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Verrenkte Glieder

772 A.D.

Halt das mal!«, sagte Theodard und reichte seinem Sohn Isbert die Säge. Er betrachtete den Wandpfosten und stieg von der Leiter auf das Dach hinauf. Dort, wo sie das Stroh abgedeckt hatten, konnten sie das verfaulte Holz sehen. Isbert kletterte seinem Vater hinterher und sah zu Eckart hinüber, der mit einem Löffelbohrer an der Verdübelung der Querbalken arbeitete. Sie standen genau über der Stelle, an der starke senkrechte Pfosten die Dachlast trugen und die eigentliche Wand bildeten. In einer Armlänge Abstand befand sich die zweite, äußere Reihe, die sich aus dünneren, schräg nach innen geneigten Pfosten zusammensetzte und die Außenwand stütze.

Sein Vater suchte auf dem schrägen Dach einen besseren Halt und ließ sich die Säge von ihm geben. Der Tag war sonnig und klar und Isbert konnte vom Dach von Eckarts Haus weit über die kahlen Felder bis zum Waldrand sehen, wo Arbogast damit beschäftigt war, Holz zu schlagen. In den Ackerfurchen und unter den Bäumen glitzerte Schnee, aber der beißende Frost des Winters lag hinter ihnen.

»Noch so ein Winter und ich kann ein neues Haus bauen!«, murrte Eckart ohne aufzusehen. Die Muskeln an seines Vaters Armen traten hervor, als Theodard die Zähne der Säge durch das Holz gleiten ließ. Isbert schaufelte das verfaulte Stroh vom Dach hinunter. Es war schwer, auf der Schräge nicht den Halt zu verlieren, und er wählte seinen Stand mit Bedacht. Als er das alte Stroh abgetragen hatte, stieg er die Leiter hinab und lud es auf einen Karren. Die Holzräder knirschten leise, als er den Karren an dem Speicher und der Grubenhütte vorbei schob. Aus der niedrigen Hütte klang der leise Gesang der Frauen, die bei ihrer Handarbeit zusammensaßen. Hinter dem Tor führte ein Trampelpfad zwischen den beiden Feldern hindurch, ein anderer lief entlang der Palisade in Richtung eines Baches, der durch den nahegelegenen Buchenhain floss. Er folgte diesem Pfad und leerte den Karren am Waldrand. Das gleichmäßige Klopfen von Arbogasts Axt tönte über die Felder zu ihm herüber. Isbert spuckte sich in die Hände und wischte sie an seiner Tunika ab. Von dem Fremden war nichts zu sehen.

Der Junge war den ganzen Winter über bei ihnen geblieben. Nicht ein Wort hatte er seitdem gesprochen. Er folgte Theodard, wohin er auch ging, oder verschwand in den umliegenden Wäldern. Für die Feldarbeit taugte er nicht, dazu war er zu schwächlich und ungeschickt, aber er würde sich daran gewöhnen müssen, sollte er länger in ihrer Halle bleiben wollen. ›Schick ihn zurück zu den Kuttenträgern!‹, hatte Isbert seinem Vater gesagt, aber dieser war nicht bereit gewesen, darüber mit ihm zu reden. Mutter beobachtete den Fremden immer noch voller Misstrauen, dessen kohlschwarzen Augen selbst im Dunkeln zu sehen vermochten. ›Ein Mensch‹, sagte sie einmal, ›sollte das nicht können.‹ Der Junge war ihr unheimlich, auch wenn sie das nicht sagte, Isbert kannte sie gut genug, um ihren Missmut zu erkennen. ›Wer ist dieser Fremde schon?‹, hatte er Fredegard geantwortet. ›Unsere Vorfahren waren freie Männer, sie standen mit ihrem Wort und dem Sax für diesen Boden ein. Sie rodeten Wälder, legten Felder an und bauten Häuser. Vor keinem Menschen beugten sie das Knie!‹

Isbert folgte dem Pfad in den Birkenhain hinein. Die weißen Stämme standen weit auseinander, so dass er schon aus der Ferne die Gestalt am Bach erkennen konnte. Sarhild kniete am Ufer und wusch Wäsche. Die Konturen ihres Körpers waren beinahe die einer Frau. Seiner Frau. Vor zwei Wintern hatte Theodard mit Eckart gesprochen und sie beide hatten diese Verbindung als vorteilhaft gefunden. Als er näherkam, richtete sie sich auf und legte die nasse Tunika in den Eimer.

