Читать книгу Die Stimme - Marijana Dokoza - Страница 11

VI

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Acht Jahre später ereignete sich etwas Ähnliches. Kiaras Beziehung zu Henning war angespannt. Henning und Christian unterschieden sich charakterlich stark voneinander, da Henning jeglicher Einfühlsamkeit entbehrte. Kiara war sich nicht mal sicher, ob er jemals etwas aus Gutmütigkeit getan hatte. An die alte Frau mit den durchdringenden schwarzen Augen, die sie damals in der Nacht angesprochen und ihr einen großen Schrecken eingejagt hatte, dachte sie kaum noch. Ihre Arbeit, die Bemühungen, die sie anstellte, um denen zu helfen, die andere schon aufgegeben hatten, für die sich selbst ihre Angehörigen schämten, ließen ihr keine Zeit dazu. Auch Luca widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit.

Als sie eines Tages das Laboratorium betrat, in dem sie öfter anzutreffen war als in ihrem eigenen Zuhause, schloss sie die Tür hinter sich ab, um ungestört zu sein. Sie nahm das Gefäß mit dem Gewebe, das Lucas Gesicht entnommen worden war, und platzierte den Inhalt unter einem Apparat, der der Gewebeuntersuchung diente. Das Gerät war ihr vergangene Woche überlassen worden, vom Hauptsitz ihrer Firma, der sich in Bedford, Massachusetts, in den USA befand und nicht nur über Forschungslaboratorien verfügte, sondern auch Biosensoren produzierte, die eine äußerst präzise Untersuchung des menschlichen Körpers ermöglichten. Kiara fügte dem Gewebe eine grünliche, der Diagnoseerstellung dienende Flüssigkeit hinzu. Einige Stunden später konnte sie etwas erkennen, das man in der Medizin kannte. Das Ergebnis ermöglichte jedoch keine eindeutige Diagnose, die notwendig war, um die richtige Heilmethode für den jungen Mann bestimmen und ihn zu retten zu können.

»Die Knochen sind brüchig, ihre Anfälligkeit ist stark bzw. chronisch, das Augenweiß weist eine starke Blaufärbung auf, gelegentlicher Hörsturz«, vermerkte Kiara in ihrem umfangreichen Notizbuch, in dem sie alle Befunde festhielt. Zumeist waren die Resultate für die Patienten befriedigend.

Die Erkrankung von Lucas Bindegewebe äußerte sich durch Knochenschwäche und war, darin waren sich die Wissenschaftler einig, durch eine Anomalie der Kollagensynthese bedingt.

»Die Häufigkeitsquote bei Neugeborenen ist 1:15000, aber der Patient Luca Illoni erkrankte erst nach der Pubertät. Auch das nicht mineralisierte Gewebe, dessen wichtigste Eiweißmatrix das Kollagen Typ III ist, ist betroffen. Haut, Augen, oder genauer, Augenweiß, Zähne und Blutgefäße weisen die deutlichsten Abweichungen auf. Beim Patienten Luca Illoni treten Symptome auf, die sich nur sehr schwer einer bestimmten Krankheit zuordnen lassen. Sein Augenweiß ist blau gefärbt, daneben leidet er unter gelegentlicher Taubheit, Zahnbildungsstörung, Überdehnbarkeit der Gelenke und der Haut. Des Weiteren konnten Gewichtszunahme, Kapillarschwäche und Herzklappenfehler festgestellt werden. Der Patient hat eine unnatürlich breite, asymmetrische Kopfform und ein dreieckiges Gesicht«, schrieb Kiara weiter auf.

Aber da musste noch etwas anderes sein. Sie bezweifelte, dass die Medikamente und die Therapie, welche bei den betroffenen Patienten normalerweise angewandt wurden, bei Luca irgendetwas bewirken würden. Der Grund für ihre Vermutung lag in der Geschwindigkeit, mit welcher sich die Krankheit ausbreitete.

»Der Organismus des Patienten muss von einem Virus befallen sein, das seine Krankheit beschleunigt«, hielt Kiara fest. Ihr Gesicht war angespannt und blass, weil sie auch dieses Mal keine eindeutige Diagnose erstellen konnte und Luca enttäuschen musste.

