nachdachte, betrachtete sie die alte Frau, die ihr noch immer zugewandt war. Sie sah, dass der Glanz in den alten Augen erloschen war. Schließlich verabschiedete sie sich von der Bettlerin und begab sich zum Institutseingang, meldete sich bei Rocco an und machte sich auf den Weg zu Luca. Gerade als sie ihren Fuß auf die erste Treppenstufe setzen wollte, fiel ihr ein, dass sie etwas vergessen hatte, und sie ging zum Pförtner zurück.
»Rocco, kennen Sie zufällig die alte Frau, die sich immer in der Nähe des Eingangs aufhält?«
»Welche meinen Sie, Frau Doktor?«
»Die alte Bettlerin vor der Eingangstür.«
»Aber die ist doch nicht alt«, erwiderte der junge Pförtner verwundert. »Sie meinen bestimmt diese junge Frau, die hier immer steht. Sie ist schon den ganzen Tag hier – seit meine Schicht begonnen hat. Mein Chef wollte, dass ich sie von hier vertreibe, aber ich brachte es nicht übers Herz. Sie ist arm dran und sagt, sie habe keinen Platz zum Schlafen. Ich habe ihr ein wenig Geld gegeben und ihr auch erlaubt, die Ärzte anzusprechen, unter der Bedingung, dass sie nicht lange bleibt. Sie ist noch immer hier. Aber jetzt ist Schluss! Ich bekomme sonst Ärger.«
Da er sich schon auf den Weg gemacht hatte, rief Kiara ihn nicht zurück, um ihm zu erklären, dass es sich bei der Person, die sie meinte, um eine ältere Frau von etwa siebzig Jahren handelte – und nicht, wie er glaubte, um eine junge Frau. Nach kurzem Zögern ging sie ihm dennoch nach, aber an der Eingangstür kam er ihr kopfschüttelnd entgegen.
»Ich habe sie nicht gefunden. Wahrscheinlich ist sie fortgegangen.«
Kiara schaute auf die Straße und zur Tiefgarage hinüber, aber auch sie konnte die Frau nirgendwo entdecken. Sie folgte Rocco, der zu seinem Posten zurückging.
»Rocco, sind Sie sicher, dass die Frau, von der wir reden, noch jung ist?«
»Na klar, Frau Doktor, es war ganz sicher eine junge Frau, und was für eine! Wenn sie keine Bettlerin und nicht derartig verwahrlost wäre, hätte ich mich bestimmt in sie verguckt. Wäre da nicht dieser Blick in ihren Augen gewesen …« Rocco verfiel ins Sinnieren.
»Was sagen Sie da?«, fragte Kiara hastig.
»So abwesend, und doch beängstigend. Wie ein Geist. Vielleicht jagt sie den Menschen um sich herum aber auch nur deshalb solche Angst ein, weil sie selbst vollkommen verängstigt ist. Als ich sie ansah, fielen mir zuerst ihre Augen auf. Sie schienen leblos und leer. Meine Großmutter hatte solche Augen, als sie im Sterben lag.« Rocco schüttelte sich kurz, da ihm plötzlich ganz kalt geworden war, als wäre seine Großmutter erst in diesem Augenblick gestorben. Er fühlte sich ganz elend. Kiara wollte ihn gerade etwas fragen, als ihr einfiel, dass sie sich beeilen musste, weil sie vor ein paar Minuten – bevor sie von der Alten angesprochen worden war – eine unbekannte Person am Fenster von Lucas Krankenzimmer hatte stehen sehen. Ohne sich von Rocco zu verabschieden, rannte sie die Treppen hinauf. Rocco blieb bewegungslos an seinem Platz sitzen und musste an die schöne Bettlerin denken – und an ihre Augen, in denen kein Leben mehr zu sein schien.