Читать книгу Der Neiding - Michael J. Awe - Страница 8
ОглавлениеIrminsul
Mit einem Aufseufzen ließ sich Arbogast auf einen Fels am Wegesrand fallen und streckte die langen Beine aus. Seit den frühen Morgenstunden war er mit seinem Vater und seinen Brüdern unterwegs und hatte nur eine kurze Rast im Schatten einer Eiche gemacht, um den Proviant zu verzehren. Theodard, der mit seinen ruhigen, gleichmäßigen Schritten etwas vorausgegangen war, blieb stehen und stützte seine kräftigen Arme in die Hüfte. »Wenn du so weitermachst, werden wir die Eresburg erst weit nach Anbruch der Dunkelheit erreichen.«
Arbogast spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und hörte den fröhlichen Isbert lachen. Sein jüngerer Bruder blieb neben ihm stehen und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. »Unser Rotschopf ist sesshaft wie eine Eiche und verlässt den Hof nicht gerne. Für ihn wiegt jeder Schritt doppelt!« Isbert lachte übermütig. Er freute sich von allen am meisten, zur Irminsul zu reisen. »Guck dir Farold an«, sagte Isbert und zeigte auf den schwarzhaarigen Jungen, der gerade aus dem Nadelgehölz auf den Weg trat. »Er ist wie einer der Hunde der Edelinge, die beständig links und rechts des Weges streben.«
Arbogast knurrte unwillig und besah sich den drahtigen Jungen, der leichtfüßig zu Theodard lief, musste dann aber doch lächeln. Seit Theodard den Jungen in die Sippe aufgenommen hatte, vergalt Farold dies mit einer Anhänglichkeit an seinen Adoptivvater, dass Isbert ihm schließlich den Namen »Vaters Schatten« gegeben hatte.
Der schmale Pfad machte einen Knick nach links und gab den Blick ins Tal frei, durch das sich ein Fluss wand. »Das ist die Diemel!«, erklärte Theodard und blinzelte gegen die Sonne zum glitzernden Gewässer hinunter. »Etwas weiter hinten fließt sie in die Weser.«
Arbogast, der erst zweimal den heimatlichen Hof verlassen hatte, bestaunte die Aussicht, die sich ihnen bot. Für sie alle war der Weg zur Irminsul, des größten Heiligtums ihres Volkes, eine große und aufregende Reise. Nur Farold schien nicht aufgeregter als sonst zu sein. Arbogast kletterte auf einen kleinen Hang, um eine bessere Sicht ins Tal zu haben, strich sich das dichte rote Haar aus der Stirn und ließ seinen Blick über die hügelige Ebene schweifen, die sich so sehr von seiner flachen Heimat Westfalen unterschied. Noch nie war er so weit vom heimatlichen Hof entfernt gewesen. Als ihr Vater ihnen vor einigen Nächten seinen Entschluss mitteilte, hatte er jeden Augenblick darauf hingefiebert und die Hofarbeit war ihm doppelt so schnell von der Hand gegangen. Rolant war schon vor drei Nächten aufgebrochen, um eine befreundete Sippe in der Nähe aufzusuchen, und wollte sie an der Irminsul erwarten. »Der Weltenbaum!«, flüsterte Arbogast. Isbert redete seit Tagen von nichts anderem, so dass sogar Fredegard ihn einmal gescholten hatte, er solle sich doch mehr auf das Tagwerk konzentrieren. »Ein Tag, der es wert ist unseren Nachkommen überliefert zu werden«, hatte Arbogast gespottet und diesmal war es Isbert, der ihn sprachlos musterte.
»Man kann sie noch nicht sehen«, sagte Isbert, der neben Arbogast auf einen flachen Fels geklettert war. Sein langes weißblondes Haar flatterte im Wind. »Wusstest Du, dass sie so gewaltig ist, dass vier Mann zusammen sie nicht umfassen können ...« Isberts Augen glänzten. Arbogast fragte sich, ob sein Bruder die letzte Nacht überhaupt geschlafen hatte. »Sie ist die Verbindung zwischen Himmel und Erde, wenn sie unterbrochen ist, gerät die ganze Welt ins Wanken!«
Arbogast erschauerte und wandte sich ab.
