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XVI

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Wer nach New York reist, kommt am Herzen dieser Stadt – Bronx, Brooklyn, Queens, Staten Island und Manhattan – nicht vorbei. Die Stadt, die zu den größten der Welt gehört, hatte Marcus schon immer fasziniert. Daher war diese Reise nach New York nicht seine erste. Mit seinem Vater war er viel herumgekommen, auch in New York waren sie mehrere Male zusammen gewesen. An Chinatown und Little Italy – zwei Stadtvierteln New Yorks, so groß wie zwei eigene Städte – mochte er das Essen besonders gerne. Im Melting Pot New York, in dem niemand Ausländer war, fühlte er sich wohl. Allerdings nicht so wohl wie in Portugal, aber er konnte gut verstehen, warum Bill mindestens einmal im Jahr nach New York reiste. Marcus war von den Flüssen, dem Hudson und dem East River, besonders angetan, aber auch das berühmte, im Jahre 1886 erbaute Wahrzeichen der Stadt, die Freiheitsstatue, mochte er.

Nachdem er auf dem JFK-Flughafen in Manhattan gelandet war, schaute sich Marcus zuerst einmal um. Wenig später befand er sich im südlichen Teil von Manhattan, wo er mit Bills Tochter Athina verabredet war, die ihm eine Unterkunft zur Verfügung stellen sollte, bis der Deal abgeschlossen war. Kurz bevor er Athina traf, die er vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen hatte, musste er wieder an Kiara und ihr Notizbuch denken, das sich noch immer in seiner Sakkotasche in seinem Büro befand. Gedankenversunken schlug er sich mit der flachen Hand auf die Stirn, weil er vergessen hatte, Kiara das Büchlein zurückzugeben. Kurz darauf wurde er von Athinas Stimme aus seinen Gedanken gerissen.

»Hey, Marco!« rief sie ihm zu.

Sie nannte ihn immer so, während er sie »kleines Dickerchen« nannte, was sie besonders hasste. Sie war nie besonders dick gewesen, hatte etwa drei bis vier Kilo mehr gewogen, als es für ihre Körpergröße ideal gewesen wäre. Aber das Vergnügen, zu beobachten, wie sich auf ihrer schönen Stirn zwei Zornfältchen bildeten, war einfach zu groß. Dieses Mal brachte er die Worte jedoch nicht über seine Lippen, da das »kleine Dickerchen« inzwischen nicht nur groß, sondern auch schlank geworden war. Die Einundzwanzigjährige war eine hübsche junge Frau und sah mit ihren blaugrauen Augen und blonden Locken wie ein Engel aus. Marcus gefiel zwar, was er sah, trotzdem ging ihm im selben Augenblick Kiara durch den Kopf. Er ertappte sich sogar dabei, dass er sich schuldig fühlte, nur weil er Athina attraktiv fand.

»Wer hätte das gedacht, unser kleines Dickerchen ist jetzt eine bezaubernde Schönheit!«, rief Marcus und nahm sie lachend in die Arme.

»Ich nehme an, das bedeutet, dass ich meinen alten Spitznamen ein für alle Mal los bin«, erwiderte sie.

»Es wäre ein Verbrechen, fortan darauf zu beharren«, sagte er, und beide mussten aufgrund seiner poetisch anmutenden Worte lachen.

»Nenn mich ab jetzt einfach bei meinem Namen, das genügt völlig«, sagte sie und zeigte dabei ihre weißen Zähne.

»Hattest du einen angenehmen Flug?«, fragte sie, während sie sich plaudernd zu ihrem Auto begaben.

»Ich habe nicht viel vom Flug mitbekommen, weil ich die meiste Zeit geschlafen habe. Wie ist es dir ergangen? Ich sehe, du hast dich verändert. Du bist erwachsen geworden.«

»Was hast du denn erwartet? Dass für mich die Zeit stehen geblieben ist? Ist doch klar, dass ich mich verändert habe.«

»Du hast recht. Wolltest du gleich nach Hause fahren, oder sollen wir vorher noch irgendwo einen Kaffee zusammen trinken?«

»Du entscheidest, du kommst schließlich von weither angereist und bist bestimmt müde.«

»Müde? Machst du Witze? Ich bin doch noch jung, wir Junggebliebenen sind niemals müde«, sagte Marcus lachend.

»Na gut. Du möchtest also einen Kaffee trinken?«

»„Ja, die Frage ist nur, wo?«

»Ich kenne da ein hervorragendes Lokal, es befindet sich in der Nähe der Freiheitsstatue. So wirst du auch gleichzeitig eines der berühmtesten Wahrzeichen New Yorks kennen lernen.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich bin dort bestimmt öfter gewesen als du, die du hier lebst.«

»Ich musste dich einfach ein bisschen provozieren, sonst verlernen wir noch, wie’s geht«, sagte Athina lachend und spielte damit auf ihre ständigen gegenseitigen Sticheleien an.

