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Fähigkeiten von Neugeborenen und Säuglingen50

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• Überraschend gutes Vermögen, gut zu sehen und zu hören, schon von Geburt an

• Unterscheidung der Stimme der Mutter von anderen Stimmen

• Koordination von Wahrnehmungen aus verschiedenen Sinnesbereichen, z. B. Sehen, Hören, Riechen, Fühlen

• Mimischer Ausdruck von mindestens sieben unterschiedlichen Primäraffekten ( Kap. 2.2.2)

• Unterscheidung der dynamischen Struktur von Affekten, z. B. plötzlich auftauchender/langsam anschwellender Affekt

• Einflussnahme auf das Verhalten der Bezugspersonen durch Mimik, Laute und Gesten

Die früheren Vorstellungen eines nur passiv ausgelieferten Neugeborenen sind durch diese Befunde überholt. Sie beschreiben den Neugeborenen als »kompetenten Säugling «51, der seine Entwicklung aktiv mitgestaltet. Er beschäftigt sich lustvoll mit seiner Umgebung und initiiert Interaktionen und Reaktionen durch die kommunikative Funktion, die seinen körperlichen und affektiven Äußerungen innewohnt.

Er erkennt visuell, reagiert auf Berührungen, auf Stimmmelodien und Stimmqualitäten, unterscheidet die Stimme der Mutter von anderen, erkennt ihren Geruch oder den ihrer Milch. Bald lernt er zwischen eigenen Lauten und Tönen von außen, zwischen Selbstberührung und Berührtwerden zu unterscheiden. Bald lernt er auch Abläufe kennen und schaut z. B. auf den Mund der Pflegeperson, wenn er eine Stimme hört. Er verfügt über ein überraschend differenziertes Gefühlsleben, das er seiner Umgebung mitteilt. Damit stiftet er Beziehung und nimmt Einfluss auf seine Bezugspersonen, ebenso wie er selbst von ihnen beeinflusst wird.

Trotzt der Autonomie dieser Prozesse sind Säuglinge bei der Entwicklung ihres Selbstgefühls auf Reizschutz, Resonanz und Betätigung angewiesen. Es gibt schon in den Frühphasen des Lebens erstaunliche Grundformen der Kommunikation und Beziehungsregulation52. Sie werden wirksam, um eine psychophysiologische Homöostase herzustellen und aufrechtzuerhalten. Dazu senden sie von Anfang des Lebens an Signale aus (Blickkontakt, Lallen, Schreien usw.), mit denen sie passende Antworten auf ihre Wahrnehmungen und Bedürfnisse induzieren. Säuglinge und Pflegepersonen bilden auf diese Weise eine kommunikative Symbiose, die durch Kontingenz, d. h. ein Zusammenpassen von Bedürfnis und Bedürfnisbeantwortung, geprägt ist.

Diese Befunde verändern die landläufige Vorstellung von der Kindheit als einen paradiesischen Zustand der Passivität. An ihre Stelle tritt die Vorstellung eines reziproken Prozesses zwischen Mutter und Kind, die im Austausch mit einander stehen. Die Basis dafür sind die angeborenen Programme des Säuglings und der Eltern. Das Zusammenspiel der Programme garantiert die zutreffende Beantwortung der Bedürfnisse des Kindes. Dieses Zusammenpassen (matching) vermittelt Erfahrungen von Kontingenz und Wirksamkeit. Sie sind maßgeblich dafür, dass die Entwicklung des Selbst gelingt.

Mit Konzepten wie primäre Mütterlichkeit, intuitive Elternschaft oder Feinfühligkeit wird die große Bedeutung der elterlichen Intuition für die Selbstfindung betont. Sie beruht auf Resonanzphänomenen53, die durch Spiegelneurone54 vermittelt werden. Sie bewirken, dass Menschen auf Stimmungen, Handlungen oder auch nur Absichten ihres Gegenübers in ihrem Gehirn die gleichen Nervenzellen aktivieren wie die Handelnden selbst. Durch diese Art der präverbalen Kommunikation entsteht in den Eltern eine intuitive Gewissheit über die Befindlichkeiten ihres Kindes. Ausgelöst durch kindliche Signale setzen sie sich mit einfachen, gut abgrenzbaren Antworten zu ihm in Beziehung – durch Anlächeln, Ansprechen, Kopfnicken, Mundbewegungen oder auch durch Berührungen. Passende Reaktionen können Spannungen lösen. Dadurch können im Kind basale prozedurale Erfahrungen entstehen und verinnerlicht werden.

Psychotherapie und Psychosomatik

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