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1.2.2. Erste Begegnung am 29. März 2008

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Erst mit meiner Krebserkrankung änderte sich das. Die Krankheit lehrte mich, dass das Leben sehr schnell zu Ende gehen kann. Man sollte deswegen keine wichtigen unerledigten Angelegenheiten mit sich herumtragen, weil sie das Sterben und indirekt auch das Leben behindern.

Ich überwinde mich schließlich und rufe die Mutter an, als sie mir im Februar 2008 ein weiteres Mal schreibt. [2] Weil ich natürlich keine Erinnerung mehr an ihre Stimme habe, ist sie für mich fremd. Sie erzählt mir von einem weiteren Bruder, den ich neben Peter (Name geändert) noch haben soll: »Er heißt Jens (Name geändert) und wird bei unserem Treffen auch dabei sein«, sagt sie, nachdem wir uns für den 29. März 2008 verabredet haben.

Ich bin sehr nervös, weil ich keine Ahnung habe, was mich erwarten wird. Wie sieht sie aus? Was hat sie für ein Leben geführt? Sind wir uns ähnlich? Was ist mit dem Bruder? Was macht er beruflich? Aufgrund der spärlichen Informationen, die ich von ihr habe, und aufgrund der speziellen Familienkonstellation, muss ich mich auf einiges gefasst machen.

Also mache ich mich am besagten Samstag auf den Weg. Ich stoße auf ein heruntergekommenes Haus mit außen angebrachten Treppen und Korridoren. In der Wohnung treffe ich in der Tat auf eine Frau, die noch älter wirkt als auf dem Foto, das ich von ihr habe. Die Wohnung ist unaufgeräumt und dreckig. Mich verstört, was ich sehe, und mit einem Schlag ist die Illusion zerstört, die ich mir aus Selbstschutz zurechtgelegt hatte. Natürlich musste ich annehmen, dass ich auf schwierige Familienverhältnisse treffen würde, aber ich habe nicht damit gerechnet, meine Mutter in so einer schäbigen, dreckigen Wohnung und in einem solchen Zustand anzutreffen.

Die Begrüßung ist zwar freundlich, aber distanziert. Auf ihrer Seite ist die Freude groß, mich zu sehen, ich selber bin aber enttäuscht. Ich habe mir meine Mutter anders vorgestellt. Ich versuche, mich in ihr wiederzuerkennen, aber ich sehe eine fremde Person. Es ist, als ob ich gerade in eine andere, mir unbekannte Welt eingetaucht bin.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragt sie mich, während sie beiläufig meinen Bruder Jens sowie ihren gegenwärtigen Lebenspartner vorstellt.

Einen Kaffee kann ich jetzt wirklich brauchen.

»Dir laufen wohl die Frauen hinterher, so wie du aussiehst«, fährt sie fort.

Das kann ich zwar nicht behaupten, trotzdem freut mich das Kompliment.

Der weitere Verlauf des Gesprächs ist eher banal, bis sie schließlich Bilder hervorholt, die sie in jungen Jahren zeigen. Sie ist kaum wiederzuerkennen. Auf diesen Fotos habe ich das erste Mal das Gefühl, eine mir vertraute Person zu sehen. Was ist bloß in ihrem Leben passiert, dass sich ihr Aussehen so verändert hat und warum lebt sie heute in solchen Verhältnissen? Ich wage nicht, danach zu fragen.

Der Besuch hinterlässt bei mir gemischte Gefühle. Auf der einen Seite bin ich stolz zu sehen, wie weit ich in meinem Leben gekommen bin. Auf der anderen Seite bin ich erschüttert über die Frau, die ich in dreckigen Wohnverhältnissen angetroffen habe und die meine Mutter sein soll. Ich habe nicht das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Anstatt einiges klären zu können, habe ich jetzt noch mehr Fragen. Warum hat sie drei Söhne, von denen jeder einen anderen Vater hat, obwohl die Geburtstage maximal drei Jahre auseinanderliegen? Warum geht mein jüngster Bruder, den ich beim Besuch kennenlernte, keiner Arbeit nach? Warum war er über zehn Jahre in der Waldau [3] wie sie mir geschrieben hat? [2] Wirklich verstehen werde ich das erst später und akzeptieren erst noch viel später.

DIE ENTSCHEIDUNG - BEGEGNUNG MIT EINEM KANNIBALEN

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