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Bell und Magendie: Die Identifizierung sensorischer und motorischer Spinalnerven

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Wir haben die Verwirrung beschrieben, die im 18. Jahrhundert hinsichtlich der Reflexvorstellung noch immer bestand, und gezeigt, dass Whytt sich zur Erklärung der Reflexhandlungen gezwungen sah, die Rückenmarksfunktion mit einer Seelenkonzeption zu verbinden. Diese Schwierigkeit sollte bis Anfang des 19. Jahrhunderts Bestand haben, als es möglich wurde, zwischen den sensorischen und den motorischen Funktionen der posterioren und anterioren Wurzeln des Rückenmarks zu unterscheiden. Was einerseits Charles Bell (1774–1842) zu verdanken ist, der die anterioren Wurzeln als motorische identifizierte, und andererseits François Magendie (1783–1855), der die Vorstellung entwickelte, dass die posterioren Wurzeln sensorische sind. Viele Auseinandersetzungen rankten sich um die Zuschreibung dieser Entdeckungen.64

Es ist bemerkenswert, dass die Argumente für die Behauptung, die anterioren Wurzeln seien funktionell motorisch, weder auf die Seele noch auf das allgemeine Sensorium und ihre Verrichtungen irgendwie Bezug nahmen. Dass die Debatte zu diesen Fragen immer mehr auf solche Bezüge verzichtete und immer häufiger experimentelle Beobachtungen einbezog, hat eindeutige Gründe. Bells und Magendies Experimente schlossen eine Unterbrechung des Rückenmarks oder eine Aufhebung der Gehirntätigkeit aus, sodass die Fragen nach der Möglichkeit von Reflexen ohne die Mitwirkung des Gehirns nicht aufkamen. Ihre Forschung konzentrierte sich vielmehr auf die Effekte der Durchtrennung von Nerven, die von Gehirn und Rückenmark zu den peripheren Körperbereichen führen. Bell hatte sich selbst durch die Analyse bestätigt, dass die anterioren und posterioren Wurzeln in bestimmte Kolumnen des Rückenmarks übergingen, die mit dem Gehirn in Verbindung standen. So bestand kein Widerspruch zwischen der Vorstellung, die Seele sei nur im Gehirn angesiedelt (oder interagiere nur mit ihm), und der Tatsache, dass die Durchtrennung der Wurzeln die beobachteten Effekte hervorrief. Eine prägnante Passage legt die Vermutung nahe, dass Bell die integrative Kraft des Rückenmarks bei geköpften Tieren richtig verstanden hat: „Das Rückenmark hat eine große Ähnlichkeit mit dem Gehirn im Aufbau seiner grauen und medullären Substanz. Kurz gesagt, seine Struktur weist es als etwas aus, das kein bloßer Nerv ist, das unabhängig vom Gehirn über Eigenschaften verfügt.“65 In dieser Passage ist der Gedanke, dass eine Seele oder ein allgemeines Sensorium existiert, aufgegeben, und das, obgleich auch Tiere ohne Gehirne in die Betrachtung einbezogen wurden.

Bell scheint nirgends auf posteriore Wurzeln, die eine sensorische Funktion erfüllen, verwiesen zu haben. Dies könnte man durch den Umstand erklären, dass ein Großteil seiner Arbeit sich an betäubten Kaninchen vollzog. Bells Zeitgenosse Magendie war der Erste, der zwischen motorischen und sensorischen Nerven unterschied, und zwar mit Blick auf die anterioren und posterioren Wurzeln. Die Französische Akademie der Wissenschaften gibt in ihren Protokollen des Jahres 1822 bekannt: „Monsieur Magendie berichtet von der ihm vor Kurzem gelungenen Entdeckung, dass, wenn man die posterioren Wurzeln der Spinalnerven durchtrennt, nur die Sensibilität dieser Nerven aufgehoben ist, und wenn die anterioren Wurzeln durchtrennt werden, nur die auf ihnen beruhenden Bewegungen unterbleiben.“66 Diese Experimente begründeten die Gewissheit, dass es sich bei den posterioren Nerven um sensorische handelt.

Die Experimente von Bell und Magendie lieferten die Grundlagen für die Hypothese über die spinalen Wurzeln, die als Bell-Magendie-Hypothese bekannt geworden ist und in den folgenden Worten Magendies am prägnantesten zum Ausdruck kommt: „Es genügt mir momentan, als gesicherte Erkenntnis vorbringen zu können, dass die anterioren und posterioren Wurzeln der vom Rückenmark ausgehenden Nerven unterschiedliche Funktionen innehaben, dass die posterioren eher den Anschein erwecken, speziell mit der Sensibilität verknüpft zu sein, während die anterioren besonders mit der Bewegung in Verbindung zu stehen scheinen.“67

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