Sie gingen, bis die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel erreicht hatte, und setzten sich in den Schatten einer Eiche. Theodard griff in seinen Beutel und verteilte den Proviant. »Das ist der Rest, esst euch satt. Heute Abend werden wir in der Eresburg sein.«
Arbogast riss etwas vom Brot ab und reichte es an Isbert weiter.
»Wann warst du das letzte Mal hier, Vater?«
Theodard lachte und lehnte sich zurück. Er streckte seine langen Beine von sich und blinzelte zufrieden in das helle Licht des Tages. »Damals warst du noch so klein, dass du mir nur bis zur Hüfte reichtest. Rolant trug gerade sein erstes Sax und begleitete mich. Es war immer etwas in ihm, das ihn in die Ferne zog. Er war damals noch sehr wild und wollte in der Eresburg andere Männer treffen, um seine Fähigkeiten im Kampf zu schulen. Die Eresburg schien ihm ein guter Ort dafür zu sein.«
Farold nahm einen tiefen Schluck Wasser und ließ sich auf die Fersen nieder. »Und dann?«
»Er ging zu einem der besten Kämpfer und forderte ihn zu einem Übungskampf heraus. Er hieß Maginhard, überragte alle anderen um eine Kopfesgröße und hatte einen Brustkorb wie ein Eisenkessel.«
»Was passierte?«, fragte Isbert, der seinen Vater mit großen Augen ansah.
»Rolant wurde fürchterlich verprügelt!« Sein Vater lachte laut und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Ich wusste bis dahin nicht, welche Farbe ein menschlicher Körper annehmen kann. Er war grün und blau und musste auf sein Lager getragen werden.«
»Rolant wurde verprügelt?« Farold machte ein ungläubiges Gesicht.
»Am anderen Tag«, erzählte Theodard, »erhob sich Rolant im Morgengrauen und humpelte zum Lager von Maginhard, um ihn mit einem Eimer Wasser zu wecken. Rolant sagte ihm, er hätte gestern nur Glück gehabt und diesmal sei er besser vorbereitet.« Theodard musste so lachen, dass er sich an seinem Brot verschluckte, und winkte Farold nach dem Wasser. Nachdem er getrunken hatte, strich er sich Wassertropfen aus dem Bart. »Diesmal wurde Rolant so verprügelt, dass die ganze Eresburg davon geweckt wurde. Schließlich war Maginhard so erschöpft, dass er darauf verzichtete, weiter auf Rolant einzuschlagen. Ich schleppte Rolant wieder zu seinem Lager, von dem er sich drei Tage nicht mehr erhob.«
»Und dabei nennt Rolant Arbogast immer einen Dickschädel!«, murmelte Isbert.
Arbogast gab ihm einen Stoß, dass er aus der Hocke nach hinten kippte.
»Am vierten Tag«, fuhr Theodard fort, »schleppte sich Rolant wieder zum Lager von Maginhard und baute sich vor ihm auf. Maginhard öffnete nur ein Augenlid und drehte sich dann seufzend auf die Seite. ›Komm morgen wieder‹, sagte er zu ihm, ›dann zeige ich dir, wie man nicht in jeden Schlag hineinläuft‹. Also blieben wir noch einige Zeit und während Rolant lernte, auch mal Schlägen auszuweichen, trank ich mit den anderen Männern. Es war ei ...«
Ein dumpfer Schlag riss das Wort von seinen Lippen.
Ein Pfeilschaft, so dick wie ein Finger, ragte aus Theodards Bein. Arbogasts Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, dann schien alles auf einmal zu passieren. Farold schrie laut auf und mit einem Fluch versuchte Theodard, auf die Beine zu springen. Schreie erklangen aus dem Wald und gerüstete Männer brachen aus den Büschen hervor, die Äxte und Schwerter blinkten bösartig im Abendlicht.
Franken, fuhr es Arbogast durch den Kopf, als er die bärtigen Gestalten auf sie zustürzen sah. Er riss das Messer aus seinem Gürtel.
