Читать книгу Der Neiding - Michael J. Awe - Страница 12
ОглавлениеDer Lebensbaum
Farold stand am Waldrand und sah den Frauen zu, die um die Feuer tanzten. Ein warmer Wind wehte vom Feld herüber, er brachte Rauchgeruch mit sich. Am Morgen würden die Feuer heruntergebrannt sein und die Menschen nach Hause zurückkehren, zu ihren alleinstehenden Gehöften aus der Umgebung, und ihre Arbeit wieder aufnehmen. Isberts Worte brannten bitter in ihm. Nach all den Jahren gehörte er immer noch nicht dazu und Farold fragte sich, was ihn von den anderen unterschied? Was fehlte ihm, dass er nicht das Glück in der Bearbeitung des Bodens fand oder in der Schlacht mit dem Feind, den Festen und Zusammenkünften? Er beneidete Arbogast darum, dass er immer wusste, wo er stand, für was er lebte und arbeitete, dass er so fest in diesem Leben verwurzelt war. Lange Jahre dachte er, dass dies alles nur eine Frage der Zeit wäre.
Hatte man ihn nicht gut aufgenommen und eine neue Heimat gegeben, ihm, der vorher nichts besaß? War es nicht ein gutes Leben im Kreis der Sippe, was er führte? War Theodard nicht wie ein leiblicher Vater für ihn gewesen? Farold atmete hörbar aus und lehnte sich an den Ast der Birke, neben der er stand. Immer noch spürte er den Verlust von Theodard. Er fragte sich wie so häufig, wie alles verlaufen wäre, wenn er damals nicht auf das Schlachtfeld gerannt wäre, um zu Fehild zu gelangen.
Sein Blick ging wie von selbst zu der jungen Frau, die zusammen mit ihrem Mann am Rande des Feuerscheines stand und ihn umarmte. Sie wäre auf dem Schlachtfeld bei der Irminsul verblutet und Theodard noch am Leben, doch vielleicht wäre alles auch ganz anders gekommen. Nie hatte man ein Wort darüber verloren. Sogar Arbogast, der Theodard immer nahe gestanden hatte, machte ihm nie einen Vorwurf deswegen. Farold erinnerte sich an Fredegard, die die ganze Nacht an der Seite ihres Mannes gewacht hatte, der auf dem Tisch aufgebahrt lag, während Aleke wohlduftende Kräuter verbrannte. Gegen Morgen richteten sie den Leichnam für das Gräberfeld her und trugen ihn zu der Lichtung, um seinen Körper den Flammen zu übergeben. Farold stand daneben mit Tränen in den Augen und sprach er kein Wort. Was sollten ihm die erschlagenen Köpfe, wenn der Mann, der als einziger gut zu ihm gewesen war, tot aufgebahrt lag. Er lief zu dem Holzgestell und griff die kalte Hand, während die anderen ihn regungslos musterten.
Farolds Gedanken verloren sich in der Vergangenheit und er dachte an all die Jahre, die seitdem verflossen waren, der regelmäßige Ablauf der Jahreszeiten und die immer wiederkehrende Arbeit, die langen Winter in der Halle, wenn sie in der Wärme des Herdfeuers den Erzählungen von Isbert oder Rolant lauschten, die endlosen Sommertage auf den Feldern und der stürmische Herbst, wenn die Schweine in den Wald getrieben wurden, damit sie Fett ansetzten. Alles spielte sich im Umkreis dieser beiden Felder ab, soweit er blicken konnte, soweit erstreckte sich auch der Radius seines Lebens, und dies war schön und schrecklich zugleich. Rolant war häufig für einige Zeit fort gewesen und hatte an Kämpfen gegen die Franken teilgenommen, die zwar das Land besetzt hielten, aber den Teil ihres Gaues in Frieden ließen, solange man tat, was sie wollten. Doch immer wieder kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen und Rolant sagte, dass das so bleiben würde, bis alle Sachsen freie Menschen waren und auch der letzte Franke ihren Boden verlassen hatte.
Die Zerstörung der Irminsul führte damals zu einem offenen Aufstand gegen die Franken, die in einem Feldzug weit in ihr Gebiet vordrangen und bis zur Weser vorstießen. Dort verhandelte König Karl mit sächsischen Adligen, die sich ergaben und Geiseln stellten. Aber seitdem war keine Ruhe mehr in ihre Heimat eingekehrt.
