Читать книгу Der Neiding - Michael J. Awe - Страница 17

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Auf der Flucht

Farold erwachte, weil etwas sein Gesicht berührte. Blinzelnd schlug er die Augen auf, ohne zu wissen, wo er war. Er lag zusammengerollt unter den niedrigen Ästen einer Eiche. Ein leichter Regenschauer ging von einem grauen Himmel nieder und vereinzelte Tropfen fielen von den Ästen herab. Als er sich mit seiner Hand über das feuchte Gesicht fahren wollte, hielt er inne und betrachtete das getrocknete Blut an seinen Fingern.

Die Erinnerung an die Nacht kam mit einer Wucht, die ihm die Luft aus den Lungen presste. Bilder flammten vor seinen Augen auf. Die reglose Gestalt Sarhilds am Ufer des Flusses. Ihre gebrochenen Augen. Die Würgemale an ihrem bleichen Hals. Die Lippen, die er geküsst hatte. Farold drehte sich auf die Seite und schrie seinen Schmerz in das Gras, wühlte seine Stirn in den Boden, suchte die Dunkelheit. Er schrie und schrie, bis er nicht mehr konnte und erschöpft liegen blieb.

Zeit verging, ohne ihm bewusst zu werden. Er lag einfach da und überließ sich dem Wald. Sollten Tiere kommen und an ihm nagen, er würde sich nicht bewegen. Der Geruch nach feuchter Erde umgab ihn. Die Kälte des Bodens zog in seine Glieder, machte den Stoff seiner Kleidung klamm. Alle Kraft war aus ihm gewichen. Immer wieder sah er die Szene am Bach vor sich, der leblose Körper Sarhilds, das plötzliche Erscheinen von Fredegard, Rolant und Isbert. Das Gesicht seines Bruders, als er die Haarsträhne in die Luft hielt und ein eigenes Sax seine Eingeweide aufschlitzte. Die letzten Worte … Was hatte Isbert gesagt? Irgendwas von einem Schuh, er erinnerte sich nicht mehr. Eine schwarze Flut stieg in Farold auf. Er hatte den Töter Sarhilds den Lebensfaden durchschnitten, von seiner Hand war derjenige gestorben, der ihm das Wichtigste genommen hatte. Es war keine Freude in ihm, nur eisige Genugtuung, der der Hass auf dem Fuß folgte. Und mit dem Hass kehrte auch die Kraft in seinen Körper zurück.

Langsam rührte Farold sich, hob den Kopf und setzte sich auf. Der Regen hatte aufgehört und der Himmel war klar. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten und die Schatten wurden länger. Wo war er?

Farold sah sich um und erkannte eine alte Linde in der Nähe. Er war in der Nacht überraschend weit gekommen. In der Nähe floss der Bach vorbei, der auch an ihrem Gehöft vorbeiführte. Der Bach, an dem Sarhild gestorben war.

Farold schwankte und stützte sich an dem Baumstamm ab. Er zwang sich dazu, die Augen zu öffnen und sich nach Verfolgern umzusehen. Arbogast würde die Tötung seines Bruders nicht ungerächt lassen. Von nun an war er ein Geächteter, den jeder erschlagen durfte, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Keine Rache und kein Wehrgeld folgte seinem Tod, keine Sippe schützte ihn. Er war allein, die Gemeinschaft der Menschen hatte sich hinter ihm geschlossen. Sobald der Racheeid geschworen war, würde alles Menschliche von ihm abfallen, keine Halle ihn aufnehmen, keine Speise ihn stärken und kein kreisendes Horn ihn erreichen. Er war nun ein Neiding!

Farold lauschte auf verdächtige Geräusche in der Nähe, doch war nichts Ungewöhnliches zu hören. Ein blutiges Sax lag einige Schritte entfernt im Gras. Es war die Waffe von Isbert, seinem Sippenbruder, an dessen Händen das Blut von Sarhild klebte. Mit der er Isbert erschlagen hatte. Kein Heil würde dieses Sax ihm bringen, aber nun, da er dem Schutz der Sippe entbehrte, brauchte er diese Waffe zum Überleben.

