Читать книгу Der Neiding - Michael J. Awe - Страница 7
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Der Stamm an seinem Rücken war warm und die Krone des Baumes rauschte im Wind. Farold streckte die Beine aus und sah den grauen Wolken zu, die über den Himmel zogen. Eine Fliege setzte sich auf seinen Fuß, er betrachtete ihren bläulich schimmernden Körper, bevor er sie mit einer Bewegung des Beins verscheuchte. Von Ferne konnte er die Geräusche vom Gehöft hören, das Lachen von Rolant, die Worte der Frauen, durch das Dickicht der Sträucher kaum zu verstehen, das metallische Klopfen des Schmiedehammers, mit dem Manfred den alten Pflug bearbeitete. Eigentlich sollte Farold an der Senke Holz schlagen, doch die Axt lag unbeachtet im Gras. Er legte sich auf die Seite, so dass seine Wange auf dem Moos zu liegen kam, und beobachtete die Flechten. Mit den Fingern strich er über ihre pelzige Oberfläche und erinnerte sich daran, dass Aleke gesagt hatte, sie wären gut gegen blutende Wunden.
Seit vielen Nächten schon lag Eckart danieder und sie mussten die Arbeit für ihn mit erledigen, so dass Farold nicht mehr oft dazu kam, sich in den Wald zurückzuziehen. Er war nicht wie Arbogast, der von morgens bis abends auf den Feldern arbeiten konnte, ohne dass es ihm etwas auszumachen schien. Natürlich war ihm Arbogast an Kraft überlegen, die Tätigkeiten gingen ihm leichter von der Hand. Aber er empfand dabei nicht die Zufriedenheit, wie er sie bei dem großen, rothaarigen Jungen erblicken konnte, wenn sie im ersten Licht des Tages nach draußen traten und ihr Tagwerk begannen. Arbogast liebte den Geruch der Erde und das Wachsen des Getreides auf den Feldern. Er sah das ganze Land als einen Teil von sich an. Selbst Isbert, der viel lieber den Gesängen ihrer Vorfahren lauschte, fügte sich leichter in die Arbeit. Farold fühlte sich in der Enge des Gehöfts gefangen. Und doch blieb er. Für ihn gab es keinen Weg zurück, seit Ludger von den Räubern erschlagen worden war. Er hatte den harten strengen Mann gehasst, der ihn so häufig geschlagen hatte, dass er die Schläge irgendwann gar nicht mehr gespürt hatte. Doch in den lagen Winternächten war eine Unruhge in ihm gewachsen, die er fast schmerzhaft spüren konnte. Monat um Monat für Monat waren Ludger und er früher durch das gereist, um das Evangelium zu verkünden und die Heiden zu Gott zu bekehren. Durch alle Gaue des Sachsenreiches waren sie gezogen, unzählige Langhäuser, Gehöfte, Dörfer und Städte hatte er gesehen. Nun fühlte es sich fremd an, so lange an einem Ort zu verweilen. Den Gott der Christen vermisste er so wenig, wie er Zugang zu den Göttern der Sachsen besaß. Sie waren ihm einerlei. Doch Theodard war der erste Mensch, der gut zu ihm war. Ohne ihn wäre er von den Räubern erschlagen worden oder im Wald erfroren. Es war Theodards Hand, die ihn hier vor den anderen schützte, vor dem Hass des schneeblonden Jungen und seiner Mutter. Aber auch die anderen sahen ihn an, als wäre er ein Geschöpf der Nacht. Und nun hatte Theodard beschlossen, ihn in die Sippe aufzunehmen!
Am Abend würden sie sich in Theodards Halle treffen, ein Ochse war bereits geschlachtet worden. Ein starkes Tier, welches eine unersetzliche Hilfe bei der Feldarbeit bedeutete. Nun verblieben nur noch zwei andere Ochsen.
