Читать книгу Wünsch dich ins große Wunder-Weihnachtsland Band 1 - Martina Meier - Страница 24

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Jan, Opa und die heilige Familie

„Opa, bist du noch wach?“ Frierend stand Jan vor Opas Bett. Draußen heulte ein wütender Wintersturm und rüttelte mit aller Kraft an den Rollläden. Es klapperte so laut, dass er es in seinem Zimmer einfach nicht mehr ausgehalten hatte und über den dunklen Flur zu Opas Zimmer geschlichen war. Ausgerechnet heute waren Papa und Mama zu einer Betriebsweihnachtsfeier gegangen. Vorsichtig näherte er sich dem Bett, aus dem leises Schnarchen zu hören war. Bei jedem Atemzug zitterte Opas Schnurbart, der ihm wüst über den Mund wucherte und mit dem langen, grauen Kinnbart ein undurchdringliches Dickicht bildete. In letzter Zeit war Opa häufig grantig und verließ nur noch selten sein Zimmer. Jan wusste warum. Papa wollte Opa die geliebten Hühner verbieten und hatte schließlich sogar gesagt, so ginge es nicht weiter, Opa müsse ins Altersheim, Weihnachten hin oder her. Jan kitzelte Opa an der Nasenspitze. Sein Großvater schnarchte kurz auf und drehte sich vom Rücken auf die Seite. „Opa, wach auf!“ Er schüttelte ihn.

„Was … was ist los?“ Opa fuhr erschreckt hoch und rieb sich die Augen. „Ach, du bist es“, murmelte er und gähnte.

„Ich hab Angst, darf ich bei dir bleiben? Du wolltest mir doch was über dein Bild erzählen“, sagte Jan.

Opa sah ihn verwundert an. „Mitten in der Nacht? Hat das nicht bis morgen Zeit?“, knurrte er.

„Bitte, ich kann nicht schlafen“, antwortete Jan.

Opa seufzte, schlug das schwere Federbett zurück und fuhr mit den Füßen in seine großen Filzpantoffel. Ächzend erhob er sich von der Bettkante und schlurfte zu dem roten Lehnsessel. „Na, dann komm mal her“, sagte er. Schnell setzte sich Jan auf Opas Schoß. Sie kuschelten sich in die braune, flauschige Decke, dann schaltete Opa die Stehlampe ein und richtete sie auf das Bild. Eingefasst in einen goldenen, breiten Rahmen zeigte es eine junge Frau, die sich mit einem Buch in der Hand vorsichtig über ein Kind beugt. Es liegt in einer Korbwiege und schläft.

„Bist du das als Baby?“, fragte Jan.

Opa lachte. „Nein, das ist das Jesuskind. Die Frau ist seine Mutter Maria und der Mann im Hintergrund ist Josef. Das Bild ist von dem Maler Rembrandt, der hat vor ungefähr vierhundert Jahren in Holland gelebt.“

„Und wer sind die dicken Kinder?“

„Das sind keine Kinder, das sind Engel“, brummte Opa, „siehst du nicht die Flügel? Dick war damals schick, Rembrandt hat alle so gemalt.“ Jan grinste. Er dachte an Papa, der ging dreimal die Woche ins Fitnessstudio, weil er etwas gegen seinen Bauch tun wollte. Auf einmal hatte Jan eine Idee. Engel sollten Menschen doch beschützen. Also müssten sie auch Opa vor dem Altersheim beschützen können. Sehnsüchtig schloss er die Augen, er wollte auf alle Weihnachtswünsche verzichten, wenn Opa nur bei ihm bliebe. Bitte, bitte, liebe Engelkinder, Opa darf nicht weggehen, dachte er inständig.

Dann geschah etwas Merkwürdiges. Für einen Moment wusste Jan nicht, wo er war. Er wollte gerade um Hilfe rufen, als er feststellte, dass er auf einem Stuhl in einem Maleratelier saß. Jan sah sich um. Es war klein, und obwohl es draußen stockfinster war, brannte kein elektrisches Licht. Das Atelier wurde mit Kerzen beleuchtet und im Kamin prasselte ein Feuer. Überall standen Bilder herum, Farbtöpfe und Behälter mit großen und kleinen Pinseln. Es roch muffig, als wäre hier schon lange nicht mehr gelüftet worden. Der Maler stand mitten im Raum an seiner Staffelei und drehte Jan den Rücken zu. Vor ihm, auf einem Sessel, saß zu seiner Überraschung Opa. Er trug eine rote Mütze, einen langen, glänzenden Mantel und hielt einen Holzstock in der linken Hand, mit dem er sich auf dem Boden abstützte. „Darf ich Ihnen meinen Enkel Jan vorstellen?“, sagte Opa, während er sich langsam von seinem Sessel erhob. Der Maler drehte sich um, er trug ein schwarzes Gewand und ebenfalls eine Kopfbedeckung, allerdings eine weiße. Darunter quollen graue, lockige Haare hervor, die ihm fast bis auf die Schultern fielen. Freundlich sah er Jan an.

