Читать книгу Wünsch dich ins große Wunder-Weihnachtsland Band 1 - Martina Meier - Страница 31
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Das Weihnachtsei
Als der kleine Philip Botterblom an einem der letzten Schultage vor den Weihnachtsferien nach Hause kam, saß seine Mutter auf dem riesigen Küchentisch unter dem noch ungeschmückten Tannenbaum und gackerte wie ein Huhn.
„Was gackerst du denn so?“, fragte er sie kopfschüttelnd. „Und warum sitzt du auf dem Tisch?“
Philips Mutter nickte heftig, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein erneutes Gackern heraus, während Maunzel, die getigerte Katze, reglos auf der Fensterbank saß und ein wenig ratlos nach draußen auf die schneebedeckte Wiese blickte, auf der die sieben braungelben Hühner der Botterbloms pickend und gurrend herumstolzierten, während der alte Hahn es sich abseits auf dem Baumstumpf, der dunkel aus dem Schnee ragte, bequem gemacht hatte.
Philip nahm langsam seinen Tornister von der Schulter, dachte einen Moment lang scharf nach und griff dann, ohne seine Mutter aus den Augen zu lassen, zum Telefon. Rasch tippte er die Handy-Nummer seines Vaters ein. Philips Vater war ein bekannter und vielbeschäftigter Tierdoktor und hatte wie jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit besonders viel zu tun. Jeden Tag inspizierte er von morgens bis abends auf den umliegenden Bauernhöfen die gerupften, kopflosen Gänse und Enten, und im städtischen Schlachthof nahm er unzählige fette Schweinehälften und blutige Rinderfilets unter die Lupe.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Philip die arg gehetzt klingende Fragestimme seines Vaters vernahm. „Botterblom?“
„Hier auch!“, rief Philip in den Hörer. „Hallo, Papa!“
„Ah, Philip, was ist denn? Du weißt doch, dass ich ...“
„Ja, ja, hör’ zu!“, unterbrach Philip ihn. „Die Mama sitzt auf dem Küchentisch und gackert wie ein Huhn.“
Am anderen Ende der Leitung war es mindestens vier Sekunden lang mucksmäuschenstill, dann hörte Philip ein heftiges Husten, gefolgt von drei in den Hörer gekrächzten Worten. „Auf dem Küchentisch?“
„Ja.“
„Und sie gackert wie ein Huhn?“
„Ja.“
„Hm, äh, gibst du sie mir bitte einmal?“
Philip reichte seiner Mutter das Telefon, was problemlos möglich war, denn es handelte sich um ein schnurloses Gerät.
„Ramona?”
„Putputputputput!“, gackerte die Mutter.
Der Vater redete so laut, dass Philip seine Worte mühelos mithören konnte.
„Ramona?“, fragte er besorgt. „Putputput, Ramona? Kannst du mich verstehen?“
„Putputput!“, bestätigte die Mutter.
„Ramona, meine Liebe! Putputput! Ich ahne schon, was passiert ist!“
„Putputput!“, gackerte die Mutter aufgeregt.
„Ja, ja, mein Schatz, du hast die Tüten verwechselt! Die Tüten! Kurz vor Weihnachten passieren den Menschen die verrücktesten Sachen! Du hast ganz einfach die Tüten verwechselt!“
Und dann war es aus mit Papa Botterbloms verständiger Geduld. Wütend schimpfte er los: „Ja, hast du denn keine Augen im Kopf!? Du kannst doch lesen! Wie kann man denn nur die Tüten verwechseln!? Jetzt haben wir die Bescherung! Du wirst am Ende wohl ein Ei legen müssen! Und ich habe gedacht, das passiert nur den dummen Bauerntrampeln!“
„Putputput!“, gackerte die Mutter verzweifelt und ließ, von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt, den Hörer fallen. Im letzten Moment konnte Philip ihn auffangen.
„Hallo? Putputput? Ramona, putputput!“, rief der Vater. „Bist du noch dran?“
Philip hielt den Hörer dicht an sein Ohr. Die Stimme des Vaters klang jetzt recht kläglich, und zwischen den Worten schnaufte er wie der alte Weihnachtsmann, der am Heiligen Abend die Geschenke brachte.
„Ich bin es, Papa!“, sagte Philip schnell.
„Philip! Hör’ zu! Die Mama hat sich heute Morgen versehentlich Hühnerfutterkörnchen statt Müsli-Mix in den Quark gerührt! Sie muss jetzt so lange auf dem Tisch sitzen und gackern, bis sie ein Ei gelegt hat. Das kann sehr schnell gehen – das kann aber auch noch bis Weihnachten dauern!“
Die Vorstellung, dass seine Mutter bis Weihnachten gackernd auf dem Küchentisch sitzen würde, fand Philip ziemlich komisch, und mit Mühe unterdrückte er ein Lachen.