Farold ging zum Gehöft zurück. Am Waldrand blieb er stehen und beobachtete Arbogast und Rolant, die das Feld pflügten. Der Ochse senkte seinen schweren Kopf und tat einen weiteren Schritt. Arbogast zog am Stirnjoch, an dem der hölzerne Hakenpflug befestigt war, den Rolant führte. Der Wind trieb die Wolken schnell über ihre Köpfe hinweg. Seit dem Morgengrauen erwarteten sie den Regen, der das Pflügen des Ackers erschweren würde. Nun war die Hälfte des Tages herum und noch immer blieb es trocken. Rolant, der gebückt hinter dem Hakenpflug herging, hatte sein Schwert am Feldrand liegen gelassen; er war der Meinung, dass ein kluger Mann sich auch bei der Feldarbeit nie weit von seiner Waffe entfernen sollte. Mühsam stapften die beiden über den Acker, ihre Beinkleider verschmiert von Erde. Farold seufzte und kehrte zu seiner Axt zurück. Bis zum Dunkelwerden hatte er noch einiges an Holz zu schlagen.
Das Fleisch des Ochsen dampfte auf den großen Platten. Fettglänzende Hände griffen zu und stopften sich das reichliche Mahl in die Münder. Das Bier in den Trinkhörnern schäumte, die in hölzernen Gestellen vor ihrem Besitzer standen. Farold saß an der Seite von Theodard, auf dem Ehrenplatz gegenüber von Fredegard, und zupfte an dem Stück Fleisch vor sich herum. Die Frauen hatten frisches Brot gebacken, es gab Dickmilch und Met, man aß und trank und lärmte. Farold beobachtete die Sippe mit gesenktem Kopf. Manfred vertilgte mehr als jeder andere Mann am Tisch, die Muskelstränge seiner nackten Arme waren so gewaltig wie sein Appetit, dem der seiner Frau Wilburga nur wenig nachstand. Auf deren Schoßhockte eines ihrer Kinder, die Farold immer noch nicht auseinander halten konnte. Eckart saß am anderen Ende des Tisches, das Gesicht blass und eingefallen, und schenkte sich ein Bier nach dem anderen ein, während Aleke den Met bevorzugte. Sarhild sah immer wieder zu ihm herüber, doch er tat, als würde er es nicht bemerken. Die Brüder Arbogast und Isbert, die bald auch seine Brüder sein würden, saßen neben ihrer Mutter. Arbogast lachte viel und schlug Rolant häufig auf die Schulter.
Theodard füllte ein weiteres Trinkhorn mit Bier, nahm einen tiefen Zug und reichte es an seinen Ehrengast. Das Horn war so schwer, dass Farold es nur mit beiden Händen zum Mund heben konnte. Er trank einen Schluck des bitteren Getränks und reichte es weiter an Manfred, der es mit seiner riesigen Hand ergriff. Noch viele Hörner würden heute kreisen, eher der Abend vorüber war.
»Ja, manchmal«, hörte er Rolants Stimme über den Lärm hinweg, der sich an Arbogast wandte. »Ich kannte einen Mann, der lebte weit entfernt, der besaß ein Bärengewand und war ein Gast bei dem alten Owe. Sein Name war Björn. Ich war noch ein Junge, aber ich erinnere mich noch gut an die stürmische Nacht unter dem Dach des Owe, als draußen der Wind heulte und das Vieh sich ängstlich gegen die Wände drückte. Alle Männer und Frauen waren schweigsam, denn die Wölfe gingen um und hatten schon einige Tiere gerissen. Am frühen Morgen hatte einer der Männer mitten im Schneesturm einen großen Wolf gesehen, dessen Augen glühten wie die Glut in unserem Herdfeuer. Alle erwarteten sein Erscheinen. Der nächste Hof war weit entfernt und die ganze Zeit drang das Heulen der Wölfe durch den Sturm. Als das Heulen immer näher kam, erhob sich Björn und griff nach seinem Bärenumhang. In der Türöffnung blieb er stehen. Er legte sich den Umhang um seine Schultern. Seine Gestalt veränderte sich, wurde stämmiger, und vor aller Augen verwandelte er sich in einen riesigen Bären. Er blieb lange weg. Bei seiner Rückkehr trug er den Umhang über den Arm und das Fell war über und über mit Blut beschmiert. Keiner der Wölfe wurde diesen Winter mehr gesehen.«
»Sie können selbst zu Bären werden!«, sagte Isbert, dessen Wangen vom Alkohol gerötet waren.