»Hinter mich!«, rief Theodard, der keine Zeit hatte, sich den Pfeil aus dem Oberschenkel zu ziehen. Er hatte das Bein komplett durchschlagen, Arbogast konnte die geschliffene Pfeilspitze sehen, die auf der anderen Seite blutig herausragte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst um seinen Vater. Die Furcht ließ ihn erstarren.
Drei Männer stürzten auf sie zu, den Blick auf Theodard geheftet und die Waffen erhoben.
Wo kamen diese Männer so plötzlich her?, dachte Arbogast und umklammerte den Griff des Messers.
Der erste Franke erreichte seinen Vater und Theodard stieß ihm das Hiebschwert in die Seite. Mit einem Aufschrei torkelte der Mann noch einige Schritte weiter und brach neben Isbert zusammen, der bleich wie ein Toter geworden war. Der nächste Krieger prallte aus vollem Lauf auf Theodard, der sich wegen seines Beines nicht schnell genug bewegen konnte. Ein dumpfes Geräusch ertönte. Theodard drehte den Körper und sein bärtiges Gesicht verzerrte sich, als er sein Gewicht auf das verletzte Bein verlagern musste. Sein mächtiger Brustkorb spannte sich und er schlug den Griff des Hiebschwertes gegen den Hinterkopf des Mannes, dessen Genick mit einem Knirschen nachgab. Dann knickte das verletzte Bein Theodards unter seinem Gewicht ein.
Der dritte Franke hielt einige Schritte vor Theodard an und kniff die Augen zusammen. Zögerlich drehte er die Wurfaxt in der Hand. Theodard stützte sich am Boden ab, sein Gesicht war leichenblass. Arbogast stieß die Luft aus. Im nächsten Moment rannte er schreiend auf den Mann zu. Er hörte seinen Vater rufen, aber das Blut pochte ihm zu stark in den Ohren, um es verstehen zu können. Wie in einem seiner Träume stürmte er auf den Mann zu, der sich erstaunlich schnell zu ihm umwandte.
Zu schnell!
Der Krieger riss den Arm mit der Wurfaxt hoch. Ohne nachzudenken warf Arbogast sein Messer. Es drehte sich blitzend im Sonnenlicht – und verfehlte den Körper des Kriegers um Haaresbreite. Vorbei, schoss es Arbogast durch den Kopf.
Er hatte den Krieger beinahe erreicht. Aber nur beinahe! Nun war er unbewaffnet und nur wenige Schritt entfernt, ein leichtes Ziel für die fränkische Axt.
Die Hand des Mannes zuckte nach vorne und Arbogast riss die Augen auf. Im nächsten Moment bäumte sich der Krieger auf, den Mund weit aufgerissen, und brach zusammen. Ein Pfeil ragte aus seinem Rücken.
Am Waldrand ließ Rolant den Bogen sinken, seine Kleidung blutverschmiert.
»Was ist mit der Eresburg?«, fragte Theodard, während Rolant mit einem abgerissenen Stoff seiner Tunika den Oberschenkel verband. Rolants Kleidung zeigte deutliche Spuren eines Kampfes und der rechte Ärmel war dunkel von getrocknetem Blut.
»Die Eresburg gibt es nicht mehr!«, antwortete Rolant.
Sie saßen noch an ihrem Lagerplatz und Arbogast ließ seinen Blick über die toten Franken schweifen, die sie überfallen hatten. Sein ganzer Körper pulsierte von den Nachwirkungen des Kampfes und er spürte das Leben in jeder einzelnen Faser. Doch bei den Worten von Rolant wallte Zorn in ihm auf.
Sie starrten Rolant an und Theodard stellte schließlich die Frage, die ihn allen auf den Lippen lag.
»Und die Irminsul?«
Rolant senkte den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Er antwortete nicht.
»Was ist mit der Irminsul?«, wiederholte Theodard.
Arbogast sah, wie Rolants Blick starr wurde und das Verbandsmaterial in seinen Händen fixierte. »Es gab einen langen Kampf!«, sagte der junge Krieger.
»Erzähl!«, forderte Theodard ihn auf.
