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Selektive Wahrnehmung 8 Als „Willkommenskultur“ noch ein Fremdwort war: Udo Jürgens, Griechischer Wein

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Achtung, hier kommt ein echter Ferienhit! Ach was: Hier kommt ein richtiges Sauflied! Eins, zu dem man sich echt die Kante geben und exzessiv abfeiern kann!!

Diese oder ähnliche Reflexe werden immer noch bei vielen Schlagerfans ausgelöst, wenn die ersten Töne von Griechischer Wein erklingen – und bis heute von Coversong-Interpreten und selbst erklärten Service-Websites beständig zementiert. Erst 2013 wieder erschien Griechischer Wein auf einer CD der Bikini Allstars mit dem Titel Die 50 größten Urlaubs-Schlager aller Zeiten, flankiert von Gassenhauern wie Azzurro, Er hat ein knallrotes Gummiboot oder Es gibt kein Bier auf Hawaii. Und das Internetportal „party-megahits.de“, das selbstverständlich auch über die besten Discofox- und Hochzeitslieder informiert, packt den Jürgens-Klassiker in eine Rubrik mit dem ansprechenden Namen „Sauflieder: Das sind die besten Trinklieder“ – zusammen mit Saufen von den Ärzten, dem Altbierlied der Toten Hosen oder Heute schütte ich mich zu von Karl Dall. Im Intro zur Rubrik heißt es verschwörerisch: „Ja, es klingt plump und ein wenig ordinär, aber es gibt einfach eine Reihe von Liedern, die perfekt zum Trinkgelage von uns Männern passen und Männerfreundschaften ein Leben lang begleiten. Liebe Damen, Ihr versteht das nicht!“

Der letzte Satz bringt es aber unfreiwillig auf den Punkt. Denn so manche Dame ist vermutlich heller als die Macher des Portals und kann völlig zu Recht nicht verstehen, warum hier Griechischer Wein in Begriffsfässern wie „Männerfreundschaft“ und „Alkoholexzess“ gelagert wird. In den Strophen des Songs berichtet ein Ich-Erzähler, wie er spätabends auf dem Nachhauseweg in der Vorstadt ein ihm fremdes Lokal betritt – offenbar das einzige, das noch geöffnet hat. Schnell wird klar, dass es sich bei ihm um einen Deutschen und bei den Betreibern und Gästen des Lokals um Südländer handelt: „Es war schon dunkel, als ich durch Vorstadtstraßen heimwärts ging/Da war ein Wirtshaus, aus dem das Licht noch auf den Gehsteig schien/Ich hatte Zeit, und mir war kalt, drum trat ich ein/Da saßen Männer mit braunen Augen und mit schwarzem Haar/Und aus der Jukebox erklang Musik, die fremd und südlich war/Als man mich sah, stand einer auf und lud mich ein.“

Der berühmte Refrain mit den Schlüsselworten „Griechischer Wein“ und „Blut der Erde“ ist dann wesentlich mehr als ein Lobgesang auf Alkohol und Partystimmung: Er weist die „Südländer“ als Griechen aus und gibt Einblicke in ihre Gefühlswelt – und die ist vor allem von Einsamkeit und Heimweh bestimmt: „Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde/Komm, schenk’ dir ein, und wenn ich dann traurig werde/Liegt es daran, dass ich immer träume von daheim/Du musst verzeih’n/Griechischer Wein, und die altvertrauten Lieder/Schenk noch mal ein/Denn ich fühl’ die Sehnsucht wieder/In dieser Stadt werd’ ich immer nur ein Fremder sein, und allein.“

Der Song erschien 1974, zu einer Zeit, als die sogenannten „Gastarbeiter“ ein großes Thema in Deutschland waren. Dass es in Griechischer Wein genau um diese Gastarbeiter geht, unterstreichen die weiteren Strophenzeilen. Darin erzählen die Griechen dem ungewöhnlichen Gast „von grünen Hügeln, Meer und Wind, von alten Häusern und jungen Frauen, die alleine sind/Und von dem Kind, das seinen Vater noch nie sah“. Auch der Gedanke an die Rückkehr in die Heimat ist ein Thema: „Sie sagten sich immer wieder: Irgendwann geht es zurück/Und das Ersparte genügt zu Hause für ein kleines Glück/Und bald denkt keiner mehr daran, wie es hier war.“ Es ist ein Gedanke, den, wie wir heute wissen, nur wenige in die Tat umsetzten.