Widerwillig nahm er die feuchte Klinge auf und wog das schlichte, einschneidige Hiebschwert in seiner Hand. Rolant hatte ihnen ihre Schwerter gegeben, als sie alt genug waren, Farold kannte dieses Sax gut. Häufig hatte er es an der Seite von Isbert gesehen. Es fühlte sich merkwürdig an, es unter den Gürtel zu schieben, als wäre es sein eigenes.

Langsam ging er in Richtung des Baches, der in einiger Entfernung durch das hohe Gras floss.

Die Bilder überschlugen sich in ihm, und immer wieder sah er die gebrochenen Augen Sarhilds, die in den Nachthimmel starrten. Er hatte ihren Töter erschlagen, Isbert sein Leben genommen. Er würde es immer und immer wieder tun, bis zur Zeit des Weltenbrandes. Aber was war wirklich passiert in dieser Nacht?

Farold kniete sich am Ufer nieder und wusch sich die Hände in dem kühlen Wasser. Er musste sich konzentrieren, wenn er am Leben bleiben wollte. »Eines nach dem anderen!«, sprach er zu sich und sah zu, wie das getrocknete Blut von seinen Fingern allmählich verschwand. »Beginne am Anfang!«

Die Nachricht Fredegards, dass Sarhild ihn am Fluss zu treffen wünschte, hatte ihn erstaunt. Er erinnerte sich an das bleiche Gesicht seiner Mutter und die Scham in ihrem Blick, als sie den Kopf abwandte. Auf dem Weg zum Bach begegnete er niemandem, bis er die Leiche Sarhilds fand. Augen, die kein Licht mehr trugen. Aber mit ihrer letzten Kraft hatte sie ein Zeichen gelegt, um auf ihren Töter hinzuweisen, und hielt die Haare des Täters fest in ihrer Faust. Dann brach das Auftauchen von Isbert, seiner Mutter und Rolant über ihn herein. Deutlich konnte er den Ekel über die Tat in ihren Augen sehen. Im nächsten Augenblick überwältigte ihn Wodens Wut und er erschlug Isbert.

Farold hatte Sarhilds Tod gerächt. Nur, welche Nachricht würde Arbogast erhalten? Das Bild, was die anderen zeichneten, musste in seinen Augen doppelt wiegen. Ein feiger Mord in der Nacht an einer Frau, anschließend die Tötung des Bruders und die wolfartige Flucht in die Dunkelheit.

Farold hielt sein Gesicht in den Bach und trank, bis das Brennen in seiner Kehle nachließ. Er wusste, dass die Blutrache Vergeltung forderte. »Warum hast du das getan, Isbert?«, flüsterte er.

Er war jetzt allein. Sie würden ihn aus der Sippe verstoßen. Jeder hatte das Recht, ihn zu jagen wie ein wildes Tier, zu dem er geworden war, heil- und rechtlos, von allen Menschen abgeschnitten und aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Schon auf dem nächsten Ding in Marklohe würden die freien Männer des Sachsenlandes ihre Waffen und Schilde zusammenschlagen und ihn aus ihrem Kreis hinausschwören.

Ein Knacken aus dem Gebüsch am Ufer ließ ihn zum Sax greifen, aber es war nur ein Hase, der mit schnellen Sprüngen das Weite suchte. Farold schob sich das Hiebmesser unter den Gürtel zurück und trocknete seine Hände am groben Stoff der Tunika. Außer dem, was er am Leib trug, besaß er nun nichts mehr; sein Hab und Gut war in Arbogasts Halle zurückgeblieben, unerreichbar für ihn. Er beschloss er, einige Zeit dem Bachlauf zu folgen und sich nach Osten zu wenden. Die Wälder hier kannte er so gut wie kaum ein anderer, ein Vorteil, den er nutzen konnte.