»Seid ihr schon fertig mit unserem Dach?«, fragte Sarhild und trocknete ihre Hände ab, die vom kalten Wasser gerötet waren.

»Eckart flucht seit Sonnenaufgang. Wir werden den ganzen Tag dafür brauchen.«

Sarhild lächelte. »Der Grund für das Fluchen Vaters, scheint mir, liegt eher am gestrigen Bier als an unserem Dach.«

»Bier rinnt durch Eckarts Kehle wie Wasser. Der trinkt, bis sogar Manfred von der Bank fällt.«

Sie beide lachten bei der Vorstellung.

»Mir scheint, wir werden trinkfeste Söhne kriegen«, sagte Isbert. Sarhild wurde ernst und nahm eine Hose ihres Vaters zur Hand, um sie in den Bach zu tauchen. Konzentriert schrubbte sie den Stoff über die glatten Steine. Isbert beobachtete ihre geübten Bewegungen. Sie war ein tüchtiges Mädchen und konnte anpacken, seiner Halle würde es an nichts fehlen. Noch trug sie ihr langes blondes Haar offen, doch schon bald würde es geflochten sein und sie als sein Weib kennzeichnen.

Das Gluckern des Wassers umfing sie. Isbert setzte sich auf einen umgestürzten Birkenstamm und stützte die Hände auf die Knie. Er malte sich aus, wie es wäre, ein eigenes Langhaus sein eigen zu nennen, ein Sax zu tragen und wie ein freier Mann auf dem Thing das Wort zu erheben. Man würde ihn rühmen wegen seiner gewandten Rede und Freigiebigkeit, die Schönheit seiner Frau wäre im ganzen Gau bekannt. Gäste würden das Horn kreisen lassen, keiner sollte hungrig oder durstig seine Bank verlassen. Mit seinen Gesippten zöge er in die Schlacht und teilte Hiebe gegen die Franken aus, auf dass sich sein Ruhm mehre, Freunde ihn schätzten und die Feinde fürchteten.

»Hast du gehört, was die Männer sagen?«, fragte er und beobachtete ihren Rücken. »Es wird bald Krieg geben.«

»Die Franken sind schon seit langem unsere Feinde«

Nur noch kurze Zeit, dachte Isbert, dann bin ich alt genug, ein Sax zu führen. Bald werde ich an der Seite von Vater und Rolant gegen die Franken und ihren König ziehen.

»Warum spricht der Fremde nicht?«, fragte Sarhild plötzlich und riss ihn aus seinen Gedanken.

Isbert schnaubte unwillig. »Er ist schwächlich. Mutter sagt, es steckt nichts Gutes in ihm.«

»Er versteht uns, das sehe ich. Aber er spricht nicht.« Sarhild setzte sich auf, strich sich das lange Haar aus der Stirn. »Ich frage mich, warum?«

»Vater wird ihm das Gastrecht nicht viel länger gewähren wollen, jetzt, wo der Winter vorbei ist. Die Wege sind wieder passierbar. Er kann gehen.«

»Ob er ein Mensch ist?«

»Er hat den Willkommenstrunk genommen. Er aß unser Essen. Nun hat er unser Heil aufgenommen, auch wenn er kein Gesippter ist. Das ist mehr, als er je besessen hat.«