Manfred, noch mit vollem Mund, beugte sich zu ihnen hinüber. »Mein Vater erzählte mir davon, dass einer in seiner Halle saß, während draußen ein ungeheurer Bär kämpfte und alle Gegner niederstreckte. Er war ein Bärenhäuter und während seine menschliche Gestalt im Hause weilte, kämpfte seine Tiergestalt draußen und erwürgte die Feinde.«
»Denn niemand kann ihnen Schaden zufügen«, sagte Isbert. »Es sind Wodens Männer, es gibt keine stärkeren Krieger als sie.«
Rolant wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich kämpfte mit ihnen gegen die Franken, als sie den Rhein überquerten. Ihre Schilde waren schwarz, ihre Leiber bemalt und sie kämpften meistens bei Nacht. Sie gingen ohne Rüstung in die Schlacht, toll wie Wölfe, und bissen in ihre Schilder. Ihre Kraft war glich den von zwölf Männern und weder Eisen noch Feuer konnten sie verwunden. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
Manfred nickte anerkennend und griff sich ein weiteres großes Stück vom Ochsenfleisch. Farold hatte noch nie einen Menschen so viel essen sehen.
»Unser Freund Manfred«, begann Isbert mit blitzenden Augen, »verschlingt so viel wie der verkleidete Donar beim Riesenkönig Thrym!«
»Und den Hammer habe ich auch!«, rief Manfred, von dem die Männer sagten, dass er mit seinem Schmiedehammer in den Kampf zu ziehen pflegte.
Rolant hob lachend die Hände und warf dem Schmied ein Stück Fleisch zu.
»Erzähl!«, riefen Aleke und Wilburga.
Man reichte Isbert ein Horn mit Bier und er erhob sich, so dass alle ihn sehen konnten. »Donar«, begann der Jüngling, »richtete eines Tages in seinem Heim ein Gelage aus, zu dem er die mächtigen Riesen lud. Dazu gehörte auch der Riesenkönig Thrym. Einige Götter warnten ihn davor, doch er ließ seinen Saal herrichten und lud zum Fest. Der Saal in Donars Heim strahlte an diesem Tag hell wie von Gewittern. Bis in die tiefe Nacht wurde reichlich Bier und Met gereicht. Es brach kein Streit aus, wie von Woden befürchtet, die Gäste verließen lärmend und fröhlich das Fest, und lobten Donars Friedfertigkeit. Aber als Donar am frühen Morgen erwachte und wie gewohnt nach seinem Hammer Mjöllnir griff, fand er den Platz leer. Da sprang Donar von seiner Bettstatt, wütete und raufte sich den Bart in unbändigem Zorn. Hatte einer der Riesen den Platz des Hammers erkundet und ihn geraubt, auf dass die Götter geschwächt würden? Die anderen Götter würden ihm Leichtsinnigkeit vorwerfen. So ging Donar zum klugen Loki und erzählte ihm davon. ›Mein Hammer ist gestohlen‹, sprach er und Loki bot ihm seine Hilfe an, denn er wollte einiges wieder gut machen, da er den Asen so manches Unglück beschert hatte. Sie gingen zur wunderschönen Freya und berichteten ihr von dem Diebstahl. Sie erklärte sich einverstanden, ihr Falkengewand zu verleihen. ›Ich würde Dir das Gewand auch geben, wenn es silbern wäre, du könntest es haben, wenn es golden wäre.‹ Donar reichte Loki das Gewand und bat ihn, nach Mjöllnir zu forschen. Loki streifte sich das Federnkleid über, verwandelte sich in einen Falken und flog über Asgard und Midgard, bis er nach Utgard kam. Endlich erreichte er das vom Riesenkönig Thrym. Thrym saß auf seinem Hügel und flocht aus purem Gold Halsbänder für seine Hunde. Der kluge Riesenkönig erkannte, wer das Falkengewand trug und rief Loki an: ›Was gibt es bei den Asen? Warum kommst du allein nach Utgard?‹ ›Schlimm steht es bei den Asen‹, erwiderte Loki, ›denn Donar wurde sein Hammer gestohlen. Hast du ihn versteckt?