Er schritt zügig aus und versuchte währenddessen, auf Geräusche in der Nähe zu achten, die auf Verfolger hindeuten würden. Farold spürte den Hunger in den Eingeweiden, aber er wollte den Rest des Tages nutzen, um so viel Distanz wie möglich zu seinen Verfolgern zu bekommen. Essen suchen konnte er später.

Farold begann in einen lockeren Trab zu verfallen, den er für lange Zeit durchzuhalten vermochte. Seine kleine, drahtige Gestalt huschte geräuschlos durch den Wald. Den Pferden konnte er nicht entkommen, also musste er einen Weg einschlagen, wohin sie ihm nicht folgen konnten. Noch vor Einbruch der Dunkelheit würde er zu einem dichten Teil des Waldes gelangen, den man nur zu Fuß durchqueren konnte und wo sich seine Spur bald verlieren sollte.

Er lief, bis die Nacht hereinbrach, warf sich dann unter die Äste eines Baumes und schlief den unruhigen Schlaf des Verfolgten. Mehrmals in der Nacht wachte er auf und griff nach seinem Sax, aber nie war jemand in der Nähe. Einmal schob sich die massige Figur eines Bären einige Schritte entfernt durch das Unterholz und er begann schon, sich nach einer Fluchtmöglichkeit umzusehen. Aber das große Tier nahm keine Notiz von ihm und zog seiner Wege. Erleichtert sah er ihm nach, doch wurde ihm wieder bewusst, was für eine leichte Beute er im Schlaf darstellte.

Im Morgengrauen setzte er seinen Weg fort und ging immer weiter ostwärts. Das Gebiet der Engern lag vor ihm und er wollte sich am Rande der Grenze zum Land der Franken halten, bis er die Berge vor sich auftauchen sah. Er erinnerte sich, wie er diesen Weg vor langer Zeit mit Theodard, Arbogast und Isbert gegangen war, als sie das Heiligtum der Irminsul besuchten. Theodard, der ihn selbstlos und ohne zu zögern in die Sippe aufgenommen hatte. Er war wie ein Vater zu ihm gewesen und sein Edelmut und seine Freigiebigkeit waren ihm während all der Zeit ein Vorbild gewesen. Wie gut war es, dass er schon lange tot war und nicht mit ansehen musste, was aus ihm, Farold, geworden war. In der Nacht träumte er von Theodard, der ihn mit blassem Gesicht ansah und sagte: So verdankst du mir also meine Taten!, auf seinen Knien lag der Leichnam Isberts.

Wie ein Getriebener durchstreifte Farold die Wälder, bis er an einen See kam. Er blieb am Ufer stehen und sah über die Wasseroberfläche, die den bleischweren Himmel reflektierte. Keine Welle kräuselte die glatte Fläche. Vorsichtig hockte er sich hin und schöpfte mit der Hand etwas Wasser, um seinen Durst zu stillen.

Es hieß, das Wasser berge die Seele der Ungeborenen und Toten. Nach den Vorstellungen ihrer Vorväter entstammte das Leben dem Wasser und kehrte nach dem Tode wieder dahin zurück. Die Farbe der Flüsse und Seen spiegelte die Gemütsverfassung der darin lebenden Geister wieder.

»Sarhild«, sagte er leise.

Es war lange her, dass ihn Aleke von der Toteninsel der Nerthus erzählt hatte, die der Treffpunkt der Seelen war. Nachdenklich fuhr er mit der Hand über die Wasseroberfläche und betrachtete sein Spiegelbild. Er sah es so lange an, bis er das Gefühl bekam, dass jemand mit seinem Gesicht zu ihm herausschaute, und er stolperte erschrocken einige Schritte vom Ufer weg. Sein Herz klopfte heftig, doch das Wasser rührte sich nicht und nach einiger Zeit beruhigte sich sein Atem wieder.

