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1.1.6. Verarbeitung des Erlebten

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Bevor ich über den weiteren Verlauf meiner Nachsorge und den Wiedereinstieg ins Berufsleben berichte, möchte ich etwas darüber erzählen, was diese Krankheit mit mir als Mensch gemacht und wie sie mich verändert hat:

Krebs ist eine existenzielle Herausforderung. Neben der ständigen Angst vor einem Fortschreiten der Krankheit, kommen die Auseinandersetzung mit dem Tod sowie den drohenden körperlichen Verstümmelungen dazu. Ist man nicht gut versichert, sind auch finanzielle Schwierigkeiten zu erwarten. Letzteres war bei mir zum Glück nicht der Fall.

Die härteste der genannten Herausforderungen war die Konfrontation mit dem Tod, weil der Blick auf den Tod immer auch eine Auseinandersetzung mit dem bisherigen Leben bedeutet. Natürlich sollte man das regelmäßig tun, aber nie ist die Sicht auf das eigene Leben klarer wie dann, wenn der Tod greifbar wird. In dieser Situation wird man spirituell offener und betrachtet die Realität aus einer realistischeren Perspektive. Die üblichen Verdrängungsmechanismen und Rationalisierungen versagen. Alles, was man im Leben aufgeschoben oder weggeschoben hat, drängt jetzt ins Bewusstsein. Es ist wie ein Schleier, der sich lüftet, und man erkennt, wie ignorant man durchs Leben gegangen ist. Ignorant nicht nur den anderen gegenüber, sondern auch gegenüber sich selber, eigenen Bedürfnissen, die man vernachlässigt hat, oder Menschen, die einen brauchten und für die man keine Zeit fand; Menschen, die viel für einen getan haben, wofür man sich nie bedankt hat. Dieser Prozess ist wie eine Gerichtsverhandlung, in der man Kläger, Angeklagter und Richter zugleich ist. Eigentlich hatte ich so etwas wie eine Nahtoderfahrung, auch wenn ich physisch dem Tode gar nicht nahe war. Allein die Möglichkeit eines baldigen Todes hat die Voraussetzung geschaffen, um schonungslos ehrlich auf mein bisheriges Leben zurückzuschauen.

Viele bohrende Fragen raubten mir in den Nächten den Schlaf. Was habe ich eigentlich in meinem Leben geleistet, das auch nach meinem Tod noch für irgendjemanden von Nutzen ist? Wird sich überhaupt noch jemand an mich erinnern, wenn ich gestorben bin? Wozu diese Mühsal, wenn am Ende nichts übrig bleibt? Ist mit dem Tod alles zu Ende? Wie war ich eigentlich als Mensch? Wieviele Menschen habe ich enttäuscht, gekränkt oder verletzt? – Nicht auf alle Fragen habe ich sofort eine Antwort gefunden. Auf einige erst Jahre später, bei wenigen bin ich heute noch nicht sicher.

Die Fragen kreisen hauptsächlich um drei Schwerpunkte: die Beziehung zu mir selber und zu anderen Menschen, den Lebenssinn und die Vergänglichkeit. Vom ersten Themenkreis soll hier die Rede sein.

Ich bin fast von Geburt an ohne Unterbrechung bis zu meiner Volljährigkeit in einem Kinderheim aufgewachsen, das von zwei Frauen geleitet wurde. Beide Frauen erlebten ihre Jugend und jungen Erwachsenenjahre in der großen wirtschaftlichen Depression der 30er-Jahre sowie des 2. Weltkrieges. Dies ist insofern von Bedeutung, weil mir dadurch Werte vermittelt wurden, die für diese Generation zentral waren. Dazu gehörten vor allem Sparsamkeit, aber auch – was für mein späteres Leben viel wichtiger ist – Mut und Durchhaltewillen. Sparsamkeit war für diese Generation und speziell die beiden Schwestern deswegen wichtig, weil der Mangel täglich mit Händen zu greifen war, Mut und Durchhaltewillen, weil der Krieg von den betroffenen Menschen einiges abverlangt hat, was nur mit den genannten Eigenschaften zu bewältigen war.

Es kam aber noch etwas anderes dazu, was diese Generation geprägt und verbunden hat: der Wille, der Zerstörung Europas durch zwei Weltkriege und einer großen wirtschaftlichen Depression in weniger als einem halben Jahrhundert etwas entgegenzusetzen und diesen Lebensumständen zu entfliehen. Millionen Menschen wurden in Europa erschossen, massakriert und vergast. Die beiden Schwestern sind mit Sicherheit durch diese politische Großwetterlage geprägt worden. Der Krieg kann den Menschen verrohen, aber er kann auch – so paradox das klingen mag – das Höchste im Menschen hervorbringen, nämlich sich aufopfernd und selbstlos für andere einzusetzen. Gerade weil es im Krieg an Menschlichkeit mangelt, wird man sich deren Bedeutung bewusst.

Diese Mischung von Werten erwies sich für mich als Glücksfall. Da ich ein sehr ängstliches und oft auch krankes Kind war und zudem an einer Feuerphobie litt, die sich in entsprechenden Albträumen äußerte, war ich in besonderem Masse auf Zuwendung und Betreuung angewiesen. Ob es eine richtige Entscheidung war, mich in ein Kinderheim, und gerade in dieses, gegeben zu haben, konnte ich zum Zeitpunkt meiner Krebserkrankung nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Ich kannte meine leibliche Mutter noch nicht und ich wusste noch relativ wenig über die Situation der Kinderheime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erst die Reflexion der Begegnung mit meiner Mutter sowie die Aufarbeitung meiner Kindheit gab mir die Gewissheit, dass ich großes Glück hatte.