Rolant verknotete den Verband an Theodards Oberschenkel und setzte sich neben ihn. »Es waren viele Krieger und König Karl führte sie persönlich an«, erklärte Rolant und trank einen Schluck von dem Met. »Gepanzerte Reiter und Krieger, wohin das Auge blickte. Wir stellten uns ihnen im Kampf, während sie gegen die Wälle der Eresburg anrannten. Wir teilten Hiebe aus, bis die Waffen stumpf wurden. Überall sanken Männer zu Boden. Die Luft war voller Blut der Verwundeten und Gefallenen, viele Einherier wurden in Wodens Halle geholt. Bei Nacht kamen die Berserker und wüteten unter den Franken, die in wilder Panik auf sie einschlugen, aber ihre Überzahl war überwältigend. So viele Franken wir auch erschlugen, die Zahl der Gegner schien nicht abzunehmen. Nach zwei Tagen und Nächten brandeten sie immer noch gegen den Wall der stolzen Eresburg. Irgendwann schließlich durchdrangen die Franken unsere Reihen.«
Theodards Blick ruhte die ganze Zeit auf dem Gesicht von Rolant, seine Augen waren nur noch schmale Schlitze. »Konntet ihr die Irminsul schützen?«
Rolant schüttelte langsam den Kopf. Es brauchte eine Zeit, bis Arbogast die Worte des jungen Kriegers verstehen konnte: »Die Franken zerstörten sie!«
Theodard krallte seine Hände in das Gras und schrie vor Wut laut auf. »Gottneidinge!«
»Das kann nicht sein!«, flüsterte Isbert so leise, dass nur Arbogast es hören konnte, der dicht neben ihm saß.
Arbogast schloss die Augen und hörte die Wutschreie seines Vaters wie durch einen Nebel hindurch. Er fühlte seine Hände kalt werden und das Gesicht brannte, als hätte man es in glühenden Kohlen gehalten. Immer wieder hörte er die Worte Rolants, bis sie keinen Sinn mehr ergaben. Langsam öffnete Arbogast wieder die Augen.
Rolant hatte Theodard die Hand auf die Schulter gelegt und redete auf ihn ein. »Die Franken brauchten drei Nächte, um sie niederzureißen, während ihre Kuttenträger Beschwörungen sangen.«
»Wenn die Verbindung unterbrochen ist, gerät die Welt ins Wanken ...«, zitierte Isbert mit leerer Stimme und alle wussten, was er meinte. So wie Yggdrasil zu Beginn des Weltenbrandes fällt, bedeutet auch die Zerstörung der Irminsul den Verlust der Verbindung von Himmel und Erde. Ihr Fall kündigte ein neues Zeitalter an.
Ein neues Zeitalter, dachte Arbogast, unsere Vorfahren haben es gewusst. Feuer und Schwert werden die Welt verwüsten, dies war ihr aller Schicksal.
Theodard spuckte aus und setzte einen Trinkschlauch mit Met an die Lippen, den er halb leerte, bevor er ihn Roland reichte. Der junge Mann fuhr fort: »Mit einigen wenigen gelang mir die Flucht. Wir versteckten uns in den Wäldern, da es überall von fränkischen Kriegern wimmelte, und beschlossen, die Kunde von dem, was wir gesehen hatten, in alle Gaue zu tragen.«
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Theodard mit versteinertem Gesicht.
»Gestern zog König Karl mit seinem Heer weiter Richtung Rhein, aber es sind noch viele kleine Gruppen fränkischer Krieger in der Nähe. Eine Besatzung wurde in der Eresburg zurückgelassen. Ich sah nie ein so großes Heer.« Rolant wirkte fassungslos. »Es stimmt, dass ihr König ein Mann aus Eisen ist.«
»Ich muss sie sehen!«
Alle Augen wendeten sich Isbert zu, der bleich und erschöpft aussah. Arbogast schüttelte den Kopf. »Du hast doch gehört, die Irminsul steht nicht mehr.« In dem Moment, wo er die Worte aussprach, kamen sie ihm selbst unwirklich vor.