‹ Thrym flocht in Ruhe das Halsband zu Ende, während Loki ungeduldig um den Hügel kreiste. Als der Riesenkönig begann, die Mähne seines Lieblingspferdes zu kämmen, antwortete er endlich: ›Ich verbarg den Hammer tief unter der Erde und niemand holt ihn je wieder heim, bringt man mir nicht Freya als Weib.‹ Als Loki dies vernommen hatte, flog er mit rauschenden Schwingen zu Donar und trug ihm Thryms Worte zu. Sie beratschlagten sich, was zu tun sei und wagten kaum, Freya Thryms Forderung zu überbringen. Aber selbst der listige Loki fand keinen anderen Ausweg. Sie brauchten den Hammer, denn ohne Mjöllnir waren Midgard und Asgard in Gefahr. Also begaben sie sich zur schönen Liebesgöttin, die stolzeste und angesehenste aller Frauen, und Donar bat sie, das Brautlinnen anzulegen und mit ihm zu Thrym nach Thrymheim zu kommen. Freya tobte so vor Zorn, dass der ganze Göttersaal bebte und der Brisingamenschmuck zersprang. ›Erst müsste ich mannstoll werden‹, rief die Schöne, ›bevor ich mit dir nach Riesenheim gehe!‹ Die Lage war sehr ernst und man wusste keinen Ausweg. Es wurde ein Rat einberufen und die Götter besprachen sich, wie sie den Hammer zurückerlangen könnten. Selbst Woden wusste keinen Ausweg, bis Helmdall, der klügste der Asen, Donar vorschlug: ›Legen wir nicht Freya, sondern dir den Brautschleier um, schmücken dich mit dem Brisingamenschmuck, stecken dich in Brautkleider, dass sie dich bedecken, legen dir Edelsteine auf die breite Brust und kleiden dich mit einem zierlichen Kopfputz.‹ Als Donar das hörte, tobte er vor Zorn. Er raufte sich seinen roten Bart und weigerte sich, Frauenkleider zu tragen und sich zum Gespött aller Götter, Zwerge und Riesen zu machen. Doch man drang von allen Seiten in ihn, denn ohne Mjöllnir war jeder in Gefahr und schon bald würde der widerliche Riesenkönig in seiner Halle sitzen und die schöne Freya müsste ihm Bier nachschenken und zu Diensten sein. Ob er denn sie alle ohne Schutz lassen wolle, fragte da Woden. Donar schnaubte noch einmal, raufte sich den Bart und ließ sich widerwillig in Frauenkleider legen. Und so kam es, dass die Riesen Riesenheim zur Hochzeit schmückten und ein großes Festmahl gegeben wurde. ›Wie groß und kräftig ist Freya‹, rief Thrym, als er den verkleideten Donar erblickte, ›sie ist ganz und gar dem König der Riesen würdig.‹«
Die Männer und Frauen in Theodards Halle lachten und Isbert hob seine Hand: »Der stärkste der Götter, vor dem alle Riesen zitterten, stand hilflos und mit klirrenden Schlüssel am Gürtel zwischen den Riesen. Die Leinenhaube und der Schleier verbargen ihn gut, er senkte die Augen, damit man seinen stechenden Blick nicht bemerkte. Vor Wut trank er drei Tonnen Met und aß dazu einen Ochsen. Thrym war, als er das sah, sehr erstaunt und rief: ›Nie sah ich eine Braut so zulangen. Nie schlang eine Braut in solcher Gier. Nie sah ich eine Braut so saufen!‹ In der Halle wurde es so still, dass man die Braut atmen hören konnte. Da schlüpfte Freyas Dienerin neben die Braut und sagte, dass Freya acht Tage und acht Nächte weder getrunken noch gegessen hätte, so sehr verlangte es sie nach dem König Thrym. Der war zufrieden, als er dies hörte, trat zu der Braut, um sie zu küssen. Er hob ihren Schleier und lugte darunter, um mit einem Aufschrei zurückzuspringen. ›Wie fürchterlich glühen ihre Augen‹, rief er. ›Wie Feuer flammt ihr Blick!