Er strich mit dem Daumen über die Narbe in seiner Handinnenfläche. Als Kind war er fern von den Kämpfen und Fehden der anderen Menschen gewesen, doch das Schicksal hatte ihn in diese Sippe geführt und somit war er auf einer Seite gelandet. Von Weitem hatte er einmal dabei zugesehen, wie halbfreie Bauern in einem Fluss einem religiösen Ritual des Frankengottes unterworfen wurden. Im Anschluss hatte jeder eine neue leinenweiße Tunika erhalten. Die Männer hatten den guten Stoff befühlt und ihn gegen das Licht gehalten, und zwei hatten versucht, sich noch einmal dem Ritual zu unterwerfen, um an eine weitere Tunika zu kommen. Sie hatten gelacht und sich mit Wasser bespritzt, während der Frankenpriester mit ernstem Gesicht dabei stand und kopfschüttelnd ans Ufer stieg, als es ihm zu viel wurde.
Sollte das die Gefahr sein, die ihnen allen drohte, etwas Wasser über den Kopf und ein paar Worte in einer fremden Sprache, die man wiederholen musste? An der alten Lichtung waren die Arbeiten an einem Haus des Frankengottes begonnen worden, einige der Feiernden sprachen davon, dass man es mit Absicht in die Nähe der heiligen Quelle gesetzt hätte, damit der neue Gott etwas von der Stärke ihrer Götter erhalten würde.
Ein Pärchen zog Hand in Hand vom Feld und verschwand nicht weit von ihm entfernt im Wald. Er hörte Äste knacken und leises Gelächter, bis es schließlich verstummte. Farold hielt nach seinen Brüdern Ausschau, doch konnte er sie nirgends entdecken. Arbogast war wahrscheinlich im Langhaus und zechte mit Rolant und den anderen, während Isbert sich vermutlich mit einer Frau zurückgezogen.
Farold lächelte, als sich in der Dunkelheit jemand neben ihm stellte. Er musste sich nicht umsehen, um zu wissen, wer es war.
»Hier in der Nähe wächst das beste Freiasgras«, hörte er Sarhilds Stimme, die warm und rau klang. »Weißt du noch, wie ich es einmal sammelte, um daraus einen Liebeszopf zu machen? Du hast mich die ganze Zeit beobachtet, während ich das Gras schnitt, und als ich mich auf den Weg zurückmachte, standest du plötzlich vor mir.«
»Oh ja, das weiß ich noch.« Farolds Stimme konnte seine Belustigung nicht verbergen. »Du wurdest rot und ich wusste nicht, warum ...«
Sie lachte leise in der Dunkelheit und er spürte ihren nackten Arm an seinem. Farold legte den Kopf schief und sah zu Boden. Wie viele Jahre war das schon her? Theodard lebte zu diesem Zeitpunkt noch und er war gerade erst in die Sippe aufgenommen worden. Die kleine Sarhild, mit dem hellem Haar ihrer Mutter und dem Duft nach Kräutern ... Er wunderte sich, dass sie sich in all den Jahren keinen Mann erwählt hatte. Mehr als einer wollte sie freien und mit sich auf den heimatlichen Hof führen, doch sie war niemals auf ein Angebot eingegangen. Lange Zeit dachte Farold, es wäre wegen ihres Vaters, Eckart war nach dem Sturz vom Dach nicht vollständig genesen und zog sein Bein nach. So hatte Sarhild viel von seiner Arbeit übernommen und war ausdauernd wie eine Walküre geworden. Selbst die nebensächlichste Tätigkeit wurde von ihr mit einer Aufmerksamkeit durchgeführt, die Farold noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Später dachte er, es wäre wegen Isbert. Doch auch ihn erwählte sie nicht.
»Isbert sprach mich vorhin bei den Feuern an«, sagte Sarhild.