»Ich will sie sehen!«, beharrte Isbert und presste die Kiefer fest zusammen. »Wenn ihr nicht mitkommt, gehe ich alleine ...«
»Um den Franken in die Hände zu fallen?«, fragte Theodard.
»Ich werde mich in den Wäldern verstecken, wie Farold ... Keiner wird mich sehen!«
Arbogast hatte seinen jüngeren Bruder noch nie so verbissen gesehen. Die Augen glänzten fiebrig und er machte den Eindruck, als wollte er jeden Moment aufspringen und in den Wald laufen. Aber er hatte recht! Waren sie den langen Weg gegangen, um jetzt, kurz vor dem Ziel, wieder umzukehren? Er musste die Zerstörung des Heiligtums, den ganzen Stolz ihres Volkes, mit eigenen Augen sehen. Dieser gigantische Weltenbaum, von dem ihnen ihr Vater erzählte, seit Isbert und er kleine Kinder gewesen waren, zu dem schon sein Vater und dessen Vater und Generationen von Sachsen gezogen waren ...
»Es ist nicht mehr weit, warum sollten wir jetzt umkehren?«, meinte Arbogast und erhielt einen dankbaren Blick von Isbert. »Ich will sehen, was die Franken uns angetan haben. Vater, wir können nicht einfach nach Hause zurückkehren wie geprügelte Hunde!«
»Geprügelte Hunde!« Die Fäuste seines Vaters ballten sich. »Die Franken haben keine Ahnung, was sie losgetreten haben! König Karl wird noch lange an diesen Tag denken, als das Unglück seinen Anfang nahm.«
»Dann gehen wir also?«, sagte Farold, der bis dahin still an Theodards Seite gesessen hatte.
»Ja, wir gehen!«, antwortete Theodard.
Arbogast meinte zu sehen, wie Farold bei diesen Worten zusammenzuckte.
Lange starrten sie aus dem Unterholz auf den verwüsteten Platz, über dem noch immer der Brandgeruch hing. Ein schwacher Wind wehte die Asche bis zu ihren Füßen, die Äste und Blätter bedeckte. Die Erde war schwarz und verkohlt, wo man die riesige Irminsul gefällt hatte, von deren Stamm dünne Rauchfäden aufstiegen. Überall lagen tote Krieger, Sachsen wie Franken, und Krähen staksten zwischen den Leichnamen hin und her. Ihr Krächzen hallte schrill über den Platz.
Seit sie den heiligen Hain betreten hatten, war ihnen die große Anzahl an Krähenvögel aufgefallen. Sie wussten, dass Wodens Boten darunter sein mussten und er schon Kunde von dem Schicksal der tapferen Männer besaß, die ihr Blut vergossen hatten. Sie hatten einen Bogen um die besetzte Eresburg gemacht und waren durch dichte Wälder gegangen, durch die sie Rolant führte. Die knorrigen Bäume hatten ihre bemoosten Äste hoch über ihren Köpfen in den Himmel gestreckt und der zunehmende Wind hatte bösartig in ihnen gesungen. Der Groll der Bäume war deutlich zu spüren gewesen. Isbert hatte immer wieder Schutzzeichen geschlagen, während er den Kopf zwischen die Schulter zog. Ehrfurchtsvoll waren sie unter den mächtigen Kronen der alten Riesen entlanggeschritten. Manchmal hatten sie die entfernten Stimmen fränkischer Krieger gehört, aber Theodard wollte sich auf keinen Kampf einlassen, bis sie die Irminsul erreichten. Er hatte befürchtet, eine Übermacht feindlicher Truppen damit anzulocken und ihnen den Rückweg unmöglich zu machen. Dass seine Söhne dabei waren, schien ihm nicht zu behagen, denn er sah sich häufiger als üblich um und trieb sie zur Eile an, obwohl das Gehen ihm sichtbar Schmerzen bereitete. Schon bald war der Verband durchgeblutet, aber Theodard schüttelte nur entschlossen den Kopf und ließ sich keine Schwäche anmerken. Doch zum Schluss war sein Hinken so stark geworden, dass er das Tempo nicht mehr halten konnte und sie langsamer den Hain durchqueren mussten. Arbogast fragte sich, wie er den Rückweg schaffen wollte.
