Читать книгу I don't like Mondays - Michael Behrendt - Страница 10
Falsch verstehen: ein Mechanismus mit Tradition
ОглавлениеGanz klar: Das Spiel mit Bedeutungen, das gewollt oder ungewollt zu Missverständnissen beim Publikum führt, ist nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfunden worden. Es kennzeichnet schon frühere Jahrzehnte und Jahrhunderte, ja sogar schon das Mittelalter. Teilweise resultierten Missverständnisse damals aus der Tatsache, dass Lieddichter sich auf Gepflogenheiten anderer Länder bezogen und Bedeutungsebenen anlegten, die ihr eigentliches Publikum einfach nicht nachvollziehen konnte. So verweist Anton Touber auf ein Stück des mittelalterlichen Dichters Heinrich von Veldeke, in dem dieser ein französisches Lied von Jaufre Rudel und die darin vorkommende romanische Tradition der Fernliebe, der amour de loin, parodierte. Für diese Parodie jedoch waren deutsche Ohren taub:
Aber war Veldekes Publikum wirklich imstande, diese Hinweise auf die romanischen Elemente nachzuvollziehen? Veldeke hatte das okzitanische oder französische Lied gehört oder gelesen; die Minnesänger vor Veldeke erwähnen die Fernliebe nicht. Wir haben es hier zu tun mit einem Phänomen, das öfter im deutschen Minnesang – und im übrigen Europa – vorkommt: die doppelte Rezeption des romanischen Gutes: die des deutschen Dichters und die seines Publikums. Der Dichter hörte oder las die okzitanischen oder französischen Lieder. Die Mehrheit des Publikums hat diese Bedeutungsvielfalt nicht erkannt; nur eine kleine Gruppe durchsah den doppelten Boden der Lieder.
Aber auch die spätere sogenannte „Kunstmusik“ barg Missverständnispotenzial, und das nicht erst in der Rückschau vom 21. Jahrhundert aus. Die Tricks und Kniffe der Komponisten dienten dazu, auch Teile des zeitgenössischen Publikums zu verwirren und zu Missverständnissen zu verleiten. Es waren vor allem Codes und versteckte Andeutungen, die hier zum Einsatz kamen, oftmals mit politischen Intentionen. So wurde etwa Ludwig van Beethoven vielfach für den verrückten 4. Satz seiner 1811/12 entstandenen 7. Sinfonie gerügt. Das Fehlen eines klaren Motivs und das fast schon karnevaleske Auf und Ab der Musik verstanden etliche Zeitgenossen als das misslungene Werk eines Unglücklichen oder, noch schlimmer, eines Irren. Dabei dürfte es sich unterschwellig um einen von Wellingtons Sieg über Napoleon inspirierten Aufruf des Komponisten zur Befreiung der Völker gehandelt haben.
Von Dmitri Schostakowitsch weiß man, dass er nach seiner „sex & crime“-lastigen Oper Lady Macbeth unter Druck des stalinistischen Regimes stand – und sich wenig später, 1937, mit seiner 5. Sinfonie rehabilitierte. Das Werk war so konventionell und so harmonisch strukturiert, dass auch der Staat zufrieden war. „Der Erfolg des Werkes“, schreibt Annelis Berger auf der Website des SRF – Schweizer Radio und Fernsehen, …
… war berauschend: Jubelnd erhob sich das Publikum nach der Premiere, öffentlich hiess es, Schostakowitsch sei endlich seine früheren Fehler losgeworden und beschreite einen neuen Weg, werde ein grosser sowjetischer Künstler, seine Sprache sei jetzt klar und einfach.
Was viele nicht bemerkten, regelrecht missverstanden: Gerade der Schluss des Werkes war so übertrieben komponiert, dass man ihn nicht wirklich ernst nehmen konnte. So funktionieren Zynismus und Ironie. Noch einmal Annelis Berger:
Das Licht, die Erlösung, ist der Schluss: ein glorioser Marsch, mit fortissimo schabenden Geigen, donnernden Pauken, jaulendem Blech. Den Jubel hat Schostakowitsch derart inszeniert, dass es schon fast wehtut. Ätzend, diese Lautstärke, erbarmungslos, diese Achtel, geschunden, die Membran der Pauke unter diesen Quarten-Schlägen. (…) Die Frage ist nur: Warum hat das Publikum damals gejubelt? Hat es sich tatsächlich vom Taumel dieses Schlusses verführen lassen? Oder hat es intuitiv gemerkt, dass da einer versucht, den Oberen ein Schnippchen zu schlagen, indem er den Jubel zur Farce verkommen lässt?
Auch Franz Schubert legte in seinen Gedichtvertonungen unterschiedliche Bedeutungsebenen an, die zu unterschiedlichen Analyseansätzen und Missverständnissen führten. Das gilt nicht nur für die Vertonung von Goethes beunruhigend ambivalentem Heidenröslein, sondern auch für die musikalische Umsetzung der Gedichte von Wilhelm Müller. So heißt es im „Kammermusikführer“von Villa Musica Rheinland-Pfalz zu dem 1827 komponierten Liederzyklus Winterreise:
Heute ist die Winterreise ein Denkmal des Kunstliedes, ein Standard, für den man die Erregung der ersten Hörer und des Komponisten erst wieder kreieren muß. Denn natürlich ist der Zyklus in den 170 Jahren seit seiner Entstehung von Deutungen und Interpretationstraditionen überlagert worden. Ihr Bogen reicht von einer Auffassung als politische Parabel des Metternich-Regimes bis zur vordergründigen Interpretation als romantische Liebesgeschichte.
Zu ergänzen wäre hier noch die Ebene der Auseinandersetzung Schuberts mit dem bevorstehenden eigenen Tod. Und wenn in einem Lied wie Mut Text und Musik von der Stimmung her völlig gegensätzlich angelegt sind, dann lässt das nicht nur auf ein mutwilliges Irritieren des zeitgenössischen Publikums schließen, sondern weist auch schon auf die Missverständnisse voraus, die die Rezeption mancher Songs des ausgehenden 20. Jahrhunderts und der heutigen Zeit prägen.