„Philip?“, quäkte der Vater. „Bist du noch am Apparat, Philip?“
„Ja, ja!“
„Pass’ auf, Philip, es gibt allerdings ein zuverlässiges Gegenmittel.“
„Gegenmittel?“
„Ja, ja, Junge! Hör’ zu! Du gibst der Mama jetzt sofort ein paar von Maunzels feinen Breckies! Die Dose steht auf der Fensterbank. Wenn sie die Breckies gegessen hat, wird sie zwar in den höchsten Tönen miauen, hört aber wenigstens auf zu gackern und muss auch kein Ei mehr legen! Hast du mich verstanden?“
„Klar, Papa!“, sagte Philip und dachte gar nicht daran, Maunzels Lieblingsbreckies an seine Mutter zu verfüttern. Wenn sie so doof ist, dachte er insgeheim, sich Hühnerfutter statt Müsli in den Quark zu tun, dann soll sie gefälligst auch gackern und Eier legen und bis Weihnachten auf dem Tisch sitzen.
Er stellte rasch das Telefon in die Halterung zurück und marschierte zum Kühlschrank. Es war eines dieser großen amerikanischen Geräte, die auf Knopfdruck sogar kleingehackte Eisstückchen ausspuckten. Vor Weihnachten war der Kühlschrank immer vollgestopft mit den köstlich-sten Sachen: mit himbeerrotem Wackelpeter, duftender Zitronencrème, feinem Roastbeefaufschnitt, dicken rötlichen und dünnen bräunlichen Würstchen, allerlei Pasteten, Käsekuchen und dergleichen Leckereien mehr.
Wenn er mittags aus der Schule kam, hatte er Hunger wie ein Wolf, und das, obwohl er in der großen Pause mindestens ein riesiges Schinkenbaguette und in jeder kleinen Pause eine Nussecke verdrückte. Aber heute war es in der Schule auch besonders anstrengend und hektisch gewesen. Eine ganze Religionsstunde harter Arbeit hatte es ihn gekostet, um mit der Zirkelspitze die Seitenansicht von Papas neuem Cabriolet in die Furnierholzplatte seines Pultes zu ritzen. Zwölfmal hatte er danach zu Lisa Meinerzhagen „blödes Pferdegesicht“ sagen müssen, ehe sie endlich angefangen hatte zu heulen. Und bevor sich kurz vor Schulschluss Frau Hesses Stimme vor Ärger so richtig schön überschlagen hatte, hatte er unzählige Male so laut schreien und so schrill pfeifen müssen wie ein Amazonas-Papagei.
Gierig und in großer Vorfreude auf all die leckeren Sachen, die nun für ihn bereit standen, riss Philip die Kühlschranktür auf und steckte seinen Kopf in die gleißende Kälte.
Neben den Milchtüten stand im unteren Türfach eine große Flasche Cola. Sie strahlte ihn sofort herausfordernd an und flüsterte ihm verführerisch zu: „Komm schon, Philip, Lieber, nimm mich!“
Aus dem Kühlschrankhintergrund blinzelte ihm zwischen Gurkensalat und Pfeffersalami ein kristallenes Schälchen zu, das mit köstlich duftendem Müsli-Mix-Erdbeerquark noch gänzlich zur Hälfte gefüllt war, und gurrte lieblich: „Oh, Philip, allerliebster Philip, sieh mich nur an! Bin ich nicht zum Fressen schön?“
In Philips Ohren begannen tausend Glöckchen lieblich zu klingen, und der Chor der Engel schickte sich an, nur für ihn einen zuckersüßen Strauß bunter Weihnachtslieder zu trällern.
Philip warf einen raschen Blick über die Schulter und stellte fest, dass seine Mutter immer noch auf der Tischplatte saß und hilflos daran festklebte. Sie starrte ihn gackernd und ängstlich mit tellergroßen Augen an, ihr Kopf nickte dabei sinnlos auf und ab, als wolle ihr spitzer Mund unentwegt irgendwelche Körnchen aufpicken.
„Hoffentlich hört sie bald mal mit dem dämlichen Gegacker auf“, säuselte Philip vergnügt vor sich hin und widmete sich wieder dem eisgekühlten Schlaraffenland.
„Hallo, Cola!“, rief er entzückt, griff nach der Flasche und goss die braune Brause ungeniert in ein großes bauchiges Wasserglas, dass es nur so schäumte. Niemand würde ihn daran hindern, soviel davon zu trinken, wie er wollte.