Farold beobachtete das Flackern der entfernten Flammen, die hoch in den nächtlichen Himmel stiegen. »Was wollte er?«
»Eine Nacht in den Wäldern. Und mehr ...«
Farold wollte ihr antworten, doch fühlte er sich, als würde etwas auf seine Brust drücken und ihm die Luft nehmen. Irritiert atmete er tief aus und versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Was antwortetest du ihm?«
Jetzt machte Sarhild eine Pause und er fühlte, wie sie ihn von der Seite ansah. »Ich lehnte ab, denn mir gefiel der Ausdruck seiner Augen nicht.«
»Isbert beobachtete dich die ganze Nacht hindurch.«
»Ich kenne Isbert, seit ich denken kann, und all die Jahre hindurch war er gut zu mir. Aber er ist es nicht, den ich liebe ...«
Sie stand jetzt so nahe neben ihm, dass er meinte, ihren Herzschlag fühlen zu können. Er sah sie an, wie sie erwartungsvoll in seine Augen blickte, und er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Er schmeckte den Met auf ihren Lippen und als sie seine Hand nahm und tiefer in den Wald zog, folgte er ihr, ohne zu zögern.
Farold drehte sich auf die Seite und sah sich um. Im Wald war es ruhig geworden und außer dem leisen Knacken der Äste war nichts zu hören. Sarhild blickte weiter zum Nachthimmel hoch, ihr Amulett glitzerte an ihrem Hals.
»Wie still es ist«, sagte Farold.
Er atmete leise aus und legte sich wieder auf den Rücken.
Sarhild!, dachte er. Es hörte sich gut an. Ob er sich an dieses Glück gewöhnen könnte? Er schloss die Augen und lächelte. Nach einer Weile spürte er ihre Finger auf seiner Brust, die das kleine silberne Kreuz berührten.
»Es ist schön!«
Ihre Stimme war leise, voller Wärme. Er öffnete die Augen und sah sie an. Ihr langes Haar fiel bis auf seinen Oberkörper und kitzelte sanft seine Haut. »Es ist das einzige Andenken, was ich von meinen Eltern habe!«
»Du hast mir nie von ihnen erzählt.«
»Da gibt es auch nicht viel zu erzählen.«
»Ich habe noch nie eine solche Arbeit gesehen«, sagte sie und fuhr mit dem Finger die feinziselierten Gravuren nach. »Weißt du, von wo es kommt?«
»Ich hatte es schon, als meine Eltern mich im Kloster abgaben. Damals war ich nur wenige Wochen alt.«
»Es ist sehr wertvoll. Das Geschenk von Edelingen.«
»Meine Eltern waren nicht reich, nicht, soweit ich wüsste.« Farold sah zum Sternenhimmel empor und Sarhild legte ihren Kopf auf seiner Brust. »Die Mönche im Kloster haben mir später erzählt, dass mich meine Eltern eines kalten Morgens vor das Tor gelegt hatten. Ein Bruder sah sie davoneilen, sächsische Knechte in fadenscheiniger Kleidung.«
»Merkwürdig! Wie kamen sie an ein Symbol des neuen Gottes? Und warum gaben sie dich zu seinen Kuttenträgern?« Sarhild schwieg eine Weile und schien zu überlegen. »Es muss für sie sehr schwer gewesen sein. Keine Mutter gibt ihr Kind leichtfertig weg. Meinst du, dass sie mit dem Silberkreuz die Kuttenträger bezahlen wollten?«
Farold erinnerte sich an die kargen Zellen und Gänge in dem Kloster, die endlosen Gesänge und Anrufungen Gottes. »Meine Eltern starben im kommenden Winter, wie so viele Menschen. Ich hatte Glück, dass die Klosterbrüder mich aufnahmen. Der Abt des Klosters entschied, dass man mich behalten würde, da es Karfreitag war und kein Blatt vom Baum falle, ohne dass der Herr es wolle.«
»So bist du also an den Kuttenträger geraten, der mit dir durch unser Gau zog.«
»Meine ersten Erinnerungen waren die von Mönchen, Gesang und Kirche. Das war meine Kindheit gewesen. Aber sobald ich alt genug war, gab man mich an einen Wandermönch. Das Silberkreuz ließ man mir, ich weiß nicht, warum. Ich nahm es mit, als wir aufbrachen.«
Eine Zeitlang lagen sie nebeneinander ohne etwas zu sagen. Farold dachte an Isbert und Sarhilds Worte über ihn. All die Jahre hatte Sarhild Isbert misstraut. Sie sprach nie davon, aber Farold konnte es deutlich sehen. Anfangs, als er dachte, dass sie Isbert versprochen war, hatte er sich zurückgehalten. Sie war diejenige gewesen, die sich um ihn gekümmert und seine Nähe gesucht hatte. Aber nun verspürte er Mitleid mit seinem Bruder.