„Das ist Rembrandt“, erklärte Opa lächelnd, „er malt nicht nur Engel, sondern auch alte Männer.“

„Guten Tag, ich bin erfreut dich kennen zu lernen, junger Herr“, sagte Rembrandt mit tiefer Stimme, „dein Großvater hat mir schon von dir erzählt.“

Mit offenem Mund starrte Jan den Maler an. Hatte Opa nicht gesagt, er hätte vor vierhundert Jahren gelebt?

„Da staunst du, was? “, grinste Opa. „Wir befinden uns im siebzehnten Jahrhundert, in Rembrandts Atelier.“

Jan riss die Augen auf. „Und warum siehst du so komisch aus, Opa?“, fragte er.

„Weil ich gekleidet bin wie zu Rembrandts Zeiten. Ich glaube, ihm gefällt mein Gesicht mit dem Bart, deshalb malt er mich.“

Jan nickte. „Dann hast du die dicken Engelkinder gemalt?“, sagte er zu Rembrandt.

„Wieso dicke Engelkinder? Wovon sprichst du?“ Der Maler runzelte die Stirn. Opa erzählte ihm von dem Bild in seinem Zimmer.

„Meine heilige Familie“, bestätigte Rembrandt, „aber die Engel sind nicht dick, sie sind höchstens gut gebaut. Warum interessierst du dich dafür?“

„Können Engel meinen Opa vor dem Altersheim beschützen?“, druckste Jan und sah verlegen zu Boden. „Ich will nicht, dass er weggeht.“

Opa war gerührt. Rembrandt strich Jan tröstend über den Kopf. „Sei ganz beruhigt, ich glaube fest daran, dass Engel dazu fähig sind, aber …“, und dabei hob er warnend seine rechte Hand, „Menschen müssen auch ihren Beitrag leisten.“

„Und was soll ich tun?“, fragte Jan beunruhigt.

„Du hast schon genug getan“, entgegnete Rembrandt, „dein Wunsch hat dich und deinen Großvater zu mir ins Atelier gebracht. Also glaubst du fest daran, etwas verändern zu können. Das ist wichtig.“ Dann sah er Opa an. „Ihr scheint jedoch eher ein Zweifler zu sein. Ihr solltet Euren Enkel zum Vorbild nehmen, sprecht endlich mit Eurem Sohn.“

Beschämt blickte Opa zu Boden, er wusste sofort, was Rembrandt meinte. Immer wieder hatte er sich mit Jans Vater gestritten, nicht nur über die Hühner. Papa wollte nicht, dass sie frei im Garten herumliefen, weil sie Löcher in den Rasen scharrten, und im Haus durften sie erst recht nicht sein. Aber Opa war es egal, ihm hatte es sogar Spaß gemacht, Papa und Mama damit zu ärgern.

„Was um Himmels willen habt ihr euch dabei gedacht? Hühner im Garten, meinetwegen, … aber sogar in der Küche und in Eurem Schlafgemach? Das ist selbst in unserer Zeit unmöglich, obwohl wir genügend Tiere halten, die frei herumlaufen.“ Rembrandt schüttelte missbilligend den Kopf. „Eigentlich geht es zwischen Euch und Eurem Sohn doch gar nicht um die Hühner“, fuhr er fort. Erstaunt blickte Jan den Maler an. Woher wusste dieser Rembrandt soviel über Opa und Papa?

„Ihr seid wahrhaftig nicht ganz unschuldig an dem Streit, Ihr müsst lernen, Euren Sohn so anzunehmen, wie er ist. Wenn Ihr wirkliche Größe zeigen wollt, versöhnt Ihr Euch mit ihm, schließlich ist bald Weihnachten. Jetzt setzt Euch wieder hin, sonst werde ich mit dem Bild nie fertig.“ Seufzend nahm Opa wieder seine Haltung auf dem Lehnsessel ein. Rembrandt ist ganz schön streng, dachte Jan, aber eigentlich hat er recht. Wenn Opa verspricht, die Hühner im Käfig zu lassen, und sich mit Papa wieder verträgt, muss er vielleicht gar nicht ausziehen. Jan machte es sich so bequem wie möglich und beobachtete den Maler noch lange bei der Arbeit. Keiner sprach mehr ein Wort, es war alles gesagt.

„Guten Morgen, mein Junge, aufstehen, Frühstück ist fertig.“ Langsam öffnete Jan die Augen. Mama lächelte ihm ins Gesicht. Er wunderte sich, denn er konnte sich gar nicht erinnern, wie er aus Rembrandts Atelier wieder in sein Bett gekommen war. Als er die Küche betrat, saßen Opa und Papa am Tisch und unterhielten sich, das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Am Adventskranz brannte die zweite Kerze.

„Na, gut geschlafen?“, schmunzelte Opa. Jan nickte. „Ich nicht“, meinte Opa, „ich musste noch lange an Rembrandt denken.“ Dabei kniff er Jan ein Auge zu.

Mathias Meyer-Langenhoff, Jahrgang 1958, ist Diplom-Pädagoge und Lehrer für Pädagogik und Psychologie an Berufsschulen.

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