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1.3.2. Die Zeit bis zur ersten Eskalation

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Nun beginnt die dreimonatige Probezeit. Bereits ab dem zweiten Tag arbeite ich in dem Projekt, für das ich angestellt worden bin. Es folgt ein Kick-off-Meeting mit dem Projektleiter sowie einem Architekten. Zu dritt besuchen wir den Kunden, das Bundesamt für Statistik (BFS) in Neuenburg, um uns einen Überblick zu verschaffen. Wir erhalten in einer längeren Sitzung einige grundlegende Informationen, allerdings scheint mir das Ganze noch ziemlich unausgegoren zu sein. Soweit ich es verstanden habe, geht es darum, aus den Telefonanschlüssen aller Haushalte der Schweiz ein Register zu erstellen. Daraus sollen nach diversen Kriterien Stichproben für Haushaltsbefragungen gezogen werden. Das Projekt bzw. zu bauende System heißt Castem [2].

Ein Knackpunkt des Projektes ist der Umstand, dass die Daten aus der Notrufdatenbank der Swisscom stammen. In dieser sind alle Personen der Schweiz mit einem Festnetzanschluss gespeichert, auch solche, deren Adresse im Telefonbuch nicht auffindbar ist, wozu Personen des öffentlichen Lebens und gefährdete Personen gehören. Geraten die Daten in falsche Hände, könnte dies für die betroffenen Personen verheerende Folgen haben. Warum also nimmt man die Daten aus dieser Datenbank und begnügt sich nicht mit denjenigen aus dem offiziellen Telefonbuch? Dies hängt damit zusammen, dass der Abdeckungsgrad, also der Prozentsatz der Bevölkerung mit einem Eintrag im öffentlichen Telefonbuch, unter die für Stichproben notwendige Schwelle von 95 Prozent abgesunken ist. Denn nicht nur gefährdete oder prominente, sondern auch gewöhnliche Personen lassen ihren Eintrag immer öfter aus dem öffentlichen Telefonbuch löschen. In der Notrufdatenbank sind sie aber noch drin und folglich ist hier die Abdeckung konstant bei nahezu 100 Prozent. Der Nachteil ist, dass man sich diese hohe und auch notwendige Abdeckung mit einem Datenschutzproblem erkauft.

Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, das sei ein einfaches Projekt, und so wird es auch von allen Beteiligten außer mir eingeschätzt. Der Kunde wünscht eine Bereitstellung des Systems bis Ende Januar 2008. Ich habe also gut vier Monate Zeit. »Ich finde die Zeit knapp bemessen«, sage ich zu Powischer, dem Projektleiter, beim Verlassen des BFS. »Ach was, diese paar Daten zu laden ist doch keine Sache. Du bist eine Heulsuse!« Ich erwidere, dass ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrung gerade auf diesem Gebiet sehr wohl den Aufwand richtig einschätzen kann. »Und dann ist da noch die Datenschutzproblematik. Ich würde das nicht unterschätzen«, gebe ich zu bedenken. Leider stoße ich auf taube Ohren.

Mit einem unguten Gefühl mache ich mich an die Arbeit. Leider bin ich dabei in den ersten Wochen sehr eingeschränkt. Ich erhalte erst gegen Ende Oktober einen einsatzfähigen Entwicklerarbeitsplatz. Die Grobspezifikation, die ich von Powischer (Name geändert) erhalte, lässt viele wichtige Fragen offen. Insbesondere die Integration in eine noch zu etablierende generische Architektur [3] löst bei mir Stirnrunzeln aus. Es ist nämlich geplant, die vielen Einzelapplikationen im BFS durch eine serviceorientierte Architektur [3] zu ersetzen. Man muss sich das so vorstellen, dass jeder Leistungsbezieher des BFS zukünftig in erster Linie Bausteine aus dieser Architektur in seine Applikationslandschaft integrieren wird und nur dann Teile einkauft oder selber entwickelt, wenn sie nicht von der Architektur bereitgestellt werden. Durch Zusammenfassen der IT-gestützten Prozesse in einer zentralen, unternehmensweiten Architektur, die in Form von Services den Abteilungen zur Verfügung gestellt werden, können Mehrspurigkeiten beseitigt und damit Kosten gespart werden. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 80 Prozent der benötigten Leistungen in diese Architektur integriert werden könnten. Es handelt sich dabei um ein Großprojekt im zweistelligen Millionenbereich. [4] Eine Pilotphase mit ausgewählten Applikationen ist für den kommenden Frühling geplant. Eigentlich eine gute Sache, deshalb unterstütze ich das Vorhaben. Sorgen bereitet mir allerdings die fehlende Koordination in der Zeitplanung der beiden Projekte. Einerseits soll ich mein Projekt Ende Januar 2008 abschließen, andererseits werden ausgewählte Komponenten der generischen Architektur erst im März 2008 verfügbar sein. Wie soll das gehen? Auch fällt mir auf, dass die generische Architektur unsere Bedürfnisse nur mangelhaft abdeckt. Und nicht zuletzt fehlen mir funktionsfähige Prototypen, mit denen ich Erfahrungen sammeln könnte. Rückfragen beim Projektleiter und bei Mitarbeitern führen schließlich zu noch mehr Irritationen. »Ach, Castem soll in unsere Architektur integriert werden? Davon wissen wir nichts.« Das stehe so in der Spezifikation, entgegne ich.

Leider sind das nicht die einzigen Probleme. In zahlreichen Gesprächen mit den für das Register Verantwortlichen des BFS können viele meiner Fragen nicht beantwortet werden. Vieles bleibt diffus. Frage ich nach der Klärung offener Punkte, werde ich immer wieder auf später vertröstet. Und dann kommen noch Fragen zur Umsetzung: Mit welchen Tools sollen denn die Prozesse implementiert werden? Egal, wen ich von den technischen Leuten frage, ich bekomme von jedem eine andere Antwort. Ich werde auch hier alleine gelassen. Mit der Zeit ergeben sich Probleme bei der Berichterstattung. Da ich mit dem Projekt nicht vorwärtskomme, muss ich einen erheblichen Teil meiner Arbeitszeit unter der Kostenstelle Administration verbuchen. Das führt zu Konflikten mit der Buchhaltung. Ich solle nicht so viel Arbeitszeit auf die Administration verbuchen, herrscht mich die Sekretärin an.

Neben den technischen und konzeptionellen Mängeln fallen mir Unklarheiten in den Zuständigkeiten im Projekt auf. Wer ist für welche Resultate verantwortlich? Muss ich das technische Konzept schreiben? Ich dachte, dafür hätten wir Architekten? Ich bin als Datenbankspezialist angestellt worden und es kann nicht sein, dass ich grundsätzliche Entscheidungen treffen muss, ich habe schließlich keine Führungsfunktion.

Trotz unklarer Verantwortlichkeiten, unvollständiger Spezifikation, einer generischen Architektur (die nicht zur Verfügung steht, an der ich mich aber orientieren soll) und nicht zuletzt dem Einsatz von Technologien, bei denen mir die Erfahrung fehlt, versuche ich mich im Projekt vorzuarbeiten. Mir ist klar, dass ich irgendwann Nägel mit Köpfen machen muss. Ich schiebe das aber vor mir her und warte das Ende der Probezeit ab. Erst die definitive Anstellung wird mir die nötige Sicherheit geben, um die unvermeidlichen und dringenden Entscheidungen zu treffen.

DIE ENTSCHEIDUNG - BEGEGNUNG MIT EINEM KANNIBALEN

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