Читать книгу Die Stimme - Marijana Dokoza - Страница 16

XI

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»Du hättest mir wenigstens kurz Bescheid geben können.«

Kiara erschrak, als sie eine Stimme über sich hörte. Sie öffnete die Augen und erblickte Henning, der sich über sie beugte. Als er sah, dass sie wach war, setzte er sich neben sie aufs Bett. Sie schloss die Augen wieder und streckte sich noch einmal, bevor sie sie wieder öffnete.

»Wie viel Uhr ist es?«

»Halb neun.«

»Halb neun? Ich muss wieder eingeschlafen sein. Der Wecker hat vorhin geklingelt. Wo ist Katja? Ich muss zur Arbeit.«

»Ich weiß. Ich habe dich sowohl zu Hause als auch auf deinem Handy und auf der Arbeit versucht anzurufen, und als du dich nicht gemeldet hast, habe ich beschlossen, persönlich nachzuschauen, ob es dir gut geht. Du hast schon zwei Tage lang nichts von dir hören lassen, und telefonisch bist du ja nie zu erreichen.«

Kiara sprang aus dem Bett und zog sich die Sachen an, die sie bereits am Tag zuvor getragen hatte. Normalerweise tat sie das nicht, aber dieses Mal musste es schnell gehen, weil sie sehr spät dran war. Henning fand es amüsant, ihr dabei zuzusehen, wie sie sich beeilte. Ihm waren derartige Reaktionen völlig fremd, ihm machte es im Gegensatz zu Kiara nichts aus, wenn er sich zu einem Termin verspätete.

»Du Dummerchen, heute ist doch Sonntag. Wie konntest du das vergessen? Du übertreibst es wirklich mit deiner Arbeit«, lachte er sie aus.

»Warum hast du mir das denn nicht gleich gesagt? Chefs sehen es nun mal nicht gern, wenn ihre Mitarbeiter zu spät kommen. Heute ist also mein freier Tag. Wie konnte ich das nur vergessen? Es wäre zu schön gewesen, wenn ich zum Institut gefahren wäre, um festzustellen, dass ich gar keinen Bereitschaftsdienst habe.« Kiara musste über sich selbst lachen.

»Du machst dir um andere Menschen zu viele Sorgen«, sagte Henning, mehr zu sich selbst als zu Kiara. Sie bemerkte den Hohn in seiner Bemerkung.

»Was soll das denn heißen? Erledige ich meine Arbeit so schlecht, dass es Zeitverschwendung ist, mir über das Schicksal meiner Patienten Gedanken zu machen?«, erwiderte sie wütend.

Offensichtlich war sie an diesem Morgen zu Auseinandersetzungen aufgelegt, und Hennings Äußerung bot ihr eine günstige Gelegenheit, um die Aggressionen, die sich durch die Ereignisse der vergangenen Tage in ihr aufgestaut hatten, wieder loszuwerden. Innerlich empfand sie Wut und Selbstverachtung, weil sie nicht stark genug gewesen war, ihre Beziehung mit Henning zu beenden. Diese unterdrückten Gefühle waren nun im Begriff, an die Oberfläche zu drängen. Ihr war jetzt jeder noch so kleine Grund willkommen, um mit Henning einen Streit anzufangen, damit er sie verließ. Henning war jedoch nicht dumm und hegte die Absicht, jegliche Streitereien zu vermeiden, zumindest bis zu dem Tag, an dem sie in eine Ehe mit ihm einwilligen würde. Zum jetzigen Zeitpunkt war er sich nicht sicher, ob diese Ehe überhaupt noch zustande kommen würde. Jedenfalls sah er keinen ernsthaften Grund, über ihre Beziehung zu diskutieren. Er gab sich auch die größte Mühe, keine Gründe dafür zu finden. Als hätte er geahnt, was ihn an diesem Morgen erwartete, hatte er Kiara vom nahe gelegenen Bäcker ein komplettes Frühstück inklusive Orangensaft mitgebracht und gab vor, er hätte den Saft selbst gepresst. Unter diesen Umständen hielt es Kiara für unangebracht, über ihre Unzufriedenheit, die sie hinsichtlich ihrer Beziehung empfand, zu sprechen.

Henning schenkte ihren Worten nie sonderlich viel Aufmerksamkeit. Deshalb hatte er wohl auch vergessen, an welchem Tag Katja ankommen sollte. Als er die halbnackte Frau aus dem Zimmer seiner Freundin herauskommen sah, ließ er das Frühstückstablett aus der Hand fallen.

»Hey Kiara, bist du schon …?«

Katja verstummte, als sie Henning in Kiaras Zimmer stehen sah.

Sie hatte nur ein T-Shirt an, unter dem man ihren schwarzen Stringtanga sehen konnte. »Pardon, ich brauche noch eine Minute.«

Henning reagierte rasch und wandte sich zu Kiara, die seine Nervosität bemerkte. Er hob das Tablett wieder auf.

»Und das ist wirklich Katja?«

»Das ist sie. Wirklich«, sagte sie und fand sich damit ab, dass sie wegen Katja und aufgrund seiner Bemühungen an diesem Morgen ihr geplantes Gespräch mit ihm wieder verschieben musste.

