Читать книгу Wünsch dich ins große Wunder-Weihnachtsland Band 1 - Martina Meier - Страница 41

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Anna und die zahmen Hühner

Es geschah alles vor ungefähr vierzig Jahren. Anna war damals etwa so alt wie du heute und lebte mit ihrer Familie in einem kleinen bunten Haus. Hinter dem kleinen Haus lag ein kleiner Hof und in dem kleinen Hof spielte das Mädchen mit ihren besten Freundinnen: mit Erna, Olga und Mona – drei schneeweißen Hühnern. Der Großvater hatte die drei Federtiere im Frühling gekauft. Und schon nach wenigen Wochen folgten sie ihrer menschlichen Spielkameradin auf Schritt und Tritt. Anna brauchte den Hof nur zu betreten – schon kamen Erna, Olga und Mona freudig angerannt. Sie hopsten wie wild gewordene Feder-Bälle vor den Füßen des Mädchens herum. So lange, bis jedes Tier die gebührliche Menge Streicheleinheiten bekommen hatte. Dann liefen sie laut gackernd hinter ihrer Anführerin quer über den Hof bis zu einer hohen Bretterbrücke, die das Kind für die drei Hühner gebaut hatte. Zuerst hatte Anna ein bisschen getrickst und Leckereien auf die Bretter gelegt, um den Mut ihrer gelehrigen Freundinnen anzustacheln. Doch schon nach kurzer Zeit brauchte sie bloß noch mit der Hand auf die Holzbrücke zu klopfen, schon kamen die drei angeflitzt: Die forsche Erna vorneweg, die abenteuerlustige Olga hinterdrein und zuletzt die verträumte Mona.

Den größten Spaß beim gemeinsamen Spiel gab es jedes Mal bei der Spazierfahrt mit dem Puppenwagen. Diese „Nummer“ war auch der Höhepunkt jener spätsommerlichen Zirkusvorstellungen gewesen, die Anna damals ab und an für die Familie veranstaltete: Mona lag behaglich glucksend im Wagenkörbchen auf dem Rücken, Olga wippte ausgelassen gackernd auf dem Schiebegriff auf und ab wie ein Stehaufhühnchen und die verwegene Erna balancierte freudig spektakelnd unten in der Gepäckablage, Beine und Flügel verwegen gespreizt. So waren sie über den Hof gerast, dass es nur so stiebte – begleitet vom Johlen der Brüder, vom Schmunzeln der Eltern und vom Kopfschütteln der Großeltern.

Dann war der Herbst mit seinen wilden Winden übers Land gefegt und ein eisiger Winter ließ Mensch und Tier vor Kälte fast erstarren. Anna, Erna, Olga und Mona blieben weiter unzertrennlich. Einige Tage vor Weihnachten mahnte die Mutter Anna beim abendlichen Bettkuscheln: „Mädchen, häng dein Herz doch bloß nicht so an diese Hühner! Hockst den halben Tag im Stall, als wolltest du selbst eines werden.“

„Was hast du denn plötzlich gegen die drei?“, hatte sich Anna gewundert.

„Ich habe nichts gegen sie. Im Gegenteil. Aber es sind nun mal nur Hühner und es ist einfach nicht gut, wenn du dich so stark mit ihnen anfreundest. Warum spielst du nicht mit der Mia von nebenan? Sie ist so ein nettes Mädchen.“

„Mia – ein nettes Mädchen? Von wegen! Die kann meine zahmen Hühner nicht leiden. Schmeißt mit Steinen nach ihnen, jagt sie quer über den vereisten Hof und lacht sich noch schief, wenn sie mit ihren Krallenfüßen auf den Eispfützen ausrutschen. Und so eine nennst du nett!“

Die Mutter hatte ihrer Tochter über den Kopf gestrichen und sie stumm und fest gedrückt.

Dann war der Nachmittag vor Heiligabend gekommen. Die Welt war mit einer zarten weißen Watteschicht Schnee bedeckt, die den Hof in seltsame Stille und unschuldiges Licht zu tauchen schien. Gerade als Anna wieder hinaus in den Stall zu Erna, Olga und Mona gehen wollte, kreuzte der Großvater ihren Weg.