»Isbert ist kein schlechter Mensch«, sagte er. »Doch mir scheint, er will mehr, als das Schicksal ihm zugedacht hat.« Farold nahm eine Haarsträhne von ihr und ließ sie zwischen den Fingern hindurchgleiten.
»Isbert wird diese Nacht nicht alleine verbringen müssen«, sagte Sarhild, »denn ich sah die Blicke so mancher Frau auf ihm ruhen. Er wird sich mit einem anderen Weib wärmen, an mich wird er keinen Gedanken mehr verschwenden.«
»Oder er ertränkt seinen Kummer in Bier ...«
Sarhild nahm seine Hand und drückte sie. »Du magst deinen Bruder, das ist gut. Aber ich sehe ihn mit anderen Augen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es ist mehr ein Gefühl, aber immer wenn er mich ansieht, spüre ich etwas Ungutes, einen kalten Wind, der mich fröstelnd macht.«
Farold schüttelte den Kopf. »Isbert tut keinem Menschen was zuleide, du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten ...«
»Isbert ist anders in letzter Zeit, ist dir das nicht aufgefallen?«
»Er schläft schlecht«, sagt Farold.
»Damit lügt er nicht, ohne die Wahrheit zu sagen. Es ist etwas mit ihm, was mir angst macht!«
»Seit dem Fall der Irminsul hat sich sein Wesen verdüstert!«, sagte Farold. Vor seinem Auge tauchte die schlanke Gestalt seines Bruders auf, der vor der zerstörten Irminsul kniete. »Er redet und lacht weniger, aber er ist nun auch kein Jüngling mehr.«
»Ich weiß nicht, ob du recht hast ... Doch nun habe ich dich und das soll reichen, alle düsteren Gedanken zu verscheuchen ...«
Sarhild beugte sich zu ihm hinüber, im nächsten Moment fühlte er ihre warmen Lippen auf seiner Schläfe. An leichter Duft von Kräutern stieg in seine Nase. Er lächelte und drückte sie an sich, während er an die vielen Kräuter dachte, die ihre Mutter unter die Decke und draußen hinter dem Haus zum Trocknen hatte hängen lassen, und wie häufig sie unter ihnen gesessen hatten.
Sie hatte ihr Kleid auf das dicke Moos gelegt, welches zwischen einigen hohen Brombeersträuchern wuchs, die sie vor Blicken verbargen. Die Luft strich warm über seine Haut und er streckte sich wieder auf dem weichen Stoff aus. Leise seufzend legte Sarhild ihren Kopf auf seine Brust.
»Darauf habe ich lange gewartet!«, sagte sie und er konnte ihr Lächeln auf seiner Haut fühlen.
Der Mond war langsam über den nächtlichen Himmel gewandert. Schon bald würde die Dämmerung anbrechen. Wortlos zogen sie sich wieder an und er nahm ihre Hand, um sie durch den Wald zu führen. So häufig war er diese Wege gegangen, meistens alleine, manchmal auch mit seinen Brüdern oder auch mit Sarhild, doch nun fühlte er sich, als würde jeder Baum und jeder Strauch zu ihm gehören, als wäre er durch sie in den Kreis des Lebens eingetreten.
Der Rauch der Feuer wurde vom Wind bis zu ihnen getragen und als sie Felder erreichten, war alles ruhig und menschenleer.
»Sie schlafen schon alle«, flüsterte Sarhild und fuhr übermütig mit ihrer Hand durch sein Haar.
»Ich werde am Mittag mit Eckart sprechen!«, sagte Farold.
Ihre Augen leuchteten auf und sie küsste ihn zum Abschied. Der Mond traf auf den silbernen Anhänger um ihren Hals, das Abbild eines fein gearbeiteten Lebensbaums. Er sah ihr nach, wie sie zu Eckarts Langhaus ging und sich am Eingang noch einmal zu ihm umdrehte und die Hand hob. Lächelnd ging er zur Halle hinüber und trat leise ein. Die Atemgeräusche der Gäste erfüllte das Innere, und er musste etwas suchen, bis er einen freien Platz zum Schlafen finden konnte. Er machte es sich auf der Bank bequem und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.