‹ Wieder war die flinke Dienerin an der Seite der Braut und sagte, die Braut habe acht Nächte nicht geschlafen, so sehr sehnte sie sich nach der Hochzeit mit dem großen Thrym. Andere Riesen warnten ihren König, aber Thrym war vor Liebe zur Freya entbrannt. Die Schwester des Riesenkönigs trat zur Braut und bat sie als Brautgeschenk um die Ringe an ihren Arm. Da sagte Thrym, man solle den Hammer bringen, doch die Gefährten des Königs überhörten die Worte. Da brüllte der Riese: ›Bringt Mjöllnir und legt ihm der Braut in den Schoß, weiht uns als Mann und Frau, wie es Sitte ist!‹ Acht Riesen trugen eine riesige Tafel herein, drauf lag Mjöllnir. Donar lachte das Herz in der Brust, als er seinen Hammer sah. Er ergriff ihn und schwang ihn mächtig. Der Schleier fiel ab und als die Riesen den roten Bart erkannten, wollten sie fliehen, doch der kluge Loki versperrte das Tor. Als Erstes erschlug Donar Thrym. Und für die dreiste Königsschwester gab es statt goldener Ringe krachende Hiebe. So erschlug Donar die gesamte Sippe des Riesenkönigs und holte sich seinen Hammer zurück!«
Die Männer und Frauen in Theodards Halle lachten und schlugen sich auf die Schenkel. Isbert leerte das Horn in einem Zug, dass ihm die Flüssigkeit über das Kinn rann.
»Wohl erzählt!«, sagte da Theodard und warf Manfred einen Blick zu. »In der Tat steckt in manchem Hammerträger mehr, als der erste Blick zu offenbaren vermag.«
Manfred, der seine Zähne gerade in das saftige Keulenstück geschlagen hatte, hielt inne und bekam große Augen. »Niemand«, rief er, dass er fast das Fleisch wieder ausspuckte, »steckt mich in die Kleider eines Weibes!«
»Von welchem Weib sollte denn so ein Kleid sein?«, warf Theodard lachend ein.
»Von seiner Frau natürlich!«, erwiderte Rolant.
Manfred spuckte den Rest des Essens aus und langte über den Tisch hinweg, aber Rolant wich dem Schmied geschickt aus. Die Frau des Schmieds hatte mehr Glück. Wilburga schüttete Rolant die Flüssigkeit ihres Trinkhorns ins Gesicht, dass er aussah, als wäre er im Fluss schwimmen gewesen. Prustend rieb er sich über die Augen und schüttelte seine nassen Haare. Sogar Eckart musste lachen, doch am lautesten lachte Rolant selbst.
Mitten in dem Trubel erhob sich Theodard am Kopf des Tisches, ein silbernes Trinkhorn in der Hand, dessen feine Gravuren durch den langen Gebrauch kaum noch zu erkennen waren. Seine große Gestalt zeichnete sich deutlich vor dem Herdfeuer ab. Schnell wurde es still in der Halle. »Als wir diesen Jungen in unsere Halle aufnahmen«, sagte er, »gaben wir dem Heil, der nichts besaß. Speis und Trank stärkten ihn. Nun ist er bald ein Teil unserer Sippe. Unsere Vorfahren werden seine Vorfahren, unser Heil wird seines werden. Alles, was er in Zukunft tun wird, wird uns betreffen, und jede unserer Handlungen wird auch die seine sein.«
Farold griff in seine Tasche und spürte das kleine silberne Kreuz. Seine Finger fuhren die vertrauten Umrisse und die feinen Ziselierungen nach, die auf der Vorderseite eingraviert waren. Sein Herz klopfte so stark in seiner Brust, dass er fast keine Luft bekam.
Theodard nahm einen Schluck aus dem silbernen Horn und reichte es an seine Frau weiter. Fredegard zögerte kurz, blickte Farold an, dann trank sie, ohne eine Miene zu verziehen.
Sie ist nicht glücklich darüber, dachte Farold, am liebsten würde sie mich in den Wald hinausjagen. Alles, was er in Zukunft tun wird, wird uns betreffen, und jeder unserer Handlungen wird auch die seine sein.