Als Marcus es schließlich aufgab, mit Athinas Sticheleien mitzuhalten, hatten sie auch schon das Emporium erreicht, ein Lokal, das sie regelmäßig besuchte. Die Freiheitsstatue befand sich in unmittelbarer Nähe. Man sah unzählige Touristen Fotos von der Statue machen, die Frankreich während der Französischen Revolution den USA als Symbol ihrer Freundschaft geschenkt hatte.

Marcus und Athina bestellten ihre Getränke und unterhielten sich fast eine Stunde lang darüber, was vor zwei Jahren gewesen war, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Auf einmal drehte sich Marcus zur Freiheitsstatue um und meinte, inmitten der Touristenmasse eine schwarzhaarige Frau in einem weißen Kleid gesehen zu haben. Das wäre nichts Außergewöhnliches gewesen, hätte diese junge Frau nicht im selben Moment geradewegs zu ihrem Tisch herübergeschaut. Sie kam ihm bekannt vor, er wusste aber nicht, woher er sie kannte.

»Schau mal zur Freiheitsstatue hinüber. Siehst du dort eine Frau im weißen Kleid stehen?«, fragte er Athina.

»Ich sehe Hunderte von Leuten! Das ist mal wieder typisch – schaust anderen Mädchen hinterher, während du mit mir redest, und tust so, als würdest du mir zuhören – dabei witterst du aus der Entfernung schon wieder frische Beute!«, wetterte sie.

»Nein. Sie schaut in unsere Richtung. Siehst du sie denn nicht?«, fuhr er in ernstem Ton fort. Athina war für einen Moment beunruhigt.

»Geht es dir gut? Ich sehe niemanden zu uns herüberschauen.«

Marcus wandte seinen Blick nur kurz von der Freiheitsstatue ab, doch als er wieder hinschaute, konnte er die Frau nicht mehr sehen.

»Ich muss mir das eingebildet haben«, sagte er schließlich, nachdem er die Statue eine Weile beobachtet hatte.

»Nicht sehr schmeichelhaft«, bemerkte Athina und lächelte.

Sie setzten ihr Gespräch fort, und als sie sich dann endlich aufraffen konnten, baten sie um die Rechnung, bezahlten und verließen das Lokal. Athina studierte Fotografie. Sie widmete sich ihrer Profession mit Leidenschaft und nutzte jede freie Minute, um Menschen und Dinge um sich herum zu fotografieren.

»Los, lass uns zur Freiheitsstatue hinübergehen, ich möchte ein Bild von dir machen«, versuchte sie ihn zu überreden.

»Von mir? Das wäre die reinste Verschwendung«, scherzte er.

»Komm schon! Danach kannst du deinen deutschen Freunden erzählen, dass du neben einem Monument posiert hast, das alle Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die Vereinigten Staaten einwandern, willkommen heißt. Sag ihnen auch, dass das Leben hier viel schöner ist. Auch sie sind natürlich herzlich willkommen«, stichelte Kiara.

»Nein, danke«, sagte Marcus und lachte.

Athina schaffte es, ihn zu überreden, und so begaben sie sich zur Freiheitsstatue. Marcus meinte schon wieder, in dem Getümmel die dunkelhaarige Frau im weißen Kleid gesehen zu haben. Als sie jedoch an dem Monument angekommen waren, sahen sie nichts als lauter Unbekannte. Nachdem sie ihre Fotosession beendet hatten, machten sie sich auf den Weg zum Auto. Doch plötzlich blieb Marcus stehen. Als hätte er eine Vorahnung, wandte er sich wieder um und ging zur Statue zurück. Auf einer der kleinen Platten des getäfelten Bodens, auf der man eigentlich eine Gedenkschrift erwartete, stand geschrieben: Helfen Sie mir, Ihnen zu helfen.

Marcus verstand den Sinn dieses Satzes nicht und rief deshalb Athina, die ihm gefolgt war, zu Hilfe. Sie sah eine andere Inschrift und las von der Tafel ab, dass die Statue ein Geschenk Frankreichs an die Vereinigten Staaten von Amerika sei.

»Was ist los mit dir? Ist alles in Ordnung? Seit deiner Ankunft benimmst du dich so eigenartig«, sagte Athina.

Marcus blickte sie an, dann schaute er wieder auf die Inschrift. Jetzt sah er dieselbe Inschrift, die Athina ihm gerade vorgelesen hatte.

»Ich bin anscheinend doch müder, als ich dachte«, kommentierte er kurz.

»Das denke ich auch«, stimmte ihm Athina zu. »Lass uns schlafen gehen.«

Marcus schmunzelte.

»Ich meine, du solltest schlafen gehen«, korrigierte sie sich. »Heute Abend, wenn du dich ausgeruht hast, könnten wir eine kleine Bootsfahrt um Manhattan unternehmen. Dann werde ich dir den Sternenhimmel über New York zeigen. Den hast du bisher bestimmt noch nicht gesehen. Mein Vater hat mir erzählt, dass du auf deinen Abstechern nach New York regelmäßig die hiesigen Clubs und Discos unsicher gemacht hast.«

Marcus mochte Athinas kindliche Lebhaftigkeit. Er willigte ein, obwohl er in New York noch viel zu erledigen und nur wenig Zeit zur Verfügung hatte.

Die Stimme

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