Читать книгу I don't like Mondays - Michael Behrendt - Страница 11
Noch mehr Missverständnisse
ОглавлениеDiese Beispiele unterstreichen: Es gibt mehr Ursachen für Songmissverständnisse, als man denkt. Und es lassen sich problemlos weitere hinzufügen. Mangelnde Fremdsprachenkompetenz beispielsweise – oder schon das Nichtverstehen eines Dialekts. So weiß von den vielen deutschsprachigen Menschen, die kein Kölsch beherrschen, wahrscheinlich kaum jemand, worum es in Verdamp lang her, dem 1981 veröffentlichten Evergreen der Gruppe BAP, wirklich geht. Klar, mit „Verdammt lang her“ konnten alle Hörer irgendwie den Refrain übersetzen und dabei wehmütig an den letzten Besuch bei guten Freunden, an den Traumurlaub in Italien, den ersten Kuss, die letzte Meisterschaft des Lieblingsteams oder den schon ewig zurückliegenden größten persönlichen Erfolg denken. Ach, weißt du noch …, etwas in der Art. Doch in tiefster rheinischer Mundart dahingenuschelte Verse wie „Ich jläuv, ich weiß, ob du nu laut mohls oder leis/Et kütt drop ahn, dat du et deiß“ dürften sich letzlich nur waschechten Domstädtern tatsächlich erschlossen haben. „Ich war in ein winziges Kaff in Franken geflüchtet, wo ich am Rosenmontag Ruhe fand, ein Lied über meinen im Vorjahr verstorbenen Vater zu schreiben“, klärt BAP-Sänger Wolfgang Niedecken 35 Jahre später in einem Interview mit der Zeitschrift „GALORE“ auf. „Der Text besteht aus Bruchstücken eines Gesprächs, das ich gerne noch mit ihm geführt hätte. (…) Es ist schon interessant, wie anders das Lied in den Jahrzehnten danach von den meisten wahrgenommen wurde. Als nostalgische Hymne – und nicht als eine Erinnerung an einen gerade verstorbenen Vater.“ Die wahren Hintergründe der Lyrics von Verdamp lang her sind an sich schon komplex genug – in hartem Dialekt wirken sie endgültig kryptisch.
Zu den wichtigsten Ursachen für Songmissverständnisse gehört jedoch die selektive Wahrnehmung. Selek… wie bitte?! Gemeint ist auswählendes Hören. Das ist etwa dann der Fall, wenn uns der Refrain eines Stücks dermaßen ins Ohr geht, dass wir die Strophen überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen – und somit überhören, dass diese etwas gänzlich anderes, manchmal völlig Gegenteiliges formulieren. Aber Schwamm drüber, auch das ist menschlich und kann passieren. Fast möchte man sagen: Selbst dran schuld, lieber Song, warum prügelst du uns auch gerade diese Refrainverse so ins Ohr!
Problematischer wird es, wenn man zwar sämtliche Textteile eines Songs wahrnimmt und unmittelbar versteht, sie aber bedingungslos als 1:1-Abbildung der Gedanken und Gefühle des Songschreibers auffasst, als autobiografisch. Wir erinnern uns: die selbst ernannten „Crowologen“ im eingangs erwähnten Roman von Nick Hornby! Die Gründe für diese Art von Projektion sind verschieden. Entweder fühlt man sich einem Idol sehr nahe und sehnt sich vielleicht sogar nach ihm, will den Menschen dahinter durch und durch verstehen. Oder man hat einfach Lust an detektivischer Kleinarbeit, am vitabezogenen Spekulieren. In jedem Fall versucht man, nahezu alle Lyrics eines Künstlers zu nahezu allen biografischen Infos, die es über ihn gibt, in Beziehung zu setzen. Dann interpretiert man ein kryptisches Sprachbild als Anspielung auf den letzten Skandal, ein Liebeslied als Ode an diese oder jene konkrete Verflossene, einen zynischen Zweizeiler als Abrechnung mit den Medien – und lässt die eigentlichen Bedeutungsebenen völlig außer Acht. Dabei kennt man den Star doch überhaupt nicht persönlich, hat nicht den geringsten Einblick in sein Seelenleben. Und längst ist unter Songdeutern Konsens, dass Songs zwar autobiografische Bezüge aufweisen können, in erster Linie aber Kunstprodukte sind. Nicht mehr und nicht weniger.
Besonders problematisch, weil folgenschwerer für die Öffentlichkeit wird es allerdings, wenn ein Hit in vollster Absicht missverstanden wird. Wenn selektive Wahrnehmung und Projektion ganz bewusst erfolgen, um seine Botschaft für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Die Rede ist von der Vereinnahmung eines Songs aus politischen, aus ideologischen Gründen. In der krankhaften Extremvariante glaubt ein Hörer, der Song spreche unmittelbar zu ihm – und enthalte sogar konkrete Handlungsanweisungen …