Aber warum erzähle ich das jetzt überhaupt? Nun, auch wenn ich noch nicht alle Fakten hatte, so konnte ich doch in der Konfrontation mit dem Tod erkennen, wie mein Leben verlaufen war. Ich erkannte die Bedeutung und den Einfluss, den andere Menschen auf mich hatten. Ich sah, welches Glück ich hatte und wie leicht mein Leben einen negativen Verlauf hätte nehmen können. Ich sah aber auch, welche Wirkung ich mit meinen Worten und Taten und Unterlassungen auf mir nahestehende Personen gehabt habe. Was mich am meisten schmerzte war, dass ich mich für den großen Einsatz der beiden Schwestern und das, was sie für mich getan haben, nicht mehr bedanken konnte, weil beide bereits verstorben waren. Bei der einen ist das noch entschuldbar, weil ich erst zwölf Jahre alt war, als sie an Krebs verstarb. Die andere habe ich noch bis zu ihrem Tod im Jahre 1999 regelmäßig besucht, doch habe ich mich nie richtig für ihre Lebensleistung interessiert. Das war ein unverzeihlicher Fehler. Wohl kann man sagen, dass ich durch Aufrechterhaltung des regelmäßigen Kontaktes meine Wertschätzung zum Ausdruck brachte, jedoch war ich bei meinen Besuchen oftmals verletzend und herabwürdigend. Das war sehr ungerecht in Anbetracht dessen, was sie für mich (und andere) geleistet hat.

Die Konfrontation mit dem Tod und die damit verbundene spirituelle Öffnung stellen eine große Chance für die Persönlichkeitsentwicklung dar. Die existenzielle Herausforderung kann der eigenen Entwicklung einen enormen Schub verleihen, wenn man die Gelegenheit dazu erhält und diese auch nutzt. Vieles muss nach dieser Erfahrung überdacht und geändert, möglicherweise sogar aufgegeben werden. Neues tritt an die Stelle des Aufgegebenen und lässt einen neu aufleben. Vor meiner Krebsdiagnose hatte ich meine Energie auf Dinge gelenkt, die eigentlich keinen bleibenden Wert haben: ein paar Diplome erworben, Software ausgetüftelt, die in ein paar Jahren sowieso niemand mehr braucht, und Güter angehäuft, die ich eigentlich gar nicht benötige. Es war eine sehr materialistische, auf Erfolg getrimmte Lebenseinstellung. Ich spürte zwar, dass mein Leben nach meiner berufliche Etablierung und der relativen materiellen Sicherheit, die ich damit erreicht hatte, zu stagnieren begann und ich mich deshalb neuen Aufgaben hätte zuwenden sollen – Aufgaben, die ich lange vernachlässigt habe –, trotzdem konnte ich den Pfad nicht verlassen. Dies führte dazu, dass so wichtige Bereiche des Lebens wie Liebe, Freundschaft und Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen, die mich brauchten, keinen Platz fanden. Ich wusste, dass meine ängstliche bis paranoide Persönlichkeit mich daran hinderte und zu dieser Stauung führte. Frustrationen waren die Folge, die ich mit genau dem zu kompensieren versuchte, von dem ich eigentlich schon genug hatte.

Die Krebserkrankung führte mir dieses Problem vor Augen und zeigte auch Wege aus der Sackgasse. Ich lernte, die Bedeutung dessen zu relativieren, was mir vor meiner Erkrankung so wichtig war und mich daran hinderte, mich den wichtigeren Aufgaben im Leben zuzuwenden. Die Krankheit lehrte mich auch, wohin ich mich wenden sollte, indem sie mir den Einfluss aufzeigte, den andere Menschen auf mich gehabt haben und ohne die ich die schwierigen Hürden in meinem Leben nicht hätte überwinden können.

Ich erzähle das, weil all diese Einsichten bei der Begegnung mit dem Kannibalen von entscheidender Bedeutung sein werden.

Viele dieser Erkenntnisse habe ich auf langen Spaziergängen gewonnen, die ich mir nach der Empfehlung des Arztes, bei dem ich den Darm untersuchen lassen musste, zur Gewohnheit gemacht habe. Das Denken klappt beim Gehen an der frischen Luft einfach besser als auf einem Sofa vor dem Fernseher.

Trotzdem habe ich verschiedene professionelle und weniger professionelle Hilfen in Anspruch genommen, um die Krankheit zu verarbeiten. Am brauchbarsten war dabei die psychoonkologische Beratung [18] und Therapie. Besonders hilfreich war dabei, dass ich jemand hatte, der mir zuhörte, wenn ich von meinen Ängsten erzählte. Ich musste nämlich die Erfahrung machen, dass viele Menschen in meinem persönlichen Umfeld ein großes Problem mit meinem offenen Umgang mit der Krankheit hatten und nichts vom Sterben hören wollten. Darauf habe wiederum ich mit Unverständnis reagiert, denn der Tod gehört nun mal zum Leben. Warum also davor flüchten? Bei der Psychoonkologin konnte ich all die schwierigen Themen zur Sprache bringen.

DIE ENTSCHEIDUNG - BEGEGNUNG MIT EINEM KANNIBALEN

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