Читать книгу Die Stimme - Marijana Dokoza - Страница 15
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ОглавлениеIn Lucas Zimmer war es still. Luca schlief tief und fest und wachte nicht auf, als Kiara das Zimmer betrat. Sie warf einen Blick auf seinen Verordnungsbogen und stellte fest, dass er sein Medikament nicht bekommen hatte. Sie ärgerte sich über die verantwortungslose Ärztin, wusste aber nicht, um wen es sich genau handelte, da es mehrere Kolleginnen waren, die Nachtdienst hatten. Kiara nahm eine Spritze und zog damit das Medikament auf. Danach injizierte sie die Flüssigkeit so sanft in die Vene von Lucas linkem Arm, dass er überhaupt nichts spürte und weiterschlief. Eine kleine Weile betrachtete sie sein nicht wiederzuerkennendes, blasses Gesicht. Dann schaltete sie im Zimmer das Licht aus, ließ aber eine Lampe an, damit er nicht erschrak, wenn er erwachte. Luca bestand darauf, dass immer eine Lampe brannte, weil er sich im Dunkeln fürchtete. Diese Angst hatte ihn zum ersten Mal überfallen, als er schon erkrankt war. Seitdem ließ sie ihn nicht mehr los. Er hatte Kiara persönlich um diesen Gefallen gebeten. Sie konnte seine Angst sehr gut nachvollziehen, zumal sie in der letzten Zeit ähnliche Erfahrungen gemacht hatte.
Kiara verließ das Krankenzimmer und begab sich zum Laboratorium, in der Hoffnung, die diensthabende Ärztin dort anzutreffen. Aber es befand sich niemand in dem Raum. Kiara fand alles genau so vor, wie sie es an jenem Tag zurückgelassen hatte, als sie eigentlich gar nicht auf der Arbeit hätte sein sollen. Es hatte den Anschein, als hätten weder die Ärzte der ersten, noch die der zweiten Schicht das Laboratorium betreten. Das Reinigungspersonal war schon längst nach Hause gegangen, daher war keine Menschenseele mehr da, mit der Kiara über die Tagesvorkommnisse hätte sprechen können. Als sie das Laboratorium wieder verließ, schloss sie die Tür und begab sich zum Aufenthaltsraum, um nachzuschauen, ob sich dort möglicherweise eine der diensthabenden Ärztinnen befand, aber wieder hatte sie kein Glück. Sie fragte sich, wo ihre Kollegin hingegangen sein konnte und warum sie überhaupt irgendwo hingegangen war, wo sie doch Dienst hatte. Ein letztes Mal schaute Kiara überall nach, löschte dann das Licht und begab sich zum Pförtner. Sie konnte die klirrende Winterkälte in ihren Knochen spüren, obwohl das Gebäude immer gut beheizt war. Die hohen Chrysanthemen im Institutsgarten ließen aufgrund der langen Schatten, die sie warfen, die Nacht noch kälter und furchteinflößender erscheinen. Da Kiara von Natur aus schreckhaft war, bekam sie es auch jetzt mit der Angst zu tun. Sie erschrak sogar vor ihrem eigenen Schatten. Im beruflichen Alltag war das anders. Wenn es um Patienten oder Experimente ging, vermochte sie selbst diese Angst oder »Unzulänglichkeit«, wie sie sie nannte, beiseitezuschieben und zu ignorieren, um durch ihre Arbeit für die ihr anvertrauten Menschen ein befriedigendes Resultat zu erzielen. Auch dieses Mal zwang sie sich, ihre Angst zu überwinden und das Fenster, das durch den Wind zugeschlagen sein musste, wieder zu schließen. Während sie damit beschäftigt war, das Fenster zu verriegeln, glaubte sie für eine Sekunde, etwas Weißes hinter einem Baumstamm gesehen zu haben. Als sie genauer hinschaute, stellte sich jedoch heraus, dass an dieser Stelle überhaupt nichts war. Nachdem sie das Fenster verriegelt hatte, machte sie sich auf den Weg zum Pförtner.
Rocco las ein Buch und war vollkommen in die Handlung vertieft.
»Was lesen Sie da?«, fragte ihn Kiara neugierig.
»Nichts Besonderes, Frau Doktor, irgendeinen Liebesschmöker.«
»Wissen Sie, wo der Dienstplan ist?«
»Tut mir leid, das weiß ich nicht. Aber mir fällt da was ein«, sagte Rocco und legte seinen Roman zur Seite, um in einem dicken blauen Buch eine Seite aufzuschlagen, auf welcher die bisherigen Dienste für dieses Jahr eingetragen worden waren.
»Hier«, sagte er und deutete mit dem Finger auf einen Namenseintrag.
»Helga Hormann«, las Kiara laut vor. Sie wusste nicht, wer das war. An diesem Institut kannte sie keine Ärztin mit diesem Namen.
»Kennen Sie diese Ärztin?«, wollte sie vom Pförtner wissen, der diese Frage jedoch nicht bejahen konnte. Er konnte ohnehin nicht wissen, um wen es sich genau handelte, weil am Institut mehrere Dutzend Ärzte arbeiteten und, obwohl auf dieser Station selbst nur wenige von ihnen eingesetzt wurden, es ab und zu vorkam, dass Ärzte ihre Nachtdienste an Kollegen abgaben und nur den Chef des Institutes darüber in Kenntnis setzten, und nicht die ganze Station.
»Ich weiß nicht, wer das ist, Rocco«, sagte Kiara, »und ich kann diese Person auch nicht auf der Station finden. Sie kann doch nicht einfach verloren gegangen sein, oder?«
Doch Rocco war ebenfalls ratlos. Er zuckte mit den Schultern und erinnerte sie daran, dass das Institut groß war und über mehrere Stationen mit Dutzenden von Zimmern verfügte. »Morgen früh werde ich genau darauf achten, welche Ärzte aus der Nachtschicht kommen, und Ihnen Bescheid geben, wer es gewesen sein könnte.« Mehr konnte er nicht für sie tun. Kiara war einverstanden und machte sich auf den Heimweg.
Als sie ins Auto einstieg, kam sie sich beobachtet vor. Sie wagte erst nachzuschauen, als sie sich ins Auto gesetzt und die Türen verriegelt hatte. Auf der Straße befand sich niemand mehr. Es war spät in der Nacht. Kiara schaute auf die Uhr: Es war genau 3.45 Uhr.
»Ich kann es nicht fassen, dass ich mich so lange in der Klinik aufgehalten habe. Was habe ich denn da oben getrieben? Das kann doch gar nicht sein, ich bin nicht so lange auf der Station gewesen«, murmelte sie vor sich hin. Dann fiel ihr ein, dass es bereits kurz nach Mitternacht gewesen war, als sie im Institut angekommen war. Auf der Rückfahrt versuchte sie sich zu erklären, wie es nur möglich war, dass sie sich so lange im Institut aufgehalten hatte.
Katja schlief schon längst, als Kiara zu Hause ankam, daher ging sie geradewegs ins Bett. Als der Wecker um 6 Uhr klingelte, dachte sie, sie wäre gerade erst eingeschlafen. Sie musste aufstehen.