»Es tut mir leid, noch wissen wir nichts Genaues.«

»Seien Sie nicht traurig, ich glaube an Sie«, erwiderte Luca, als sie ihm schweren Herzens mitteilen musste, dass die Blut- und Gewebeuntersuchungen im Rahmen einer ganzen Reihe von Analysen in Bezug auf seine Krankheit nichts Genaues ergeben hatten. Als Kiara gerade die Treppe, die zum Institutslaboratorium führte, hinabsteigen wollte, ließ sie aus Versehen das Reagenzglas fallen, in dem sich Lucas Blutprobe befand. Das Glasgefäß ging zu Bruch, und die rote Flüssigkeit zerlief auf den weißen Stufen. Plötzlich wurde Kiara schwarz vor Augen. Für einen kurzen Augenblick sah sie in dem sich ausbreitenden Blut den Umriss eines Kopfes. Sie musste übermüdet sein. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es schon nach 23 Uhr war. Es war genau 23.23 Uhr, was bedeutete, dass auch die Reinigungsdamen schon nach Hause gegangen waren. Kiara stieg die Stufen hinab und begab sich zu dem Raum, in dem das Reinigungspersonal seine Putzutensilien aufbewahrte. Sie drückte zwei-, dreimal auf den Lichtschalter, aber die elektrische Beleuchtung schien nicht zu funktionieren. Als sie es schon aufgegeben hatte, leuchtete auf einmal die Glühbirne an der Zimmerdecke auf. Kiara wartete einen Moment, nahm dann einen Lappen, feuchtete ihn an und ging zu der Stelle zurück, wo sie das Reagenzglas fallengelassen hatte. Sie hatte den Eindruck, vorhin mehr Blut auf dem Boden gesehen zu haben als jetzt, machte sich aber keine weiteren Gedanken darüber. Rasch wischte sie das Blut auf und ging danach wieder zum Reinigungsraum zurück. Den mit Blut getränkten Lappen warf sie in den Eimer, der zur Fußbodenreinigung benutzt wurde, und überlegte, was sie am nächsten Morgen zu den Putzfrauen sagen sollte. Nachdem sie mehrere Male vergeblich versucht hatte, das Licht auszuschalten, zog sie verärgert die Tür hinter sich zu, als plötzlich das Licht erlosch. Noch bevor die Tür ins Schloss fiel, glaubte sie, wieder etwas oder, besser gesagt, jemanden gesehen zu haben. Da ihr das Gefühl keine Ruhe ließ, öffnete sie die Tür wieder und schaltete das Licht an, was diesmal ohne Verzögerung funktionierte. Es war niemand da.

Kiara musste über sich selbst lachen. Sie kam zu dem Schluss, dass sie zu viel arbeitete und dass es besser wäre, künftig mehr Zeit mit ihrem Freund zu verbringen und an ihrer Beziehung zu arbeiten. Sie hatte schon lange keinen Urlaub mehr gemacht. Sobald sie für Luca eine Heilmethode gefunden hatte, so versprach sie sich selbst, würde sie sich eine Auszeit gönnen. Während sie innerlich diesen Entschluss fasste, schaltete sie reihum das Licht im Laboratorium und danach in den übrigen Räumen der Abteilung aus. Sie stieg in den Aufzug und betätigte den Knopf fürs Erdgeschoss.

»Gute Nacht«, sagte sie zu Rocco, dem Pförtner.

»Gute Nacht, Frau Doktor Horst. Träumen Sie schön«, antwortete Rocco.

Draußen war es bitterkalt. Bevor sie das Institut verließ, warf Kiara rasch einen Blick aufs Thermometer, das minus fünfzehn Grad anzeigte. Es schauderte ihr beim Gedanken an die frostige Nacht. Sie sehnte sich nach wärmeren Tagen, wohl wissend, dass sie sich noch einige Zeit gedulden musste. Ja, sie hatte die Nase voll von diesem lang anhaltenden Winter, der alles schwarzweiß erscheinen ließ. In Deutschland war man kalte, trübe und nasse Winter gewöhnt; dennoch konnte sie es kaum erwarten, dass es wieder wärmer wurde. Auch als sie schon fast bei ihrem Auto am Ende der Straße angekommen war, träumte sie noch immer vom Sommer. Die Straße war menschenleer. Auf dem Weg zu ihrem Wagen waren ihr lediglich zwei Personen entgegengekommen. Obwohl sie sich nicht fürchtete, war sie doch auf eigenartige Weise unruhig. Als Kiara die Autotür aufschloss, erinnerte sie sich, neulich irgendwo gelesen hatte, dass einer Statistik zufolge alle sieben Minuten in Deutschland eine Frau vergewaltigt wurde. In diesem Augenblick bekam sie es mit der Angst zu tun. Eilig schloss sie die Autotür auf, stieg ein und verriegelte die Tür noch eiliger wieder von innen. Sie startete den Motor und fuhr los. Einige Minuten waren bereits vergangen, ehe ihr auffiel, dass das Radio nicht eingeschaltet war. Für gewöhnlich blieb Kiara lange im Laboratorium und kam oft erst nachts nach Hause. Doch heute Nacht verspürte sie zum ersten Mal Angst, als sie darüber nachdachte, dass ihr etwas zustoßen könne. Zwar litt sie generell nicht unter Nyktophobie, empfand aber gerade jetzt eine ungeheure Furcht angesichts der Dunkelheit, die sie umgab. Sie lebte im zweiten Stock eines Hauses, in dem einige ältere Herrschaften sowie zwei junge Familien wohnten. Kiara kannte keinen von ihren Nachbarn besonders gut, kam aber gut mit ihnen aus. Meistens erkundigte sie sich jedoch nur, wie es ihnen ging, und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Sie brauchte nicht lange, um die Eingangstür zu öffnen, und verspürte eine ungeheure Erleichterung, als sie im erleuchteten Treppenhaus stand. Als sie ihre Wohnung betrat, wünschte sie, sie hätte in dieser Nacht bei ihrer Mutter übernachtet, weil Henning, tief und fest schlafend, in ihrem Bett lag. Wenn er aufwacht, dachte sie sich, wettert er bestimmt wieder los: »Wieso kommst du jetzt erst nach Hause? Du hattest doch versprochen, früher da zu sein«, oder: »Kiara, du arbeitest wirklich viel zu viel, wenn man dich für all die Überstunden wenigstens bezahlen würde …«

Die Stimme

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