Читать книгу DIE ENTSCHEIDUNG - BEGEGNUNG MIT EINEM KANNIBALEN - Markus Dubach - Страница 36
Hochsensibles und ängstliches Kind, aber …
ОглавлениеDie Pflege gestaltete sich am Anfang offenbar äußerst schwierig. Von allen Verantwortlichen wurde meine ausgesprochene Sensibilität erkannt und in den zweijährlich erstellten Berichten des Vormundes, den Stellungnahmen des begleitenden und beratenden Psychologen sowie dem von Schwester Heidi Bächler geführten Journal [6] regelmäßig erwähnt. Allerdings sah man sie nicht als Begabung, sondern als Problem, das es zu überwinden galt. Der begleitende Hausarzt brachte meine Sensibilität mit einer Neurose in Verbindung, die sich in zeitweiligem Erscheinen eines Ekzemes bemerkbar mache.
Der Schulbeginn wurde wegen der ausgesprochenen Sensibilität und Ängstlichkeit sogar um ein Jahr verschoben, obwohl ich intelligenzmäßig absolut in der Lage gewesen wäre, im regulären Alter in die Schule einzutreten. Dabei bedurfte es bei der Einschulung eines besonders subtilen Vorgehens. Dies gelang offenbar, wie der Vormund in seinem Bericht vom Dezember 1974 festhält [7]: … Bis heute scheint dieser Versuch geglückt zu sein und Markus ist über seinen Erfolg selber sehr stolz … Probleme hatte ich aber mit den Pausen, was ein von Heidi Bächler verfasster Journaleintrag vom Februar 1975 bestätigt: … Problematisch sind die Pausen. Er fürchtet sich vor Lärm und zu vielen Kindern … Das ist mir in der Tat gut in Erinnerung geblieben. Ich hatte Angst vor den Pausen und das Geschrei der Kinder war mir ein Gräuel. Ich stand auf dem Pausenhof deshalb immer etwas abseits und mied das Getümmel, das sich vor meinen Augen abspielte.
Diese übermäßige Ängstlichkeit und Sensibilität spiegelte sich auch in Albträumen wider. Ich war Feuerphobiker, d. h ich fürchtete das Feuer und die damit zusammenhängende Hitze. Diese Phobie machte sich in schrecklichen Träumen bemerkbar. So erinnere ich mich noch gut an einen bestimmten Traum: Unser Haus brannte, ich schaute zum Fenster hinaus und sah die anderen draußen stehen. Ich rief ihnen zu, sie sollten mich retten, aber niemand reagierte. Das Feuer griff immer weiter um sich und bevor es mich erfasste, wachte ich schweißgebadet auf. Ich habe mich gefragt, woher dieser Traum kam. Da musste etwas Schlimmes geschehen sein. Weil ich kurz nach meiner Geburt ins Heim kam, konnte es sich nur um ein Ereignis in der Schwangerschaft gehandelt haben. Dieses Rätsel löste sich – so glaubte ich zumindest – als mir eines Tages ein Bericht in die Hände fiel, in dem meine Feuerphobie und deren Ursache erwähnt wurde. Im Bericht heißt es, dass die Phobie auf einen Abtreibungsversuch zurückzuführen sei, bei dem Hitze eine Rolle gespielt haben soll. Das leuchtete mir ein.
Ich vergaß nie mehr, was ich da gelesen hatte. Beim Schreiben dieses Buches war ich mir nicht sicher, ob ich das erwähnen soll, weil ich mich lediglich auf mein Gedächtnis stützen kann. Ich fand nichts in den Unterlagen der Vormundschaftsbehörde und vom Heim ist lediglich das Journal übrig geblieben. Ich hoffte, dass der Nachforschungsauftrag an das Staatsarchiv im Oktober 2015 mehr Fakten zur Schwangerschaft ans Licht bringen würde, wurde allerdings enttäuscht. »Die im Kinderheim geführten Akten sind nicht archiviert worden, weil es sich um eine private Institution handelte«, gab man mir zu verstehen. Sie seien vermutlich bei der Schließung des Heimes vernichtet worden. Ich bin mir aber sicher, dass es diesen Bericht gab und ich weiß noch genau, was ich gelesen habe. Ich entschloss mich daher, diese Information trotzdem zu veröffentlichen, auch weil dieses Ereignis verdeutlicht, wie sehr ich aufgrund meiner besonderen Veranlagung und Vorgeschichte auf ein fürsorgliches Umfeld angewiesen war.
Die Albträume raubten mir den Schlaf und ohne entsprechende Medikamente schlief ich nur ein Minimum. Ich erhielt über viele Jahre Valium, wie die Einträge im Journal belegen:… 1 Löffel Valium, sonst schläft er nicht … (1968), … 2 Mal pro Tag Valium … (1969). Selbst während der Probezeit in der Sekundarschule nahm ich Valium, was sich allerdings negativ auf die Leistungen auswirkte, weil ich ständig müde war. Nach Absetzen des Medikamentes verbesserten sich die Noten schlagartig. Natürlich wurde schon früher versucht, auf das Valium zu verzichten, aber dann setzten die Schlafstörungen und Albträume wieder ein: … Probeweise aufhören mit Valium. Schläft nun aber Mittags nicht und auch Nachts ein Minimum … (Herbst 1969). Generell beeinflussten die Tageserlebnisse meine Schlafqualität stark. So steht im Journal: … Sein Schlaf ist je nach Tageserlebnissen gut oder schlecht … (Februar 1975).
Körperlich war ich anfänglich auch nicht in guter Verfassung. So finden sich über die Zeit verschiedene Einträge im Journal zu meiner Gesundheit: … Immer in ärztlicher Behandlung. Dauernd Ohrensachen und immer wieder Fieber … steht in einem Vermerk von 1968 und … Wieder Ohrenentzündung. Gewichtsabnahme … Körperlich überaus anfällig … (1969). Erst nach und nach bessert sich der Gesundheitszustand:… Gesundheitlich hat er Fortschritte gemacht … (1975), … Gesundheitlich geht es ihm viel besser … (Mai 1976) und … Gesundheitszustand besser … aber starke Übermüdungserscheinungen, sobald er überfordert wird, was jetzt vor der Sekundarschulprüfung öfters der Fall ist … (1978).
Aufgrund der gesundheitlichen Probleme hatte ich in der Schule viele Ausfallzeiten. Ich erinnere mich noch gut an die erste Klasse. Manchmal hatte ich fast jede zweite Woche Fieber und musste dem Unterricht fernbleiben. So fehlte ich im ersten Schuljahr 85 Stunden und im zweiten sogar 108 Stunden, was sich allerdings nicht in schlechteren Leistungen niederschlug.