Читать книгу Die Stimme - Marijana Dokoza - Страница 8
III
ОглавлениеKiara erwachte im Morgengrauen und begann sogleich, ihre Sachen zusammenzusuchen. Sie wollte keine Minute länger im Krankenhaus bleiben, obwohl der Arzt ihr empfohlen hatte, noch einen oder zwei Tage zur Beobachtung dazubleiben. Nicht einmal den Arztbrief wollte sie abwarten. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass Henning bei ihr sein würde, wenn sie aufwachte, nun aber war es schon Mittag und er war noch immer nicht da. Kiara wollte gerade ihre Tasche nehmen, als ein Blumenlieferant an die Tür klopfte und ihr einen mit einem Gruß versehenen Blumenstrauß überreichte. Sie klappte die Karte auf und las laut vor: »Ich hoffe, dass es Ihnen heute Morgen gut geht. Rufen Sie mich bitte an, wenn Sie Hilfe brauchen! Marcus.«
Kiara fiel ein, dass sie sich Marcus gar nicht vorgestellt hatte. Wahrscheinlich hatte er ihren Namen ihrer Krankenakte entnommen. Sie versuchte, über das, was geschehen war, nicht mehr nachzudenken, steckte die Karte in ihre Tasche und ließ die Blumen im Zimmer zurück.
›Kein Mann ist so oberflächlich wie Henning! Die Unzuverlässigkeit in Person‹, dachte sie, als sie die Tür hinter sich zuzog.
Henning war oberflächlich. Die Menschen, die er kennen lernte, beurteilte er gewöhnlich nach ihrem Äußeren, und hatte er erst einmal eine feste Meinung über jemanden gefasst, behielt er diese auch bei. Er konnte die Lebensauffassung sensibler und nachdenklicher Menschen, wie Kiara es war, nicht nachvollziehen, die Einstellung von Menschen, die sich um Hilfsbedürftige kümmerten und für die Phantasie und Idealismus – ähnlich wie in trivialen Liebesromanen – eine sehr wichtige Rolle spielten. Henning verstand sie nicht; sie hingegen fand immer wieder eine Rechtfertigung für sein Verhalten und hoffte inständig, dass sie irgendeine menschliche Eigenschaft, die sie als wertvoll erachtete, in ihm finden würde.
Es fiel ihr schwer, die Geschehnisse der vergangenen Tage zu verarbeiten, weil sie sich mit den darauf folgenden Ereignissen, die geradezu unfassbar schienen, auseinandersetzen musste. Kiara kam es vor, als gäbe es zwei verschiedene Realitäten – in der einen gab es die schmächtige alte Johanna, und in der anderen wusste kein Mensch von ihrer Existenz. Wie war es möglich, dass niemand von Johanna gehört hatte? Sie führte all das auf den Schock zurück, den sie bei ihrem Unfall erlitten hatte, und beschloss, alles wieder zu vergessen. Ihr Gemütszustand hatte sich wieder stabilisiert, als sie ihre kleine Wohnung betrat, in der Henning manchmal über Nacht blieb. Die Versuche ihrer Mutter Rosie, die schon eine ganze Weile alleine wohnte, sie dazu zu überreden, vorübergehend zu ihr zu ziehen, stießen bei ihr auf taube Ohren. Kiara lehnte ihr Angebot vehement ab und wollte sogar schon am nächsten Tag wieder zur Arbeit zu gehen.
Sie arbeitete als Wissenschaftlerin in einem renommierten medizinischen Institut, das sich der Erforschung menschlicher Anomalien verschrieben hatte. Bereits vor Beginn ihres Studiums war sie mit diesem Fachgebiet in Berührung gekommen, als sie auf einen Zeitungsartikel über die dreijährige Luhra Fernandez gestoßen war.