In einem Kreis um die riesige Irminsul lagen nackte Männer mit geschwärzter Haut, die Berserker. Viele fränkische Krieger waren von ihrer Hand gefallen, so dass die Berserker fast unter ihnen begraben waren.
»Es sind wahrhaft dem Woden geweihte Männer!«, sagte Isbert.
Im Gegensatz zu den anderen Toten waren bei den Berserkern keine Wunden sichtbar und es schien Arbogast, als könnten sie jeden Augenblick wieder aufspringen und in ihren Kampfesrausch verfallen. Lange blieben ihre Blicke an dem Heiligtum hängen. Arbogast ballte die Hände zu Fäusten, so sehr fraßen Wut und Schmach an ihm. Er wünschte, er wäre einige Jahre älter gewesen und hätte mit seinem Schwert die Irminsul verteidigen können. So gewaltig war ihr Umfang, dass Arbogast verstehen konnte, dass die Franken mehrere Tage brauchten, um sie zu zerstören. Die wenigen Hütten innerhalb des heiligen Haines waren niedergebrannt worden und hier lagen auch die Körper einiger Frauen. An seiner Seite bewegte sich Isbert unruhig und Arbogast blickte ihn fragend an.
»Die Weihegaben!«, flüsterte er.
Arbogast erinnerte sich an Erzählungen von sagenhaften Gold– und Silberschätzen, die im Laufe der Generationen den Göttern geopfert wurden, und fragte sich, ob die Franken sie gefunden hatten.
»Sie haben alles Gold und Silber mit sich fortgeführt«, antwortete Rolant, »um es dem Königsschatz einzuverleiben.«
»Seht!«, sagte Farold und zeigte auf den Platz hinaus. »Sie bewegt sich!«
Vor einer der Hütten lag ein Mädchen auf dem Rücken, es musste ungefähr ihr Alter haben, und versuchte sich langsam auf den Rücken zu drehen. Der untere Teil ihres Kleides war schwarz von Blut.
»Ich helfe ihr!«, stieß Farold hervor und sprang auf die Lichtung hinaus, bevor Rolant ihn festhalten konnte. Leichtfüßig setzte er über einige reglose Körper hinweg auf die Hütte zu.
Rolant fluchte leise und spannte seinen Bogen, während Theodard die Umgebung der Lichtung beobachtete.
»Ein leichtes Ziel für jeden Bogenschützen!«, sagte er und kniff die Augen zusammen.
Geduckt lief Farold über den Platz zu den verkohlten Hütten. Einige Krähen flogen mit lautem Flügelschlagen auf. Seine ganze Haut kribbelte, während er über die von allen Seiten offene Fläche rannte. Schnell wie ein Windhauch setzte er über zwei am Boden liegende Männer hinweg und kam ohne ein Geräusch wieder auf. Seine Füße berührten kaum den Boden, so schnell lief er.
Das Mädchen lag auf dem Rücken und presste eine Hand auf ihren Bauch, wo der Stoff des Kleides schwarz war. Ihr langes dunkelblondes Haar war von dem Feuer versengt, eine Seite ihres Gesichtes rußgeschwärzt. Als sie seine Schritte hörte, versuchte sie den Kopf in seine Richtung zu drehen.
Farold fiel auf die Knie. »Keine Angst!«, keuchte er. »Ich bin ein Sachse so wie du!«
Ihre hellen Augen waren vor Schmerz verschleiert, ihre Lider flatterten nervös, während sie versuchte, die Person über sich zu erkennen.
»Wer ... bist ... du!«, flüsterte sie mit aufgesprungenen Lippen.
»Ich bin Farold!«, sagte er und zog den Verschluss seiner hölzernen Wasserflasche auf. »Hier, trink!«. Er ließ ihr einige Tropfen Wasser in den Mund rinnen, die sie mühsam schluckte.
Die Hand auf ihrem Bauch verkrampfte sich und sie drehte den Kopf zur Seite, als sie würgen musste.
»Wir werden dir helfen!«, sagte Farold. Der Blutfleck auf ihrem Bauch war erschreckend groß.