Sarhild ließ die Hose sinken. »Wir kennen seine Herkunft nicht.«

»Er ist ein Mensch ohne Sippe!« Isbert sprang auf, fühlte, wie Blut in sein Gesicht schoss. »Keine Halle ist sein Eigen, noch bestellt er seine eigenen Felder. Er isst fremder Leute Essen und trinkt fremder Leute Bier. Das Herdfeuer, das ihn wärmt, ist nicht sein eigenes. Nur unsere Gastfreundschaft hält ihn.«

Isbert sah, wie Sarhild blass wurde. Ihre Stimme klang kalt. »Du sprichst wie ein Mann, der auf seinem Hochsitz sitzt, und doch hast du die Waffenweihe nicht empfangen und ungeschnitten ist dein Haar.«

Drohend trat Isbert auf sie zu. Sie sah zu ihm auf, wich aber keinen Schritt zurück. »Ich bin Isbert, Theodards Sohn!«, stieß er hervor. »Vergiss das nicht!«

Mit diesen Worten wendete er sich ab und eilte den Pfad durch den Birkenhain zurück. Im Vorbeigehen schlug er mit der flachen Hand einige Büsche. Die Wut brannte in seinem Magen und er wünschte sich, sie hätte nicht angefangen mit diesem Fremden. Was interessierte ihn dieser Junge? Er knickte einen Ast ab und warf ihn in die Büsche. Am Feldrand ließ er den Karren stehen und ging direkt zur Grubenhütte, die kaum so groß wie er war. Ihr tiefgezogenes Dach reichte bis zur Erde. Er trat gebeugt unter dem niedrigen Türsturz hindurch und ging einige Stufen hinunter in den kleinen Raum, wo die Frauen bei der Handarbeit saßen. Ein Feuer in der Mitte der Hütte spendete Wärme. Fredegard und Aleke arbeiteten zusammen mit Manfreds Frau Wilburga an Decken für den Somme. Sie sahen auf, als er eintrat, während ihre Hände weiter webten. Die alte Sassia kämmte Schafswolle, die blinden Augen auf den Boden gerichtet, verzog sie ihren zahnlosen Mund zu einem bösen Lächeln. Zu den Füßen von Wilburga saßen Herta, Ida und Dietmuthe, die drei jüngsten ihrer fünf Kinder. »Bist du vom Dach gefallen, mein Junge!«, rief die dicke Frau nach einem Blick in sein Gesicht.

Isbert fühlte, wie er rot wurde, und verfluchte innerlich die spitze Zunge von Manfreds Frau. »Mach, dass er weggeht!«

Seine Mutter ließ die Hände sinken. »Wer?«

»Der Fremde! Ich will, dass er geht!«

Sassia kicherte in sich hinein, während sie den Kamm durch die Wolle zog. Fredegard bot ihm einen Platz auf der Bank an und wartete, bis er sich niedergelassen hatte. »Der fremde Junge ist ein Gast in unserer Halle, Isbert.«

»Er sitzt schon zu lange an unserem Herdfeuer.«

Die kleine Dietmuthe fing an zu weinen und Wilburga nahm sie auf den Schoß, ihre massigen Unterarme wiegten das Kind sanft. »Es ist die Halle deines Vaters«, sprach sie, »und nicht an dir zu entscheiden, wer bleibt und wer geht.«

Isbert ignorierte Wilburga und sah seine Mutter bittend an. »Sprich mit Vater!«

Fredegard seufzte und fuhr ihm über das Haar, ihr hartes Gesicht zeigte ein schmales Lächeln. »Der Winter war streng, mein Sohn, aber die Wege sind wieder passierbar und der Junge wird zu seinen Kuttenträgern zurückkehren können.«

»Solange Theodard auf dem Hochsitz sitzt«, meldete sich Aleke zu Wort, ohne in der Arbeit innezuhalten, »wird es seine Entscheidung sein. Der Junge steht unter unserem Gastrecht und wir werden nicht dahin gehen, es zu brechen.«

Isbert betrachtete Aleke und fand viel Ähnlichkeit mit Sarhild, gerade jetzt, wo ihre Wangenknochen vor Unwillen deutlicher hervortraten. Sarhilds Mutter redete wenig, doch trafen ihre Worte stets das Ziel. Viel hatte sie über die alten Wege von der greisen Sassia gelernt und von ihrer eigenen Mutter, die vor vielen Jahren bei der Geburt eines Jungen starb, der seine Mutter nur um eine Nacht überlebte. Häufig suchte sie die beiden auf, wenn Kräuter aus dem Wald auf den Räucherpfannen glimmten, und beriet sich mit ihnen, fragte sie um Rat und Beistand.

