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XV

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Von Marcus’ Firma bis zum Forschungsinstitut in Tübingen fuhr man etwa eine Stunde mit dem Auto. Marcus beabsichtigte, gleich im Anschluss an die zwei Versammlungen, an denen er heute teilnehmen musste, um seine Projekte für dieses Jahr zu präsentieren, zum Institut zu fahren, um Kiara das Notizbuch mit der Telefonnummer zurückzugeben. Jetzt saß er in seinem Büro und nahm das Büchlein aus seiner Sakkotasche heraus. Er öffnete es und starrte eine Weile auf die eine Telefonnummer. Da vergangene Nacht unter dieser Nummer niemand zu erreichen gewesen war, beschloss er, sie noch einmal zu wählen, und griff zum Telefonhörer. Immerhin war es nicht ungewöhnlich, dass sich niemand gemeldet hatte, da er ja mitten in der Nacht angerufen hatte. Merkwürdig nur, dass irgendjemand eine Rufnummer besaß, die nicht vergeben war.

›Was ist denn daran merkwürdig? Wer weiß, wann sie diese Telefonnummer in ihr Buch eingetragen hat, und vielleicht ist sie auch gar nicht wichtig‹, dachte Marcus. Er fragte sich, warum ihn die Sache überhaupt so intensiv beschäftigte. Diese mysteriöse Telefonnummer nahm momentan sogar mehr Raum in seinen Gedanken ein als die Projekte, die er heute seinen Geschäftspartnern vorstellen musste. Marcus verlor die Selbstbeherrschung – seine Neugier in Bezug auf das Büchlein war zu groß, als dass er in seiner Nähe ruhig sitzen bleiben konnte. Er wählte die Nummer. Wie bereits in der vergangenen Nacht hörte er am anderen Ende der Leitung zunächst ein Rauschen, wenige Sekunden später eine weibliche Stimme, die sagte: Diese Rufnummer ist zurzeit nicht vergeben.

Er legte auf und steckte das Büchlein wieder in seine Jackentasche. Kurz darauf betrat Nick sein Büro, um ihm zu mitzuteilen, dass man ihn im Versammlungsraum bereits erwarte.

»Ich bin gleich da«, sagte Marcus und folgte Nick.

Im Versammlungsraum sah er seine vier Geschäftspartner, von deren Zustimmung das Geschäft mit den Amerikanern ebenfalls abhing. Marcus hatte zwar das letzte Wort, legte aber stets großen Wert auf die Meinungen und Standpunkte seiner Partner, die sich im Laufe der Zeit als äußerst zuverlässig erwiesen hatten. Er teilte das vorbereitete Informationsmaterial aus und begann sogleich mit seiner Präsentation. Man war von ihm nichts anderes gewohnt. Es war allgemein bekannt, dass in Marcus’ Leben die Arbeit oberste Priorität genoss. Er begab sich sofort in medias res.

»Ich gehe davon aus, dass Sie Nick bereits ausführlich informiert hat. Ich möchte nun Ihre Meinung bezüglich dieses Geschäftes erfahren. Der US-Markt ist für uns Neuland, wir streben seit geraumer Zeit eine Kooperation an. Bill?«

Er wandte sich einem älteren Herrn zu, der ein langjähriger Freund seines Vaters gewesen war und auf dessen Urteil er besonders vertraute.

»Du hast viel Zeit in den Staaten verbracht. Du warst in New York und bist dem Mann begegnet, der das Parfüm unbedingt haben will. Da es um große Abnahmemengen geht, ist höchste Vorsicht geboten, zumal mir zu Ohren gekommen ist, dass wir es hier mit einem gerissenen jungen Erben zu tun haben, der in krumme Geschäfte verwickelt gewesen sein soll. Ich möchte nicht, dass mein Durchbruch auf dem amerikanischen Markt in der Öffentlichkeit mit derartigen Geschäften in Verbindung gebracht wird. Das darf unter keinen Umständen geschehen. Was sagst du dazu?«