Langsam und genüsslich leerte er das Glas bis auf den letzten Tropfen und ließ die Mutter auf dem Tisch nicken und picken und gurren und gackern. Er füllte das Glas gleich ein zweites Mal, um es nachher mit auf sein Zimmer zu nehmen. Dort würde er den ganzen Nachmittag Computerspiele spielen statt auf der dämlichen Blockflöte „Kling, Glöckchen, Klingelingeling“ und „Leise rieselt der Schnee“ zu üben. Blitzschnell drehte er den Kopf zur Seite und bedachte seine Mutter lautstark mit einem prickelnden Rülpser aus der Tiefe seiner Kehle, bevor er sich, bewaffnet mit einem silbernen Esslöffel, gut gelaunt über den Müsli-Mix-Erdbeerquark hermachte, der ihn schon die ganze Zeit über so schelmisch anblickte.
Aber kaum hatte er zwei dicke Happen davon in sich hineingelöffelt, da zog es ihn, wie von unsichtbaren Weihnachtsengelhänden gepackt, hinauf auf den Küchentisch direkt neben die Mutter. Sein Kopf verfiel in ein heftiges Nicken, und gleich darauf begann er laut zu gackern: „Putputputput! Putputputput!“
Und er gackerte und gackerte und pickte und nickte und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als wolle er gleich davonfliegen, doch er klebte mit dem Hosenboden unverrückbar an der Tischplatte fest.
Philip bekam eine riesige Angst. Verzweifelt gackerte er nach seiner Mutter, in der Hoffnung, dass sie ihm helfen könne, obwohl er ja wusste, dass sie genauso hilflos war wie er. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, und er war kurz davor, sein Missgeschick in einen Zusammenhang mit dem seltsamen Erdbeerquark zu bringen, als seine Mutter plötzlich in ihrer ganzen Größe vor ihm stand.
Sie gackerte nicht mehr, und sie hatte auch aufgehört zu nicken und zu picken. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie ein strahlend weißes Ei. Laut lachend schwenkte sie es über ihren Kopf und hielt es dann ihrem Söhnchen triumphierend unter die Nase. „So, mein Lieber!“, gluckste sie. „Das Weihnachtsei ist gelegt, und ich werde bestimmt nie wieder die Tüten verwechseln! Jetzt bin ich gespannt, ob kleine Hähnchen auch Weihnachtseier legen können!“
Philips Augen rollten wild, er nickte und pickte und gackerte, und ab und an entfleuchte ihm ein kleiner gackernder Rülpser, während seine Mutter sich vor Lachen kaum noch auf den Beinen halten konnte. „Du musst schon warten, bis der Papa heute Abend kommt, Philip! Er kennt vielleicht ein Gegenmittel!“
„Putputputput!“, gackerte Philip, nickte heftig und deutete mit zitterndem Zeigefinger unentwegt auf die leuchtend gelbe Breckies-Schachtel, die zwischen der schnurrenden Maunzel und dem feierlich funkelnden Adventskranz auf der Fensterbank stand.
„Und wenn nicht“, hörte er die Mutter sagen und beobachtete, wie sie schwungvoll die Kühlschranktür zuknallte und Maunzel ein Schälchen Breckies hinstellte, „dann kommst du über Weihnachten mitsamt dem Küchentisch in den Hühnerstall. Das kleine Jesuskindlein musste schließlich auch in einem Stall schlafen.“
Und so kam es, dass der kleiner Philip Botterblom an jenem Tag bis spät abends auf dem Küchentisch saß, riesige Angstaugen machte und ohne Unterlass gackerte, während die Mutter hinter seinem Rücken seelenruhig den Christbaum schmückte.
Als dann endlich sein Vater, der ehrwürdige Doktor Botterblom, abgekämpft nach Hause kam und sich von seiner Frau in allen Einzelheiten erzählen ließ, was vorgefallen war, verabreichte er dem kleinen Philip wortlos ein paar von Maunzels feinen Breckies. Kaum hatte der davon gekostet, hörte er auf zu gackern und sprang mit einem gewaltigen Satz vom Tisch. Ein Weihnachtsei hatte er nicht gelegt. Stattdessen entfuhr ihm nun jedes Mal, wenn er etwas sagen wollte, ein klägliches „Miau!“, und selbst der Blockflöte konnte er fortan nichts als diese fürchterlich jaulenden Katzentöne entlocken. Die Eltern lächelten sich vielsagend zu, zuckten mit den Schultern und schüttelten langsam und feierlich die Köpfe. „Immerhin musst du das Weihnachtsfest nicht im Hühnerstall verbringen!“, flötete die Mutter leise und fuhr ihrem Philip, der den Kampf gegen die Tränen nun endlich verloren hatte und lauthals schluchzte, mit sanfter Hand durchs Haar.
„Das gibt sich, Söhnchen!“, grunzte der weise Doktor und hielt die spitze Nase genüsslich in sein Rotweinglas. „Das verschwindet mit dem alten Jahr. Aber vielleicht finden wir ja auch vorher schon ein Gegenmittel. Vielleicht ...!“
Peter Klusen studierte Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften, er ist heute Oberstudienrat am Franz-Meyers-Gymnasium in Mönchengladbach.