»Die Franken ...«, flüsterte sie.
»Wir wissen es!«, sagte Farold.
»Sie ... haben ... sie ... zerstört ...«
Er hörte hastige Schritte und sah, dass Arbogast auf sie zurannte. Hinter ihm traten Theodard, Isbert und Rolant aus der Deckung. Rolant hielt den Bogen gespannt und sah sich aufmerksam um.
Das Mädchen hustete und griff nach seiner Hand. »Sie ... haben ...«
»Es ist nur ein Holzklotz!«, antwortete Farold und drückte sanft ihre Finger. »Wir werden eine neue Irminsul haben!«
»Nein!«. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nicht ... nur ... ein ... Holzklotz!«
Ihre hellen Augen schauten zu ihm auf und er fragte sich, ob sie ihn überhaupt erkennen konnte. Sie war so alt wie er, vielleicht etwas jünger, und erschien ihm mit ihrem schlichten blauen Kleid so leicht, dass er sie problemlos allein von der Lichtung hätte tragen können. Ihr feines Gesicht mit den hohen Wangenknochen erinnerte ihn an Sarhild und versetzte ihm einen Stich in die Brust.
»Wie geht es ihr?«, keuchte Arbogast und hockte sich neben sie. Sein Gesicht war ernst, während er die Blutungen betrachtete.
»Sie lebt!«, antwortete Farold, der noch immer ihre Hand hielt.
»Wir müssen sie von hier wegbringen!«, sagte Arbogast und strich sich das rotgelockte Haar aus dem Gesicht. »Ich kann sie tragen!«
»Mutter!«, seufzte das Mädchen, als Arbogast sie anhob. Es schien ihm nicht die geringste Mühe zu machen.
Farold sah zu den Frauen hinüber, die leblos neben den Hütten lagen, und presste die Kiefer aufeinander. Er sprang auf und lief zu ihnen, doch waren sie alle nicht mehr am Leben. Ihre starren Augen schauten ihn an, andere waren von den Krähen herausgepickt worden. Farold schauderte und wandte sich von den Toten ab. Ein süßlicher Gestank lag über der ganzen Lichtung, sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er drehte den Kopf zur Seite und spuckte Galle aus, die ihm in den Mund gestiegen war. Seine Hände fühlten sich kalt an.
Hatten all die Menschen ihr Leben wirklich für das am Boden liegende Ding gegeben, das man Irminsul nannte und das nun gefällt und verkohlt vor ihnen lag? Noch nie hatte er so viele Tote auf einem Fleck gesehen. Sein Blick glitt hektisch von einem Körper zum nächsten und er wollte schnell weg von diesem Ort.
Arbogast sah zu ihm herüber und Farold schüttelte leicht den Kopf. Sein Bruder nickte und trug das Mädchen zu den Anderen. Isbert hockte vor der Irminsul, auf die Entfernung konnte Farold den hellen Fleck seines Haares deutlich erkennen. Sein Vater und Rolant beugten sich über das Mädchen.
»Zeig her!«
Theodard untersuchte die blutende Wunde des Mädchens an und blickte zu Isbert hinüber, der immer noch bei der gefallenen Irminsul hockte. »Eine Stichwunde unter den Rippen, sie hat lange ausgehalten!«
Dem Mädchen waren die Augen zugefallen, sie schien nichts mehr mitzubekommen von dem, was um sie herum geschah.
»Wir müssen sie mitnehmen!«, sagte Arbogast, doch stockte er, als er den Gesichtsausdruck seines Vaters sah. »Sie wird es nicht schaffen, oder?«
Bedauernd schüttelte sein Vater den Kopf. »Selbst wenn Aleke hier wäre und wir das Mädchen in Ruhe betten könnten ...«
Arbogast schloss vor Wut die Augen. »Ich hasse die Franken!«, fluchte er und fühlte sich so hilflos, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Der warme Körper in seinen Armen würde schon bald erkalten und niemals würde das Mädchen auf ihren Hof zurückkehren.
