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VIII

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Alle zwölf Stunden fuhren sieben Züge durch Tübingen. Nur der siebte hielt dort auch. Kiara wartete auf ebendiesen Zug, in dem ihre langjährige Freundin Katja saß. Sie versuchte das Geräusch einer herannahenden Eisenbahn auszumachen, weil ihr die Sicht auf die Gleise versperrt war.

»Ein kleiner Windstoß würde ausreichen, damit Sie hinfallen, und noch bevor Sie wieder aufstehen könnten, hätte der Zug Sie schon längst erfasst«, hörte sie eine Stimme hinter sich sagen.

Sie drehte sich um und erkannte das Gesicht, das zu der Stimme gehörte. Fast hatte sie es schon vergessen gehabt, vielleicht ein oder zwei Mal war es flüchtig durch ihr Bewusstsein gehuscht. Sie lächelte.

»Das war ein sehr guter Ratschlag. Ich bin manchmal wirklich etwas unvorsichtig, aber Sie sind immer rechtzeitig zur Stelle, um mich zu beschützen.«

»Das ist wohl wahr, obwohl ich Sie im ersten Augenblick gar nicht erkannt habe. Es sah aus, als wollten Sie absichtlich auf die Gleise steigen«, sagte Marcus, der zum Bahnhof gekommen war, um ein Paket entgegenzunehmen, das er aus Österreich erwartete.

»Was, um Himmels willen, denken Sie von mir? Dachten Sie wirklich, ich wollte mich umbringen?«

»Würden Sie nicht das Gleiche bei einer Person vermuten, die wie ein Zombie eine Straße überquert, ohne dabei auf den Verkehr zu achten, oder auf Zuggleisen steht, auf denen man überhaupt nicht überschauen kann, was um einen herum geschieht?«, konterte Markus mit einer Gegenfrage.

Sie überlegte kurz und musste dann zugeben, dass ihr Verhalten genau diesen Anschein erzeugt haben musste.

»Sie haben ja recht. Aber ich versichere Ihnen, dass mir das nie im Leben einfallen würde. Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit solchem Unfug zu beschäftigen.«

»Es freut mich, das zu hören. Es wäre wirklich dumm von Ihnen, nicht besser auf sich aufzupassen. Wir sollten vor nichts im Leben Angst haben. Das sollten wir begreifen, da unsere Zeit sehr wertvoll ist. Leute, die sich mit wichtigen Dingen im Leben beschäftigen, sagen, man solle nie auf die passende Zeit warten, weil man sie vielleicht nie wieder haben wird.«

Kiara wusste nicht, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Sie begriff nicht, warum er ausgerechnet ihr das alles erzählte. Für einen Augenblick zweifelte sie daran, ob das derselbe Marcus war, dem sie damals im Krankenhaus begegnet war. Er schien so anders. Und sein Äußeres passte auch gar nicht zu diesen Weisheiten, die er von sich gab.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie damit sagen wollen«, sagte sie vorsichtig.

»Ich weiß selbst nicht genau, was ich damit sagen wollte, aber lassen wir das! Eines Tages wird uns vielleicht ein Licht aufgehen«, erwiderte er lachend. »Auf welchen Zug warten Sie?«

»Er müsste jeden Moment ankommen, aber er scheint Verspätung zu haben. Ich warte auf eine Freundin, die mich für einige Tage besuchen kommt.«

»Trinken wir noch schnell einen Kaffee zusammen, bis Ihre Freundin da ist?«

»Ich weiß nicht …«

»Aus dem Café dort drüben kann man die Züge gut im Auge behalten«, sagte er schnell, bevor sie sein Angebot ablehnen konnte. Sie zuckte nur mit den Schultern und folgte ihm.

Marcus war ein groß gewachsener und stattlicher Mann. In seinem langen schwarzen Mantel wirkte er vornehm, und Kiara war überzeugt, dass dieser Mann bei den Frauen äußerst beliebt war.

»Auf wen warten Sie eigentlich?«, fragte sie, nachdem sie den Kaffee bestellt hatten.

»Ich erwarte eine wichtige Postsendung aus Österreich. Ein Freund hat mir etwas geschickt, und ein Bekannter von ihm soll es mir persönlich übergeben. Und Sie sagten, Sie holen eine Freundin ab?«

»Ja«, antwortete sie kurz.

»Haben Sie sich inzwischen von dem Unfall erholt? Sie ahnen ja gar nicht, was für einen Schrecken Sie mir damals eingejagt haben.«

Kiara fühlte sich unwohl, weil sie allein die Schuld an diesem Unglück getragen hatte. An jenem Tag war sie so unglücklich gewesen, dass sie nicht darauf achtgegeben hatte, wohin sie gelaufen war. Plötzlich fiel ihr alles wieder ein – die alte Frau, von der kein Mensch je etwas gehört haben wollte und die an jenem Abend ihre ewige Ruhe gefunden hatte. Kiara war damals überzeugt gewesen, ihrer Mutter und Henning und auch einigen Freundinnen von der Alten erzählt zu haben, doch niemand wusste von ihr. Anfangs hatte sie das alles nicht begreifen können, bis sie sich mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass ihre Phantasie mit ihr durchgegangen war.

»Warum sind Sie damals wie ein geistesabwesender Zombie auf die Straße gelaufen?«, wollte er wissen.