Er erblickte am gegenüberliegenden Ufer eine leichte Rauchsäule, die senkrecht in die windstille Luft stieg. Zuerst dachte er an eine Sinnestäuschung, aber die Erscheinung blieb auch bei längerer Betrachtung bestehen. Die Rauchsäule kam hinter einigen größeren Felsen hervor und es musste sich dabei um ein von Menschen entfachtes Feuer handeln. Farold verbarg sich in dem Schilf zu seiner rechten und suchte die Umgebung ab. Vielleicht waren es seine Verfolger, die ihm schon dicht auf den Fersen waren?

Der Wald war dicht und das Ufer unübersichtlich. Auch nach längerer Zeit blieb alles ruhig und es war niemand zu sehen. Nachdenklich ging Farold in die Hocke und überlegte, ob er sich dem Feuer nähern sollte. Es mochten Räuber sein, die ihr Lager in dem dichten Wald aufgeschlagenen hatten, oder auch rechtschaffene Männer, die sich auf der Jagd befanden. Vielleicht war es aber auch ein kleines Lager der Franken, die auf der Suche nach aufständischen Sachsen waren, oder einige reisenden Mönche, die umherzogen, um den Leuten von ihrem neuen Gott zu erzählen? Plötzlich fiel Farold ein, dass er von einer weisen Frau gehört hatte, von der es hieß, sie würde in dieser Gegend leben, besäße das Wissen der Runen und hätte Umgang mit Geistern. Sie war eine von den Frauen, die bewandert waren in den alten Praktiken und die bei Ergreifung durch die Franken um ihr Leben fürchten mussten. Ihr Blick richtete sich sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft und die Grenze von dieser Welt zu den anderen war für sie zu durchschreiten.

Das Ufer des Sees war an vielen Stellen morastig und das Vorankommen mühsam, wo der Wald so dicht war, dass er keine Ausweichmöglichkeit bot. Einige Rabenvögel flogen über seinem Kopf auf, als er sich durch dichtes Unterholz zwängte. Als er den See zur Hälfte umrundet hatte, kam er besser voran. Ein leichter Wind kam auf und brachte den Geruch nach feuchtem Gras und Schilf mit sich. Die entfernte Rauchfahne wurde sanft abgetrieben und zog über die Wipfel der Bäume dahin, von der Unterkunft der Seherin war allerdings noch nichts zu sehen. Sie musste direkt zwischen den großen Felsen hausen, die einige Schritte entfernt vom Ufer des Sees aufragten.

Farold duckte sich unter einem weiteren Ast hindurch, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Er verbarg sich hinter dem Baumstamm einer Fichte, deren breiter Stamm moosbewachsen war. Etwas entfernt erblickte er eine junge Frau, die Brombeeren pflückte und in einem Tuchbeutel sammelte. Sie trug ein langes, schlichtes Kleid aus grobem Stoff und stand barfuß in dem hohen Gras. Feines, braunes Haar fiel ihr bis weit auf den Rücken und erinnerte ihn schmerzhaft an Sarhild.

Die Frau schien alleine zu sein, auch nach gründlicher Betrachtung der Umgebung vermochte er keinen anderen Menschen in der Nähe zu sehen. Die Frau schulterte ihren Tuchbeutel und schritt langsam zwischen den weitstehenden Bäumen hindurch. Plötzlich blieb sie stehen und sah sich zu ihm um. Einen Moment begegnete er ihren dunklen Augen, die ihn mehr an die eines scheuen Tieres, als an die Augen eines Menschen erinnerten. Die schlanken Gesichtszüge waren ausdruckslos und verrieten keinerlei Gefühl, das ganze Leben schien sich in den Augen zu konzentrieren. Mit einer schützenden Geste hob sie die Hand. Ein lautes Knacken von Holz ließ ihn herumfahren. Der morsche Ast einer toten Buche fiel zu Boden und blieb mit einem dumpfen Aufprall liegen. Als Farold sich wieder umdrehte, war die junge Frau verschwunden.