»Ich wusste natürlich, dass Katja heute ankommen sollte, aber weil ich keine Ahnung hatte, was sie mag, habe ich für sie kein Frühstück mitgebracht. Wenn du möchtest, gehe ich noch einmal zum Bäcker und besorge auch für sie etwas.«

Kiara wusste genau, dass Henning vergessen hatte, dass Katja heute kommen sollte. Am Anfang ihrer Beziehung war er aufmerksamer gewesen. Sie nahm ihm seine Nachlässigkeit aber diesmal nicht übel, sondern nickte nur verständnisvoll und zählte dann auf, was er mitbringen sollte.

Als er vor der Wohnungstür stand, hörte er, dass Katja im Bad war und duschte. Obwohl Kiara eine schöne Frau war und in seinen Augen auch als angehende Ehefrau in den Kreisen, in denen er verkehrte, eine gute Figur abgeben würde, fand er an Katja großen Gefallen. Er stellte sich vor, wie fantastisch es gewesen wäre, jetzt mit ihr unter der Dusche zu stehen. Auf dem Weg zum Bäckerladen hing er seiner Vorstellung weiter nach und war auch auf dem Rückweg noch mit diesem Gedanken beschäftigt. Als er wieder zur Tür hereintrat, hörte er, wie sich die zwei Freundinnen unterhielten.

»Das also ist Henning?« Das war Katjas Stimme. Gerade hatte sie von ihrem Aufeinandertreffen in Kiaras Zimmer berichtet.

»Ja«, antwortete Kiara. Offenbar hegte sie nicht die Absicht, noch länger über ihren Freund zu reden.

»Hut ab, du hast Geschmack! Du hattest schon immer einen guten Geschmack, aber dieser Typ ist ein Volltreffer«, fuhr Katja fort, ohne Kiaras knappe Antworten zu bemerken.

»Wie meinst du das?«

»Na ja, er sieht eben sehr gut aus«, sagte Katja.

Henning stand währenddessen hinter der Wohnzimmertür und belauschte zufrieden das Gespräch, das seinem unersättlichen Ego guttat. Lobeshymnen waren für ihn eine besondere Wohltat. Frauen betrachtete er als Trophäen, und Komplimente als Grundnahrungsmittel.

»Ja, er sieht schon gut aus …«, bestätigte Kiara in leicht spöttischem Tonfall, dessen Henning aber nicht gewahr wurde. Katja dagegen entging dieser Unterton nicht.

»Irgendwie klingt das aber nicht sehr überzeugt.«

Henning drückte sein Ohr noch fester an die Wohnzimmertür, um die Unterhaltung besser mitanhören zu können.

»Nein, aber …« Kiara hielt inne.

»Was?«

»Ich liebe ihn nicht!«, platzte es aus Kiara heraus.

Diese Worte hatte sie schon seit geraumer Zeit loswerden wollen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie ihre Gefühle endlich jemandem anvertrauen konnte. Kiara hatte nicht viele Freundinnen. Ihr fehlte eine Freundin, die ihr zuhörte, Ratschläge gab und sie nicht verurteilte. Wohl hatte sie zahlreiche Bekannte und Kolleginnen, mit welchen sie sich von Zeit zu Zeit auf einen Kaffee traf. Katja sah sie nur selten, aber sie war die Einzige, der sie alles anvertrauen konnte.

»Aber Süße, was redest du da?«, fragte Katja entsetzt.

»Ich bin mir schon eine ganze Weile im Klaren darüber, aber ich weiß nicht, wie ich es ihm beibringen soll«, antwortete Kiara mit gebrochener Stimme.

»Das ist ja wie bei deinem letzten Freund. Meine Liebe – du bist ein hoffnungsloser Fall«, sagte Katja geradeheraus. Sofort bereute sie ihre Worte und setzte sich zu ihrer Freundin, die gerade anfing zu weinen.

»Ganz ruhig, mal jetzt nicht den Teufel an die Wand«, versuchte Katja ihre Freundin zu beruhigen. »Wenn du ihn nicht liebst, liebst du ihn halt nicht. Du bist bestimmt nicht die Einzige auf der Welt, das ist doch nur menschlich. Unmenschlich wäre es aber, wenn du es noch weiter hinauszögern würdest, ihm die Wahrheit zu sagen. Das würde alles nur noch schlimmer machen, für dich und für ihn. Weißt du noch, wie es bei deinem letzten Freund war? Lass nicht zu, dass sich so etwas wiederholt.«

»Ich weiß, ich wollte es ihm heute Morgen sagen, aber ich konnte nicht. Er war so nett zu mir.«

Henning ging zur Wohnungstür zurück und ließ sie noch einmal zufallen, dieses Mal lauter, damit sie ihn hörten. Kiara wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und tat so, als hätte sie gerade gelacht.

»Hallo, endlich lernen wir uns kennen! Ich bin Henning«, stellte er sich Katja vor, als wäre nichts gewesen, als hätte die vorangegangene Unterhaltung zwischen seiner Lebenspartnerin und ihrer Freundin nicht stattgefunden.

Er hatte beschlossen, nicht derjenige zu sein, der diese Beziehung beendete. Nun, da er wusste, dass Kiara ihn verlassen wollte, nahm er sich vor, sie künftig mit seiner Nähe zu erdrücken, sie so in den Wahnsinn zu treiben und sich dann von ihr zu trennen, nur um sich nicht die Blöße zu geben, von ihr verlassen zu werden. Niemand machte mit ihm Schluss, dachte er sich, schon gar nicht die Kleine, die dachte, sie könne die Welt verbessern. Seinen Zorn ließ er sich jedoch nicht anmerken, und die Frauen schöpften keinerlei Verdacht. Henning war ein hervorragender Schauspieler.

Die Stimme

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