Dietmuthe war mittlerweile auf dem Schoß von Wilburga eingeschlafen, ihre leisen Atemgeräusche durchdrangen das Schweigen. Wilburga nahm die Arbeit an der Decke wieder auf. »Eher hört Eckart mit dem Trinken auf, als das Theodard seine Meinung ändert.«

»Das werden wir sehen, meine Liebe!«, antwortete Fredegard.

Die alte Sassia kicherte erneut. »Nicht Freunde macht sich der Gast, wenn er zu lange Zeit auf der fremden Bank verbringt.«

Plötzlich brach ein Schrei durch die Stille. Isbert zuckte zusammen.

»Das ist Eckart!«, rief Aleke und sprang auf.

Isbert rannte mit den anderen nach draußen. Durch das Tor sah er, wie Arbogast und Rolant über die Felder liefen. »Was ist passiert?«, brüllte Manfred, der mit einem Sax aus dem Langhaus trat.

Vor dem Eingang seines Hauses lag Eckart mit bleichem Gesicht, das Bein in einem unnatürlichen Winkel verdreht.

Theodard kletterte gerade die Leiter vom Dach hinunter. »Er ist vom Dach gestürzt«, sagte er, als er unten ankam.

Eckart atmete schwer, Schweiß glänzte auf seiner hohen Stirn. Aleke kniete sich neben ihren Mann und betastete das Bein. »Das Bein ist verrenkt! Helft mir, ihn ins Haus zu tragen.«

Arbogast und Theodard hoben Eckart auf, dessen Gesicht sich verzerrte, aber kein Ton kam über seine Lippen. Arbogast trug ihn an den Schultern, während sein Vater die Hüfte und die Beine hielt. Vorsichtig legten sie ihn auf der Bank neben dem Herdfeuer ab.

»Gebt mir Bier!«, sagte Eckart dumpf. Rolant reichte ihm einen Becher reichte, er leerte ihn in einen Zug, so dass Flüssigkeit in seinen Bart rann.

Aleke zog ihrem Mann das Hosenbein hoch und befühlte den Knochen.

»Geh, hol das Bilsenkrautbier aus der Grubenhütte«, wies Aleke ihre Tochter an, die in diesem Moment in der Tür erschien.

»Was ist mit Vater?«, rief Sarhild und betrachtete angstvoll sein blasses Gesicht.

»Er ist vom Dach gefallen«, sagte Aleke und strich sich das geflochtene Haar zurück. »Hol das Grutenbier, es wird deinem Vater guttun.«

Nach einem letzten Blick auf ihren Vater drehte sich Sarhild um und rannte zur Grubenhütte am Rande des Platzes hinüber. Als ihre Tochter zurückkam, schüttete Aleke das rötliche Bier in den Becher und setzte es ihrem Mann an die Lippen.

»Hier, trink!«

Ohne zu zögern, leerte Eckart auch diesen Becher und sank dann wieder auf die Bank zurück.

»Je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird man!«, sagte er. »Gib mir noch einen Becher!«

Aleke schenkte ihm erneut ein und als er ausgetrunken hatte, entspannten sich seine Gesichtszüge.