Isbert versteckte seine Gefühle nicht so gut, als er das Horn entgegennahm. Farold wendete sich an Theodard, der dabei zusah, wie das Horn langsam um den Tisch kreiste, bis es bei ihm ankam. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, während er den letzten Schluck aus dem Horn nahm. Als dies geschehen war, kehrte Schweigen ein und das Knistern des Herdfeuers war deutlich zu hören. Theodard trat neben den Schuh, den er am Morgen aus dem Fell des rechten Beines des geschlachteten Ochsen gefertigt hatte. Er stellte seinen bloßen Fuß in den großen Schuh und Farold meinte, die alte Sassia auf ihrem Platz hinter dem Herdfeuer kichern zu hören.
Wie im Traum folgte Farold der Aufforderung Theodards. Das Dach der Halle schien mit jedem Schritt immer höher zu wachsen, kein Anwesender sagte etwas. Theodard blickte ihn so ernst an, dass Farold nicht mehr sicher war, ob er ihm wohl oder übel gesinnt war. Er wischte sich die feuchten Handflächen an der Tunika ab und blieb vor dem großen Mann stehen, den Blick auf das Donaramulett gerichtet, welches der Mann an einer Lederschnur um seinen breiten Hals trug, ein auf dem Kopf stehender Hammer. Theodard nickte zu dem Schuh aus Ochsenfell. Farold begann mit unsicheren Fingern, sein Fußzeug zu lösen. Schweiß lief ihm in die Augen und er musste sich mehrmals mit dem Ärmel über die brennenden Lider fahren. Der Schuh war ihm viel zu groß. Als seine Fußsohle das Ochsenfell berührte, spürte er die raue Oberfläche. Für einen Augenblick durchzuckte ihn das Gefühl, dass die lange Kette von Theodards Ahnen ihm dabei zusah, ihre Gesichter ihm zuwandten und ihre Augen sein Handeln betrachteten. Er bemerkte kaum, wie er den Fuß wieder aus dem Schuh zog und auf die Bank zurückkehrte.
Einer nach dem anderen trat nun nach vorne und stellte seinen Fuß in den Ochsenfellschuh. Farold bekam von dem kaum etwas mit. Was war passiert? Farold fröstelte am ganzen Körper. Der Rauch des Herdfeuers reizte seine Kehle, er hustete und trank mit einem Zug das Horn leer, bis ihm schwindelte.
Dann erhob sich Isbert und stellte seinen Fuß in den Schuh. Plötzlich zuckte er zusammen, als hätte er seine Zehen in Eiswasser gestreckt. Farold wurde aus seinen Gedanken gerissen und bemerkte, wie sich die Hände des weißhaarigen Jungen verkrampften. Er riss den Fuß so schnell wieder hinaus, dass er dabei nach hinten fiel.
Fredegard sprang sofort zu ihrem Sohn und streichelte über sein Haar, doch dieser schüttelte nur den Kopf. »Mir war schwindlig geworden, das Bier bekam mir nicht!«, sagte er betont ruhig, aber Farold konnte das leichte Zittern in seiner Stimme wahrnehmen. Seine Mutter schien sich damit zufriedenzugeben. Als nun Theodard die Worte an die Anwesenden richtete, war der Rest von Sorge aus ihrer Miene gewichen.
»Ich führe diesen Jungen zu Gütern, die ich ihm gebe, zu Gabe und Entgelt, zu Stuhl und Sitz, zu Buße und vollem Mannesrecht, als ob seine Mutter mit Brautgeschenk geworben worden wäre.« Theodard reichte ihm einen Silberarmreif. Farold sah auf, als er das kostbare Geschenk gewahrte. Es schien wirklich für ihn zu sein. Der Silberreif war über und über mit verschlungenen Ästen verziert, vier Runen blinkten im Licht des Feuers. »Ich bestätige und gebe dir den Namen Farold!«, sagte Theodard, »und ich wünsche dir Heil in dem Namen!«
Farold nahm vorsichtig den Armreif und legte ihn um sein schmales Handgelenk. Er war ihm zu groß und doch hatte Farold noch nie so etwas Schönes gesehen, mit Ausnahme seines Silberkreuzes. Die Männer und Frauen hoben ihre Hörner und hießen ihn mit lautem Rufen willkommen.