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Die Rückenmarksreflexvorstellung
ОглавлениеDie Vorstellung einer im Nervensystem operierenden ‚Seele‘ oder eines dort wirkenden Empfindungprinzips, das sich nach dem Verlust des Enkephalons erhält, wurde von Prohàska aufgegriffen. Er ließ den Gedanken eines, allgemeinen Sensoriums‘ wieder aufleben, welches innerhalb der Ventrikellehre mit den lateralen Ventrikeln verbunden worden war, von ihm nun aber dem Gehirn und dem Rückenmark zugeordnet wurde.60 Indem sie den Zusammenhang zwischen Rezeption und Motorik auf der Rückenmarksebene klar herausstellte, beflügelte die Arbeit Prochàskas die Entwicklung der Reflexvorstellung maßgeblich. Dieser Zusammenhang drückt sich in folgendem von ihm stammenden Kommentar aus: „Weil also die prinzipielle Funktion des allgemeinen Sensoriums in der Umwandlung sensorischer Eindrücke in motorische besteht, kann man beobachten, dass diese Umwandlung stattfindet, ob sich der Geist ihrer nun bewusst ist oder nicht.“61 Jedoch gelang es auch ihm nicht, das Problem zu lösen.
Die Frage, wie Gehirn und Rückenmark an der Integrationstätigkeit des Nervensystems teilhaben, die das Verhalten begleitet, kam, wie gesagt, mit der Entdeckung der Nerven und ihrer Ursprünge in Gehirn und Rückenmark durch Galen und seine Nachfolger auf. Sie behielten den aristotelischen Gedanken bei, das vitale Pneuma werde im Herz erzeugt, waren aber aufgrund ihrer Entdeckung der Spinalnerven und wegen der Wichtigkeit der Unversehrtheit dieser Nerven für das motorische Verhalten genötigt, die aristotelischen Vorstellungen zu modifizieren. Galen behauptete, dass das vitale Pneuma, wenn es ins Gehirn eindringt, in psychisches Pneuma umgewandelt wird. Von dort wandere es sowohl über die kranialen Nerven und das Rückenmark als auch außerhalb der Spinalnerven abwärts, um die Muskeln zu aktivieren. Galen betrachtete das psychische Pneuma als eine Flüssigkeit, die entweder durch Hohlröhren in den Nerven vordringt oder das Substrat liefert für das Fließen einer Kraft – von irgendetwas, das der modernen Auffassung des Aktionspotenzials ähnelt. Descartes entwickelte Galens Konzeption wie gezeigt weiter, indem er das vitale Pneuma als Zusammensetzung feiner Blutpartikel beschrieb, die sich mit dem Erreichen des Gehirns in noch feinere verwandeln. Diese nannte er die ‚Lebensgeister‘. Die Entdeckung der Reflexe durch Willis warf die Frage auf, wie die Lebensgeister an den Integrationsleistungen des Nervensystems, die die Reflexe begleiten, teilhaben könnten. Die Schwierigkeit wurde noch von der Feststellung verschärft, dass auch kortexlose Lebewesen Reflexe zeigen können. Denn wie könnte in diesen Fällen die Herstellung der Lebensgeister, die von der Unversehrtheit des Gehirns abhängig ist, an der Hervorbringung des Reflexes durch das Rückenmark und seine angeschlossenen motorischen Nerven beteiligt sein, wenn das Gehirn fehlt? Die Lösung lieferte Luigi Galvani (1737–1798). Er zeigte, dass Nerven Elektrizität leiten können, ähnlich wie Metalldrähte voltaische Elektrizität leiten, und dass das Potenzial zur Erzeugung dieser Elektrizität in den Nerven selbst liegt.62 Sein Schlüsselexperiment zum Nachweis nervaler Elektrizitätsleitung bestand darin, die entblößte Rückenmark-Schenkel-Verbindung eines Frosches in einem verschlossenen Gefäß zu unterbrechen, und zwar mit Hilfe eines Drahts, der durch das Rückenmark und dann durch den oben am Gefäß befindlichen Verschluss geführt wurde; der induzierte Stromstoß erreichte den Boden des Gefäßes. Dann wurde ein Draht die Decke entlang gespannt, um die Ladung einer Reibungsmaschine aufzunehmen und zu dem Draht zu befördern, von dem das Rückenmark durchzogen war. Diese Apparatur zeigte eindeutig, dass immer dann, wenn die Maschine ansprang, die Schenkel zuckten. Hieraus folgerte Galvani, dass das Rückenmark und seine angeschlossenen Nerven Elektrizität leiten.63 Diese Entdeckungen machten deutlich, wie überflüssig die Annahme war, es müsse einen Gehirnspeicher für die vom psychischen Pneuma abstammenden und vom Rückenmark und seinen zugehörigen Nerven zur Kontrolle der Organe genutzten Lebensgeister geben. Sowohl das Rückenmark als auch die Nerven zeigten die Fähigkeit, die für die Auslösung von Reflexen benötigte Elektrizität gehirnunabhängig zu erzeugen.