Bilsenkraut nimmt den Schmerz und verwirrt die Sinne, dachte Isbert, selbst der stärkste Mann wird zum Greis vor seiner Zeit. Rolant hatte einmal erzählt, er sei Zeuge gewesen, wie bei einer Totenfeier hoch im Norden, dort, wo das Meer aufs Land trifft, die Männer tage– und nächtelang von dem rötlichen Bier tranken, bis sie verblödeten und im Rausch starben. Theodard antwortete darauf, der Rausch sei dem Woden heilig, doch hieße der Tod durch übermäßigen Bilsenkrautbiergenuss auf einen Platz in Walhall zu verzichten.

Als Isbert sich nach seinem Vater umdrehen wollte, stand der fremde Junge hinter ihm. Nur mühsam konnte er ein Zusammenzucken verhindern.

Seine dunklen Augen musterten das verdrehte Bein von Eckart aufmerksam. »Tieren bringt das den Tod!«

Isbert starrte ihn an. Also spricht er doch, dachte er. Seine Sinne sind nicht mit Dunkelheit geschlagen. Wo kommt er her? Er ist wie die Raben, wenn sie Aas wittern …

»Was ist passiert?«, fragte Theodard. »Ich hörte deinen Schrei. Als ich mich umblickte, war das Dach leer …«

Eckart hob den Kopf und spuckte aus. »Ich spürte einen üblen Blick. Sah mich um, doch konnte ich nichts erkennen. Da lehnte ich mich vor …« Er verzog kurz das Gesicht und fluchte. »Als ich mich umsah, entdeckte ich deinen Gast. Er stand am Speicher und hielt den Blick fest auf mich gerichtet. In diesem Moment stürzte ich …«

Isbert fühlte, wie bei Erkarts Worten seine Fingerspitzen kalt wurden.

Fredegard trat zu ihrem Mann. »Ich habe es dir doch gesagt, es ist nichts Gutes in diesem Jungen …«

Theodard richtete sich unwillig auf und blickte seine Frau an. »Dieser Junge ist mein Gast. Du wirst nicht das Gastrecht meiner Halle schmälern, auf dass die Leute schlecht über uns sprechen.«

»Dein Gastrecht war freigiebig genug!«, antwortete sie ruhig und nahm seine Hand. »Niemand wird an der Freigiebigkeit von Theodard zweifeln.«

Isbert bemerkte, wie der Fremde einige Schritte auf Theodard zuging. Alle Augen waren auf den Jungen gerichtet, nur Aleke war damit beschäftigt, das Hosenzeug von Eckart zu entfernen.

»Die Beschuldigung ist ausgesprochen«, sagte Rolant. »Der Junge soll reden.«

Theodard blickte den Schwarzhaarigen finster an. »Du hast gehört, was gegen dich vorgebracht wurde. Wenn du sprechen kannst, dann sprich jetzt!«

Der Junge schüttelte verzweifelt den Kopf und hob die Hände Theodard entgegen. »Ich … habe … nichts … getan«, sagte er stockend.

Rolant ging langsam um den Jungen herum. »So spricht er also doch. Hast du auch einen Namen?«

»Farold …«, sagte der Junge, »Ich heiße Farold.«

Rolant betrachtete den Jungen von allen Seiten, ob sich nicht Anzeichen finden ließen, dass er einen Mann mit seinem Blick vom Dach eines Hauses stürzen lassen konnte. Isbert hörte ein Geräusch vom Eingang und sah Sarhild, die mit dem Krug in der Hand dastand, die Knöchel traten weiß hervor. Theodard rührte sich nicht. Wenn er seinen Schutz von Farold abzog, darauf hoffte Isbert, würde man ihn richten. Entweder die Verbannung in die Wälder, die den Tod bedeutete, oder man ertränkte ihn im Sumpf und rammte seinen Körper mit Pfählen in den Boden, so dass er bei Nacht nicht das Gehöft aufsuchen konnte.

»Sprich, Farold«, sagte Theodard, »vermagst du einen Mann mit deinem Blick zum Stürzen zu bringen.«

Farold schüttelte langsam den Kopf, seine schmale Gestalt mit den hochgezogenen Schultern schien in sich zusammen zu sinken.