Der Song drückt also alles andere aus als den Traum deutscher Familien von einem exotischen Ferienparadies oder den schlichten Spaß an männerbündlerischen Zechgelagen. Es geht vielmehr um Menschen, die wirtschaftliche Not in die Fremde getrieben hat. Und dort fühlen sie sich nicht unbedingt willkommen. Abends nach Feierabend setzen sie sich bei einem Glas Wein zusammen, um gemeinsam ihr Heimweh leichter zu ertragen.

Die Musik zu dem Song hatte Udo Jürgens bereits 1972 komponiert, doch es brauchte zwei Jahre und mehrere Anläufe mit verschiedenen Textern, um die eingängige Komposition mit den passenden Lyrics zu versehen. Michael Kunze hatte schließlich die Idee mit den griechischen Gastarbeitern und arbeitete auch die Verse und Refrainzeilen aus. Vielleicht liegt es an der weinselig-romantischen Grundstimmung, vielleicht an der Reizfigur Ralph Siegel, der als Produzent fungierte, dass der Song immer wieder auch kritisch unter die Lupe genommen wurde. Noch vergleichsweise mild und im Grunde um Verständnis bemüht äußert sich Julio Mendívil, der 2008 in seiner Abhandlung Ein Stück musikalische Heimat: Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager auch mit Blick auf Griechischer Wein festhält: „Mexikaner, Russen, Spanier, Griechen und Italiener werden besungen, um eine positive Darstellung deutscher Eigenschaften zu vermitteln.“ Im Gegensatz zur unglücklichen Welt der Fremden feierten Songs wie der von Udo Jürgens „die deutsche Lebensart als Zeichen des Wohlstands“. Im Rahmen seiner Songanalyse zitiert Mendívil aber auch noch wesentlich unbarmherzigere Kritiker. Von diesen werfen manche dem Jürgens-Hit vor, die Realität nicht adäquat wiedergegeben und die unangenehmen Aspekte der Hierarchie zwischen Deutschen und ungeliebten Gastarbeitern ausgeblendet zu haben. Andere unterstellen dem Song sogar die böse Behauptung, Gastarbeiter seien selber schuld, wenn sie sich in Deutschland nicht zu Hause fühlten, weil sie nicht in der Lage seien, auf das Entgegenkommen der Deutschen einzugehen. Und das scheint mir doch etwas übers Ziel hinausgeschossen. Denn immerhin schildert Griechischer Wein eine Begegnung zwischen unterschiedlichen Kulturen und gibt dem deutschen Publikum Einblicke in die Gefühlswelt griechischer Gastarbeiter. Und: Es sind doch die Griechen, die den deutschen Gast sogleich willkomen heißen – ihn zu sich an den Tisch bitten. Kommunikationswilliger geht’s also kaum! Nicht umsonst wurden Udo Jürgens und Michael Kunze seinerzeit zum Dank für ihr Lied vom griechischen Ministerpräsidenten empfangen.

So wird das Stück gleich von zwei Perspektiven aus missverstanden, und diese stehen sich diametral gegenüber: Die einen Hörer erkennen seine Tiefe nicht, die anderen werfen ihm eine schönfärbende bis bösartige Oberflächlichkeit vor. Was einen Song wie Griechischer Wein und einen Interpreten wie Udo Jürgens ausmacht, hat etliche Jahre später, am 30. September 2014, Tim Schleider auf „Stuttgarter-Zeitung.de“ auf den Punkt gebracht. Jürgens sei ein „Unterhaltungskünstler“ und Griechischer Wein ein Lied, das eine berührende Geschichte erzähle, heißt es da. Schleiders Fazit: „Die Franzosen nennen derartige Unterhaltungskunst ‚Chanson’. Und somit hätten wir weit jenseits des Schlagers die passende Bezeichnung für Udo Jürgens: Er ist ein Chansonnier deutscher Sprache. Nein, nicht ‚ein’, sondern der Chansonnier deutscher Sprache.“

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