In diesem Moment hörten sie Isbert schreien und fuhren herum. Isbert lief mit wehendem Haar auf sie zu. Hinter ihm brachen Reiter aus dem Wald. Ihre Rüstungen funkelten matt in der Sonne, während sie im Galopp auf die Lichtung stürmten. Arbogast stieß die Luft zwischen den Zähnen aus, als er sah, wie viele es waren.
»Zwölf Reiter!«, stieß Rolant hervor und hob seinen Bogen. Er zog die Sehne bis ans Ohr zurück und ließ den Pfeil mit einem Schnappen der Sehne los. Isbert rannte, so schnell er konnte, und doch hatte ihn einer der Reiter fast schon eingeholt. Im nächsten Augenblick wurde er von Rolants Pfeil aus dem Sattel geworfen.
Die anderen Männer zügelten ihre Pferde und sprangen ab, um hinter ihnen Deckung zu suchen. Isbert stolperte über einen am Boden liegenden Krieger und wankte mit rudernden Armen weiter. Theodard überblickte die Situation und wandte sich Rolant zu. »Gib mir den Bogen! Nimm die Kinder und flieh. Ich halte sie solange auf!«
Rolant stutzte und wollte etwas sagen, doch mit einem Blick in Theodards Augen nickte er nur und reichte ihm Köcher und Bogen.
»Nein!«, schrie Arbogast. »Ich werde mit dir kämpfen!«
Sein Vater legte einen neuen Pfeil auf und antwortete, ohne ihn anzusehen. »Es sind zu viele Krieger, als dass wir den Kampf überleben könnten. Und mit meinem Bein schaffe ich es nicht weit. Geht jetzt! Es ist ein guter Tod!«
Als Isbert sie erreichte, schoss sein Vater und traf eines der Pferde, das mit den Vorderbeinen einknickte und zuckend liegenblieb. Die Franken schoben sich langsam in einem Halbkreis an sie heran. Ihre bärtigen Gesichter unter den Helmen ließen Arbogast schaudern und doch wollte er nichts weiter, als an der Seite seines Vaters zu bleiben. Es waren erfahrene Männer, das sah er auf einen Blick, und ärgerte sich über die wilde Angst, die durch seinen Körper kroch. War er nicht Theodards Sohn und floss nicht das gleiche Blut durch ihre Adern?
Theodard gab Rolant ein Zeichen und Arbogast spürte eine Hand auf seiner Schulter.
»Komm!«, hörte er Rolants Stimme hinter sich, die rau klang.
Arbogast spürte für einen Moment die Zeit still stehen und er prägte sich das Gesicht seines Vaters ein, denn er wollte sich an diesen Moment für den Rest seines Lebens erinnern. Ihre Blicke trafen sich und er meinte überrascht, eine Spur tiefer Freude in den Augen seines Vaters zu sehen. Die ganze Gestalt seines Vaters drückte eine Kraft und Lebensfreude aus, als hätte er all seine restlichen Mannesjahre vorzeitig zu seiner Verfügung.
»Ich werde dich rächen, Vater!«, sagte Arbogast, dann wurde er von Rolant mitgezogen.
Theodard warf ihnen noch einen letzten Blick zu, das Gesicht schon hart in Erwartung des bevorstehenden Kampfes. Seine Haltung wirkte frei und unbekümmert, als er sich den Franken zuwandte, den Griff des Saxes auf seinen hölzernen Rundschild schlug und das Gewicht auf das unverletzte Bein verlagerte. Dann steckte er das Sax griffbereit in die Erde und legte einen weiteren Pfeil auf.
Rolant trieb sie zur Eile an und sie rannten auf das Dickicht des Waldes zu. Der Kopf des Mädchens in Rolants Armen schlackerte hin und her. Arbogast wusste, dass sein Vater bald ihre Ahnen in Walhalla treffen würde, vor denen er sich nicht zu schämen bräuchte. Nur auf Farolds dunklem Gesicht konnte er Tränen ausmachen. Er warf noch einen Blick zurück und sah Theodard, der mit gespannten Bogen vor dem Halbkreis der Franken stand, die sich ihm langsam näherten, dann rannte er hinter Rolant und seinen Brüdern her.