Luhra hatte ihren Namen von Nonnen bekommen, die sie 1936 in einem Wald in Portugal aufgefunden hatten. Die Leute hatten ihr den Namen »Nachtkind« gegeben. Man hatte das kleine Mädchen des Nachts gefunden, und sie war von den anderen Kindern als Monster ausgelacht worden, weil sie kein Gesicht hatte. Den Grund dafür kannte niemand. Manche Leute behaupteten, dass es sich um eine angeborene Krankheit handele, andere, dass sie von einem wilden Tier angegriffen worden sei. Aber genau wie David Lopez, der auch von Nonnen gefunden worden war – allerdings in einem Wald in Peru –, hatte auch das Mädchen viele Jahre später keinen Mund, keinen Oberkiefer und keine Nase mehr. Die Geschichte des Mädchens war Kiara nicht bekannt, aber, wie viele andere auch, hatte sie vorher schon von David Lopez gehört und war überzeugt, dass die Geschichte, die man sich über ihn erzählte, der Wahrheit entsprach. Warum dieser intelligente Junge unter seinen Altersgenossen keine Freunde hatte finden können, war ihr unbegreiflich. Glücklicherweise hatte ein Heim für ihn eine Reise nach Großbritannien und genügend Geld für eine kosmetische Operation organisiert. Die schwierigsten Eingriffe hatte der Chirurg Adam Jackson vorgenommen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Er und seine Frau hatten danach beschlossen, David zu adoptieren. Nach zahlreichen Operationen war es David schließlich gelungen, ein normales Leben zu beginnen. Was mit Luhra geschehen war, wusste dagegen niemand. Man hatte nie wieder etwas von ihr gehört.
Kiara hatte sich schon immer dazu berufen gefühlt, hoffnungslosen Menschen zu helfen. Daher beschloss sie, dem medizinischen Fachbereich einer der kleinsten, aber renommiertesten Universitätsstädte nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas, anzugehören: Tübingen. In diesem kleinen, am Neckar gelegenen Städtchen fand sie ihr zweites Zuhause. Aufgewachsen war sie in einem kleinen Ort in der Nähe von Stuttgart, wohin sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie gezogen war, weil ihr Vater in Stuttgart gearbeitet hatte. Als dieser bei einem besonders tragischen Vorfall, der den Einwohnern Stuttgarts noch lange in Erinnerung bleiben sollte, verunglückt war, zog Kiaras Mutter Rosie zusammen mit ihrer Tochter nach Tübingen. Wenige Jahre später kehrte Rosie aus beruflichen Gründen jedoch wieder nach Stuttgart zurück.
Adrian Horst, Kiaras Vater, war unter äußerst bizarren Umständen in einem Aufzug des Salamiherstellungsunternehmens »Marc & Co.« verunglückt. Gegenüber der Salamifabrik hatte ein Haus gestanden, von dem plötzlich Ratten, die eine alte Frau in ihrer Wohnung gehalten hatte, herabgefallen waren. Die Frau hatte überraschend ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, und die Ratten waren ihr gefolgt, da sie von ihr Futter bekommen hatten. Augenzeugen hatten berichtet, die Ratten seien so fett und schwer gewesen, dass sie sich nicht auf dem Dach hätten halten können, und seien deswegen auf die Passanten herabgefallen und hätten schließlich in der Salamifabrik Zuflucht gesucht. Die Polizei hatte die Straße zwar abgesperrt, aber einige Personen waren trotzdem von den Ratten gebissen worden. Unterdessen befand sich Adrian mit zwei weiteren Personen in einem Aufzug, der nach oben hin geöffnet war. Eine von ihnen war Silvia Wieter. Sie hielt eine frühgotische Skulptur aus dem Naumburger Dom in den Händen, die sie vom Chef des Unternehmens geschenkt bekommen hatte und in ihrem Museum ausstellen wollte. Als sie das Tier sah, fing sie zu schreien an und die Skulptur wurde gegen Adrians Kopf geschleudert, fiel zu Boden und zerbrach. Ein tragisches Ende für Kiaras Vater, der auf der Stelle tot war. Aber das war nicht das einzige Unglück gewesen. Die Ratten waren in der Fabrik zwischen die Maschinen geraten und zusammen mit dem Salamifleisch in kleine Stücke zerhackt worden. Drei von mehreren Dutzend Menschen, die diese Salami dann gekauft und verzehrt hatten, waren später ihren Vergiftungen erlegen. Hinterher wurde bestätigt, dass die Vergiftung ursächlich auf die Ratten zurückzuführen war.