»Hast du Übles im Sinn gegen unsere Sippe und diese Halle?«

Erneut schüttelte der Junge den Kopf. »Du hast mich vor den Männern im Wald gerettet. Mich den Winter über an deinem Tische sitzen lassen.«

»Bist du ein Mensch aus Fleisch und Blut?«

Farold nickte. »Ich habe wirklich nichts getan. Ich stand am Speicher und beobachtete, wie ihr das Dach neu machtet.«

»Dann steht sein Wort gegen das von Eckart«, sagte Rolant. »Es kann nur dem einen Recht und dem anderen Unrecht gegeben werden, so will es das Sippengesetz. Theodard muss richten.«

Theodard blickte zu Eckart hinüber, der mit schweißglänzendem Gesicht auf der Bank bei dem Herdfeuer lag. Aleke krempelte sich gerade die Ärmel hoch. »Wir entscheiden, wenn Eckart wieder sprechen kann. Bis dahin bleibt Farold hier in der Halle, wo ihn alle sehen können.«

Isbert bemerkte, wie Farold erleichtert aufatmete. Der fremde Junge setzte sich auf die Bank und sah Aleke dabei zu, wie sie sich die Hände und Arme mit dem Fell eines Pferdes einrieb. Nach und nach verließen die Männer und Frauen das Langhaus, nur Aleke und Sarhild blieben zurück.

»Gib deinem Vater das Bier«, sagte Aleke zu ihrer Tochter. Sarhild setzte den Krug an die Lippen Eckarts, der geräuschvoll trank. Aleke streute etwas in die Räucherpfanne. Ein süßlicher Geruch verbreitete sich und stieg langsam zur Decke. Isbert fühlte sich schwindelig und hielt sich mit einer Hand an der Wand fest.

Aleke kniete sich neben ihren Mann und begann mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme Verse aufzusagen, während ihre mit dem Tierfell eingeriebene Hand das Bein auf und niederglitt. Ihre Worte hallten leise in seinen Ohren wider.

»Vol und Woden fuhren zu Holze.

Da ward dem Rosse Balders der Fuß verrenket.

Da besprach ihn Sinthgunth und Sunna ihre Schwester;

Da besprach ihn Frija und Volla, ihre Schwester;

Da besprach ihn Woden, der sich wohl darauf verstand:

So die Beinverrenkung, so die Blutverrenkung,

So die Gliedverrenkung:

Knochen zu Knochen, Blut zu Blute,

Glied zu Gliedern, als ob geleimt sie seien!«

Sie sagte das Lied dreimal her, während sich der Raum vor Isberts Augen drehte. Bei jedem »So« drängte sie mit ihrer Hand das Blut zum Blute zurück, um die voneinander gewichenen Knochen wieder einzurenken. Eckart hielt die Augen geschlossen, seine Brust senkte sich langsam und regelmäßig, die Hände lagen regungslos an seiner Seite. Er schien keine Schmerzen mehr zu haben. Sarhild saß neben Farold auf der Bank und beobachtete ihre Mutter.

»Um einen Menschen zu heilen«, sagte Sarhild zu dem Fremden, »musst du viel wissen. Meine Mutter kennt die richtigen Sprüche und weiß um die Runen. Sie zeigt sie mir, wenn wir in der Grubenhütte sitzen und weben.«

Der schwarzhaarige Junge blickte sie ernst an. »Ihr wisst von den Runen?«

»Sie werden in die Borke des Stammes und die Äste eines Baumes geritzt, die ostwärts ragen. Als ich im letzten Winter krank war, hat meine Mutter das getan und die Hitze wich aus meinen Körper und die Schwäche ließ nach.«

»Dann ist deine Mutter eine mächtige Frau!«

Aleke streute noch einige Kräuter auf die Räucherpfanne und setzte sich neben ihren Mann, um seine schweißnasse Stirn zu berühren. Sie zog frische Kräuter aus einem Lederbeutel und breitete sie auf dem Tisch aus.