Auf eine schwer zu beschreibende Art fühlte Kiara sich durch seine Frage verängstigt. Ein erster Impuls trieb sie dazu, eine Geschichte zu erfinden, doch dann überlegte sie es sich im letzten Augenblick wieder anders. »Ich kam gerade von der Beerdigung eines Menschen, den ich sehr gern hatte«, sagte sie und wunderte sich, warum sie ihm das erzählte.

Marcus wurde ernst.

»Wer war denn gestorben?«

»Eine alte Frau. Sie war keine Verwandte. Sie hatte keine eigene Familie. Wir hatten uns kennen gelernt, als …«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

Angelehnt am Tresen, wartete er voller Neugier darauf, dass sie weitersprach, aber Kiara schien vergessen zu haben, woher sie die unglückliche alte Frau gekannt hatte. Angestrengt dachte sie nach, indessen Marcus schweigend wartete.

»Ich erinnere mich nicht …«, sagte sie schließlich mit fast unhörbarer Stimme.

»Sie erinnern sich nicht?«, wiederholte er.

Langsam blickte sie auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie war kurz davor, laut loszuweinen. Marcus war ratlos, schwieg aber noch immer und gab ihr Zeit, sich wieder zu sammeln.

»Ich erinnere mich nicht. Es will mir einfach nicht mehr einfallen. Ich kann es Ihnen nicht erklären. Ich will nicht mehr daran denken. Tut mir leid«, sagte Kiara leise, während der Zug draußen langsam zum Halten kam.

»Es tut mir leid!«, wiederholte sie und stand auf. »Ich muss los, leben Sie wohl!« Damit ließ sie den verdutzten Marcus am Tresen stehen.

Sie rannte aus dem Café hinaus. Marcus erhob sich rasch und folgte ihr, nachdem er das Geld für die Getränke dagelassen hatte.

»Warten Sie! So warten Sie doch … Wollen wir nicht wieder ins Café zurück?«, fragte er just in dem Augenblick, als der Zug zum Stehen kam und Katja herausgeeilt kam, die schon lange am Fenster gestanden hatte und es kaum hatte abwarten können, dass der Zug sein Ziel erreichte und sie ihre beste Freundin wiedersah.

»Kiara!«, rief Katja, und Kiara rannte ihr sofort entgegen und ließ Marcus erneut verwundert stehen.

Nur wenige Sekunden später erblickte Marcus den Mann, der ihm die Postsendung überreichen sollte. Zerstreut nahm er den Briefumschlag entgegen und schickte sich bereits an, sich von dem Überbringer in flüchtiger Form wieder zu verabschieden. Kiara und ihre Freundin waren schon verschwunden. Marcus schaute zum nahe gelegenen Parkplatz hinüber, wo er sie aber nicht erblickte. Es blieb ihm keine Zeit, um nach ihnen zu suchen oder über das nachzudenken, was Kiara ihm vorhin erzählt hatte, weil ihn Nick, der Mann, auf den er gewartet hatte, auf einen Kaffee einlud und ihm bei dieser Gelegenheit erklären wollte, was es mit den überbrachten Dokumenten auf sich hatte. Die Glöckchen an der Eingangstür des Cafés, in dem er ein paar Minuten zuvor noch mit einer Frau gesessen hatte, deren Ausstrahlung ihn immer wieder aufs Neue faszinierte, fingen an zu läuten, als er den Raum erneut betrat. Nick nahm am Tisch neben dem Fenster Platz und bestellte einen Kaffee. Marcus setzte sich neben ihn, auf denselben Platz, auf dem er kurz zuvor schon gesessen hatte.

»Hör zu, diese Papiere sind für deine Firma von höchster Bedeutung. Ein bekannter Tycoon möchte das Parfüm unter seinem Namen herausbringen. Er bietet als Gegenleistung eine beachtliche Geldsumme …«, fing Nick an, und Marcus hörte ihm aufmerksam zu.

Wenn es um seine Arbeit ging, wurde für Marcus alles andere zur Nebensache. Seine Firma, die er von seinem Vater geerbt hatte, war sein ganzer Stolz, und daran würde sich auch nichts ändern. Er war talentiert und hatte ein Gespür für Projekte, die sich auszahlten. Marcus war der Auffassung, dass junge Leute, die ihre geschäftlichen Fähigkeiten ausbauen wollten, in der Parfümbranche besonders gut aufgehoben seien, weil man durch interessante Projekte sehr wertvolle Erfahrungen sammeln könne. Deshalb hatte er sich für diese Branche entschieden. Seine Ambitionen wurden durch enormen beruflichen Erfolg gekrönt.

Marcus vernachlässigte seine Mitarbeiter nie, sondern bot ihnen vielmehr seine Hilfe an, wo er nur konnte. Sie dankten es ihm, indem sie ihre Arbeit mit Begeisterung verrichteten, ihren Beruf ernst nahmen und dem Unternehmen gegenüber loyal eingestellt waren. Seinen Mitarbeitern, ihrem Wissen und ihren Kompetenzen hatte er es zu verdanken, dass sein Unternehmen von Jahr zu Jahr gewachsen war und sich zu guter Letzt einen Namen als eines der größten Parfümproduktionsunternehmen Europas gemacht hatte. Marcus gab sich damit aber nicht zufrieden. Er beabsichtigte, seinen Erfolg durch die Eroberung des amerikanischen Marktes noch weiter auszubauen. Dazu musste er nur noch einen Vertrag mit einem Amerikaner aushandeln und unterzeichnen. Niemand zweifelte daran, dass er auch mit seinem neuesten Projekt Erfolg haben würde.

Die Stimme

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