Bill Jones hatte eine Zeit lang in den USA, genauer in New York, gelebt. Der gebürtige Kalifornier war als junger Mann in die Stadt gekommen, die acht Millionen Einwohner hatte und in der ganzen Welt auch unter dem Namen Big Apple bekannt war. Sie hatte ihm auf Anhieb gefallen, und so war er nach Manhattan gezogen, wo er auch die nächsten zwanzig Jahre geblieben war. Aus beruflichen Gründen hatte er sich oft in Deutschland aufgehalten und dann eines Tages beschlossen, für eine Weile nach Stuttgart zu ziehen. Ganze fünf Jahre waren inzwischen verstrichen, und er war immer noch da, was ihn selbst überraschte, da er nie die Absicht gehabt hatte, in Deutschland sesshaft zu werden. Von Zeit zu Zeit reiste er nach Amerika, um seine beiden Kinder, Athina und Jack, zu besuchen, die vor einigen Jahren in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt waren.

Bill kam jedes Mal schweren Herzens nach Deutschland zurück. Marcus konnte ihn gut verstehen, weil er Portugal genauso vermisste. Er betrachtete Portugal als seine Heimat, obwohl er dort nicht geboren war. Sein Vater stammte aus der Kleinstadt Nazaré, nahe Lissabon. Marcus hatte es all die Jahre über immer wieder in das Fischerdorf an der Atlantikküste gezogen, und er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Urlaub mit seinen Verwandten in der beschaulichen, wetterverwöhnten Stadt zu verbringen.

»Ich habe auch schon einiges über seinen Vater gehört. Adrian Louis ist ein ehrlicher Mann, der sich mit Köpfchen und Verstand bereichert und einen Teil des Geldes, das ihm als Erbe von einem entfernten Verwandten zugefallen ist, sinnvoll angelegt hat. Dieser Verwandte hätte keinen besseren Erben finden können als Adrian. Einen Teil des Geldes steckte dieser in die Errichtung eines Obdachlosenheimes, für das er auch heute noch Essen und Geld bereitstellt. Über seinen Sohn David weiß ich nicht viel. Soviel ich weiß, hat Adrian zwei Söhne. Der eine ist in die Fußstapfen des Vaters getreten und hat die Firma übernommen, der andere führt ein verschwenderisches Leben und lässt keine Party aus.« Bis hierher war Bill in seinem Bericht gekommen, als Marcus ihn unterbrach.

»Und was willst du mir damit sagen?«

»Ich will damit sagen, dass du nach New York reisen solltest, um dir ein eigenes Bild zu machen. Vielleicht solltest du lieber mit dem Vater verhandeln anstatt mit dem Sohn. Es geht immerhin um die Eroberung des amerikanischen Marktes. Dein Unternehmen ist profitabel, hat sich bewährt und erfüllt alle Kriterien, um sich in den Staaten einen Namen zu machen. Es wäre töricht, diese Gelegenheit nicht zu nutzen, aber an deiner Stelle würde ich den Vater als Verhandlungspartner vorziehen.«

Marcus sah ein, dass Bill recht hatte. Er schwieg kurz und überlegte, wie zu handeln war. Rasch gelangte er zu dem Schluss, dass er auf seinen alten Freund, der ihm stets gute Ratschläge gab, hören würde.

»In Ordnung, Bill, du hast völlig recht«, sagte Marcus, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. »Ich werde übers Wochenende nach New York fliegen. Nick, vereinbare für mich bitte ein Treffen mit Louis junior. Aber zuerst will ich seinen Vater kennen lernen.«

»Gut, Marcus. Das halte ich auch für die beste Lösung«, bekräftigte Nick die Entscheidung.

Damit war die Versammlung beendet. Marcus hielt sich im Anschluss wie immer noch eine Weile in seinem Büro auf. Bald gesellte sich Bill zu ihm, der eine kubanische Zigarre mitgebracht hatte. Die beiden Männer saßen beieinander und unterhielten sich einige Stunden lang über ihre Lieblingsthemen: über ihre Arbeit und ihre Heimatorte, die sich jeweils am anderen Ende der Welt befanden.

Die Stimme

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