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|13| I Einleitung Musik und Musikwissenschaft
ОглавлениеMusicorum et cantorum magna est distantia.
Isti dicunt, illi sciunt, quae componit musica.
Nam qui facit, quod non sapit, diffinitur bestia.
Regulae rhythmicae, nach 1025/26
Zwischen Musikern und Sängern gibt es einen großen Unterschied.
Diese sagen (singen), jene wissen, was die Musik zusammenfügt.
Denn wer etwas macht, das er nicht versteht, den bezeichnet man als Tier.
Dieser lateinische Dreizeiler aus dem frühen 11. Jahrhundert wird dem Musikgelehrten Guido von Arezzo zugeschrieben, der damit einen Missstand in der Musikpraxis seiner Zeit anprangerte. Er kritisierte die zahllosen Sänger (»cantores«) in Kirchen und Klöstern, die ohne jegliche Lesefähigkeit eine Melodie unreflektiert nachsangen, ohne zu verstehen, nach welchen Regeln sie aufgebaut war. Echte Musiker (»musici«) jedoch setzen sich nach Guidos Vorstellung nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch mit der Musik auseinander – eine Sichtweise, die sich in vielen seiner musiktheoretischen Werke widerspiegelt.
Auf den ersten Blick mag die Guidonische Sentenz in der heutigen Zeit an Aktualität eingebüßt haben, auf den zweiten Blick lässt sie sich aber geradezu als Wahlspruch der Musikwissenschaft begreifen. Musikpraxis und Musikwissenschaft werden nach wie vor häufig als Gegensatzpaar wahrgenommen. Das liegt vor allem daran, dass sie, zumindest in den deutschsprachigen Ländern, in der Regel auch institutionell voneinander getrennt sind. Während die Musikwissenschaft als geisteswissenschaftliches Fach ohne praktischen Anteil traditionell an den Universitäten angesiedelt ist, obliegt die Vermittlung der Musikpraxis, sei es Gesang oder Instrumentalspiel, Komposition oder Ensembleleitung, den Musikhochschulen. Und genauso wie sich in den Köpfen vieler Sänger und Instrumentalisten die Überzeugung eingenistet hat, Musikwissenschaftler seien nur deshalb Musikwissenschaftler geworden, weil sie die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule nicht bestanden hätten, pflegen |14| Musikwissenschaftler gegenüber praktischen Musikern den Vorwurf, diese würden vor lauter Üben die theoretischen und historischen Grundlagen ihrer Musik vernachlässigen – »nam qui facit, quod non sapit …«.
Natürlich ist diese Unterstellung heute noch genauso polemisch und zugespitzt wie vor 1000 Jahren, auch wenn mancher Musikwissenschaftsdozent an einer hiesigen Musikhochschule angesichts zahlreicher ausschließlich praktisch orientierter Instrumentalvirtuosen im Hörsaal beifällig mit dem Kopf nicken wird. Wie aus dem Gegensatz jedoch eine sich aufs Schönste befruchtende Beziehung werden kann, zeigt nicht zuletzt die historisch informierte Aufführungspraxis. An Institutionen wie der Schola Cantorum Basiliensis hat man es sich zur Aufgabe gemacht, wissenschaftliche Erkenntnisse über die ältere Musik in die Musikpraxis zu überführen, um etwa Musik des 18. Jahrhunderts so erklingen zu lassen, wie es sich die Zeitgenossen wohl vorgestellt haben: auf originalen Instrumenten oder historischen Nachbauten, mit historisch überlieferter Spieltechnik und nach unbearbeiteten, kritischen Notenausgaben. Die Historische Aufführungspraxis kann damit als Vorbild für das Zusammenwirken von Musikwissenschaft und Musikpraxis gelten, deren erklärtes Ziel es immer sein sollte, komplementär zueinander zu stehen, den Austausch zu suchen und zu pflegen, statt sich voneinander abzugrenzen.