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4.5 Anmerkungen zur reifen Persönlichkeitsorganisation

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Die Persönlichkeit auf reifem Strukturniveau zeichnet sich durch die Fähigkeit zum Wohlbefinden und zum befriedigenden Leben mit anderen aus. Sie ist den Anforderungen des Lebens und den üblichen Belastungen, die der Alltag mit sich bringt, gewachsen. Menschen mit einer reifen Persönlichkeit sind also nicht dazu disponiert, unter Belastungen eine neurotische Störung zu entwickeln.

Strukturelle Merkmale der reifen Persönlichkeit sind eine hinreichende Ichstärke, ein integriertes Selbst, integrierte Objekt- und Beziehungsrepräsentanzen und eine gut entwickelte Identität mit dem Gefühl der Kohäsion des Selbst.

Aber auch reife Persönlichkeiten haben natürlich ihre Eigenarten. Diese prägen die Individualität und machen Menschen erst voneinander unterscheidbar. Dabei sind Persönlichkeitszüge und Grundeinstellungen gegenüber dem Leben und anderen Menschen das Ergebnis vielfältiger Einflüsse. Hier spielen Anlagefaktoren eine besondere Rolle.

Doch erst die Überformung des ererbten Temperaments durch die Erziehung und andere Erfahrungen macht die spätere Persönlichkeit aus. Die überdauernden Eigenschaften eines Menschen, d. h. seine Persönlichkeit, sind letztlich Spuren seiner Entwicklung, die sich mit ihren Krisen und Konflikten in seine Konstitution eingegraben haben. Es sind dieselben Krisen und Konflikte, die auch die Entwicklung neurotischer Menschen prägen, und es sind dieselben Prozesse, z. B. Spaltung und Verdrängung, mit denen sie bewältigt werden.

Der Unterschied besteht darin, dass Menschen mit reifen Persönlichkeiten bessere Bedingungen und Hilfen bei der Bewältigung dieser Krisen und Konflikte gehabt haben, sodass diese keine Wunden und viel geringere Spuren in der Persönlichkeit hinterlassen haben.

Auch reife Persönlichkeiten wehren ab und tragen in ihrem Unbewussten verdrängte Erfahrungen und Konflikte mit sich. So ist der Unterschied zwischen neurotischer Persönlichkeit und nicht-neurotischer reifer Persönlichkeit kein grundsätzlicher, sondern ein gradueller.

Man kann daher auch für reife Persönlichkeiten eine Typologie begründen, die sich an den Typen der neurotischen Persönlichkeiten ( Kap. 3.2.3) orientiert. So kann man bei einem gesunden, durchaus kreativen Menschen z. B. eine hysterisch oder zwanghaft akzentuierte Persönlichkeit konstatieren. Der Gesunde ist aber in seiner Stabilität nicht gefährdet, selbst wenn er Erfahrungen macht, in denen sich seine frühen persönlichkeitsprägenden Erfahrungen wiederholen. Er ist auch nicht auf einige wenige konflikthafte Erfahrungen fixiert und verfügt über ein breites Spektrum flexibel einsetzbarer Bewältigungs- und Abwehrmechanismen. Diese erlauben es ihm, selbst schwierige Situationen ohne seelische Einbrüche zu meistern.

Allerdings hat auch die Belastbarkeit einer reifen Persönlichkeit ihre Grenzen. Chronische Belastungen, akute Krisen und insbesondere schwerwiegende Traumatisierungen können auch von Gesunden nicht unbegrenzt verarbeitet werden. Es kommt daher auch bei Gesunden zu seelischen und körperlichen Reaktionen, wenn ihre Belastbarkeit überschritten wird. Diese reaktiven und im Extremfall auch posttraumatischen Störungen können wie neurotische Störungen mit seelischen und körperlichen Symptomen aussehen ( Kap. 6 und Kap. 7). Es fehlt bei ihnen aber die neurotische Disposition in Form von Entwicklungsdefiziten und ungelösten unbewussten Kindheitskonflikten, die für neurotische Störungen maßgeblich sind. Neurotische Merkmale können allerdings die Bewältigung von Belastungen und Traumatisierungen behindern und dadurch den Krankheitsverlauf entscheidend beeinflussen.

Psychotherapie und Psychosomatik

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