Farolds Augen weiteten sich. »Das Kraut da«, rief er und zeigte auf den Tisch, »bringt den Tod!«

Aleke folgte seinem Blick und strich dann leicht mit den Fingern über das Kraut. Sie winkte ihn heran. »Komm her, Farold!« Es lag keine Abneigung in ihrer Stimme.

Als Farold näher trat, bildete sich auf seiner Stirn ein leichter Schweißfilm.

»Du meinst das hier?«, fragte sie ihn.

Er sah sie misstrauisch an. »Ich sah, wie ein Hase starb, nachdem er das gefressen hatte.«

»Pflanzen, in denen ein feindlicher Wille wohnt, können von demjenigen, der ihre Seele kennt, durch weise Zubereitung zu einem Heilmittel werden. Diese Pflanze ist nur gefährlich für den, der sich nicht auskennt.«

Isbert schüttelte benommen den Kopf. Den anderen schien der Duft nicht die Sinne verwirrt zu haben. Er sah zu Sarhild hinüber, die den Fremden mit einem Blick musterte, den er noch nie an ihr gesehen hatte.

»Und ich kann auch erkennen, welcher Wille in einem Menschen steckt. Du hast meinen Mann nicht mit einem üblen Blick vom Dach stürzen lassen, das erkenne ich, wenn ich dich ansehe. Und doch ist dort Schatten, wo Licht sein sollte.« Aleke strich ihm die schwarzen Haare aus der Stirn, so dass sie seine Augen sehen konnte. »Etwas, was ich nicht zu erblicken vermag. Aber ich glaube deinen Worten und werde mit Eckart morgen sprechen. Sein Wort soll nicht zu deinem Ausschluss führen.«

Sarhild erhob sich. »Von was sprecht ihr?«

Farold sah sie aus seinen dunklen Augen an. »Es war Eckart, dein Vater … Er stürzte vom Dach, als ich ihn beobachtete.«

»Ich kann daran nichts Falsches entdecken.«

Aleke wischte sich die Hände an einem Leinentuch ab. »Eckart sprach vom üblen Blick. Nun ist es an Farold, die Unschuld seines Wesens zu bezeugen.«

Das Mädchen wurde blass und schüttelte den Kopf. »Vater muss sich geirrt haben!«

Aleke legte das Tuch beiseite. »Dann siehst du in Farold mehr, als die Männer es tun.«

Isbert konnte nicht länger an sich halten. »Aber Eckart hat die Worte gesprochen. Er sah den Fremden dort stehen. Er spürte den Blick, noch ehe er Farold sah.« Zorn drückte ihm fast die Kehle zu. Er wollte, dass dieser Fremde ging. Er hasste den Blick, den Sarhild diesem Eindringling zuwarf! Warum verteidigte sie ihn, wo doch ihr Vater schwere Anklage erhoben hatte?

»Wir entdecken leicht Böses, wo wir nichts verstehen«, sagte Aleke.

Isbert schüttelte den Kopf so heftig, dass ihm seine weißblonden Haare ins Gesicht fielen. »Wie soll man jemanden verstehen, der nicht spricht? Den ganzen Winter hat er kein Wort gesagt. Warum hat er nicht gesprochen? Er soll es sagen. Kein Mensch tut so etwas.«

Farold wich langsam zurück, dann wirbelte er herum und rannte nach draußen. Sarhild wollte ihm nachgehen, doch Isbert hielt sie zurück. Er trat nach draußen und rief dem Jungen nach: »Du hast gehört, was man dir gesagt hat. Du sollst hier in der Halle bleiben.«

Farold ging zielstrebig auf das Haus von Theodard zu und verschwand in seinem Inneren. Als Isbert sich umdrehte, sah er seinen Vater auf dem Dach von Eckarts Langhaus stehen, ausdruckslos zum Eingang seiner Halle blickend.

Der Neiding

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