In diesem Moment trat auch die Mutter hinzu und sprach zu dem Alten gewandt: „So, sag du es ihr! Ich kann es nicht.“

Worauf der Großvater trotzig brummte: „Was gibt’s da zu erklären. Ich geh jetzt die Hühner schlachten. Für Weihnachten. Eins für euch, eins für deine Tante und eins für Großmutter und mich.“ Mit entsetztem Blick hatte Anna auf das Beil in Großvaters Hand gestarrt und in jenem Augenblick begriffen, dass die drei Hühner, mit denen sie im Jahr zuvor gespielt hatte, nicht – wie ihr Mutti erzählt hatte – vom Fuchs geholt worden waren, sondern dass sie eins davon zu Weihnachten gegessen hatte. Anna wurde noch nachträglich übel. Ob vor Ekel oder vor Zorn war ihr nicht ganz klar. Aber das war eigentlich auch egal.

Sie riss sich aus Mamas Umklammerung und begann auf Großvaters Rücken einzutrommeln – um Gnade für die zahmen Hühner bettelnd. Der Großvater jedoch hatte sich nur umgedreht und gesagt: „Schluss, Kind. Das verstehst du nicht, das ist Familienweihnachtstradition seit fast hundert Jahren. Das war so und das bleibt so.“

„Du und deine Tratzion, oder wie das heißt“, hatte Anna ihm wütend hinterher geschrieen. „Wenn die Tratzionen zu Weihnachten so grausam sind, dann hasse ich Weihnachten! Und dich auch!“ Sie hatte mit ihren kleinen Händen Großvater verzweifelt an der Jacke festgehalten und versucht, ihn am Gehen zu hindern. Aber Großvater war ein kräftiger Mann mit einem kräftigen Willen. So konnte Anna nur mit winzigen Trippelschritten hinterher stolpern, während er mit seinen großen Stiefeln mit großen Schritten auf den Hühnerstall zustapfte.

„Aber Großvater, du kannst doch nicht einfach Erna, Olga und Mona ermorden“, hatte das Mädchen geschluchzt.

„Ich ermorde sie nicht, ich schlachte sie. Und Tiere werden nun mal zum Schlachten gehalten!“ Als Anna merkte, dass es keine Chance gab, den Großvater umzustimmen, da war sie davongerannt. Nur zurück ins Haus! Sie hatte ihren Kopf unter dem Kopfkissen vergraben und hemmungslos geweint. Trotzdem meinte sie, Ernas und Olgas und Monas todesängstliches Gackern und Flattern zu hören. Bis plötzlich Stille eingetreten war. Eine schreckliche Stille. Totenstille. Anna hatte zu Weihnachten keinen Bissen vom „Festbraten“ gegessen. Die Brüder und die Eltern ebenfalls nicht. Und seltsamerweise waren auch die Großeltern von der hundertjährigen Weihnachtshühnerbratentradition abgewichen. Sie hatten die tote Olga dem Nachbarn geschenkt.

Als ein Jahr später das grüne Wiesenmeer um Annas Häuschen vom Novembereis überzogen wurde und still unter einer dünnen Schneedecke verschwand, als ringsum die Freude auf Weihnachten um die Hausecken zu summen begann, da war Anna traurig geworden. Und je näher das große Fest kam, desto mehr vermischte sich Annas Traurigkeit mit Angst. Mit Angst vor den Geräuschen am Vorweihnachtsabend. Und mit Angst vor der Stille, die dann kommen würde. Der Großvater hatte nämlich auch im Frühling dieses Jahres wieder drei neue Hühner auf den Hof geholt. Anna hatte sich geschworen, nie wieder so eine tiefe Freundschaft mit ihnen anzufangen wie mit Erna und Olga und Mona. Aber es war beim festen Vorsatz geblieben. Irgendwie schienen Hühner auf das Mädchen zu fliegen. Kein Wunder. Denn Anna flog genauso auf Hühner …

Apropos Wunder. Am Nikolaustag jenes Jahres, als Anna mit Lore, Lene und Lise ein neues Kunststück auf dem Eis probte, da kam plötzlich der Großvater hinzu und reichte ihr verlegen einen Reifen: „Hier für deine wilden Hühner. Vielleicht bringst du sie ja dazu, dadurch zu flattern. Und nur damit du’s weißt: In diesem Jahr beginnen wir eine neue Weihnachtstradition. Es gibt Hirschbraten zu essen …“

Sylvia Eggert ist 46 und lebt mit ihrer sechsköpfigen Familie in einem uralten Häuschen in Sachsen. Sie ist Gründerin der Werkstatt für kreatives Schreiben „wortgefunkel“.

Wünsch dich ins große Wunder-Weihnachtsland Band 1

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