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Entwicklung des Denkens
ОглавлениеDas Denken ist eine der zentralen Ichfunktionen. Aus psychoanalytischer Sicht ist es das Ergebnis interaktioneller Prozesse auf der Basis der neurophysiologischen Reifung. Die psychoanalytische Theorie des Denkens, die auf Wilfried Bion69 zurückgeht, beschreibt die Entwicklung des Denkens als einen intersubjektiven Prozess in den frühen Beziehungen. Die bis dahin ruhende Denkfunktion wird durch interaktionelle Erfahrungen aktiviert.
Danach wird das Kind am Anfang des Lebens von ungeformten mentalen Inhalten und Phantasien bedrängt. Um sie zu bewältigen, werden diese »in« die Mutter projiziert, die sie im Rahmen einer projektiven Identifizierung ( Kap. 2.1.2) in sich aufnimmt und wirken lässt. Sie »verträumt« das ungestaltete psychische Material, d. h. sie verarbeitet es, indem sie es mit eigenen Vorstellungen und Gefühlen verknüpft, und gibt ihm eine erträgliche Gestalt. Aus dem Unerträglichen werden dadurch erträgliche Erfahrungen, die sie dem Kind zurückgibt.
Dieser Vorgang wird als Alphafunktion der Mutter oder als Transformation des rohen psychischen Materials bezeichnet. Die Mutter fungiert dabei als Container für unbearbeitete Inhalte (Beta-Elemente) ihres Kindes. In dem Maße, wie sie die Spannungen des Kindes ertragen und sich auf die Gefühlszustände einlassen kann, ohne sich davon überwältigen zu lassen, kann sie die gesunde Entwicklung des Kindes fördern. Dabei ist die zutreffende Einfühlung der zentrale Faktor. Das Kind kann sich auf Dauer mit der Alphafunktion der Mutter identifizieren und beginnen, die Transformationen selbst zu leisten. Auf diese Weise entsteht als Brücke zwischen dem Selbst und der abwesenden Mutter das Denken.
Es versteht sich nahezu von selbst, dass diese Prozesse an eine sichere Bindung zwischen dem Kind und seiner Mutter gebunden sind. Das gilt auch für die psychotherapeutische Behandlungssituation, in der ein Therapeut eine ähnliche Funktion erfüllt. Er kann ein Verständnis für die innere Situation des Patienten entwickeln und ihm dazu verhelfen, sie auch selbst anzunehmen und zu ertragen. Dazu muss er allerdings das Unerträgliche in sich aufnehmen und verarbeiten.