Ungläubig kniff er die Augen zusammen. Wer oder was war das gewesen? Langsam trat er zu der Stelle, wo die Frau soeben noch gestanden hatte. Aleke hatte ihm als Kind von Geistern erzählt, die in den Bäumen hausten und sich manchmal den Menschen zeigten. Vielleicht hatte es sich bei der Frau aber auch nur um die Bewohnerin eines nahen Gehöfts gehandelt, die den Moment der Ablenkung genutzt hatte, um sich im Wald zu verbergen. Wer immer sie auch gewesen sein mochte, sie war ohne eine Spur verschwunden.

Vorsichtig setzte Farold seinen Weg fort und gelangte schon bald zu den großen Felsen. Ein schmaler Unterstand war zwischen ihnen errichtet, grob aus Holz gezimmert und mit einem Dach aus Moos und geflochten Ästen versehen. Die Behausung war so niedrig, dass man kaum aufrecht zu stehen vermochte. Leichter Rauch quoll daraus hervor und erschwerte den Blick. Eine alte, in Felle gehüllte Frau saß am Feuer und starrte in die Glut. Getrocknete Kräuter hingen von der niedrigen Decke und verströmten einen fremdartigen Geruch.

»Mein Name ist Farold, weise Frau, und ich bin hier, um deine Hilfe zu erbeten!«

Ihr magerer Kopf mit dem strähnigen grauen Haar hob sich langsam, und tiefe, dunkle Augen musterten ihn, während ihr eingefallener, zahnloser Mund sich zu einem Lächeln verzog. Ein dürrer Arm kam unter den Fellumhang hervor und wies auf eine Stelle ihr gegenüber am Feuer.

Farold bückte sich und betrat den Unterstand. Obwohl er nicht sehr groß war, streiften die Spitzen der Kräuter selbst bei gebückter Haltung seinen Kopf. Der Qualm brannte in seinen Augen und ließ sie tränen. Als er Platz genommen hatte, starrte sie wieder ins Feuer und murmelte leise Worte vor sich hin.

»Weise Frau«, begann Farold, der die fremdartigen Gegenstände um sich herum mit Unbehagen musterte, »ich bin gekommen, weil es heißt, dass du die Grenzen zwischen Leben und Tod zu durchschreiten vermagst. Die Frau, die ich liebte, ist tot, und ich möchte sie noch einmal sehen. Das ist mein Begehr: Zeige mir Sarhild und sei es auch nur für kurze Zeit.«

»Dies ist ein weiter Weg, junger Krieger!«, antwortete die alte Frau mit heiserer Greisenstimme, »Aber ich bin ihn schon häufig gegangen. Manchmal bleiben allerdings die Reisenden auf der anderen Seite, denn es ist beschwerlich und nicht ohne Gefahr, und dann kann ich nichts mehr für dich tun.«

»Diese Gefahr bin ich bereit auf mich zu nehmen!«

»Sehen willst du also deine Liebste, die nicht mehr atmet, nicht mehr lacht, deren Augen gebrochen sind und nicht mehr leuchten?« Sie blickte ihn forschend an, schließlich nickte sie. »So sei es!«

Die Alte hustete leise und griff in einen Korb mit Kienspänen. Farold verfolgte jede ihrer Bewegungen mit atemloser Anspannung. Sie stellte eine alte Räucherpfanne auf einige Steine über das Feuer und entzündete den Kienspan an den Flammen. Im flackernden Licht erhob sie sich, ging gebückt zu einigen Körben, die in einer Ecke des Unterstandes standen und nahm eine Handvoll Pflanzensamen hervor, die Farold nicht kannte.

»Niflkraut zu Räucherwerk, trage unsere Blicke weit«, murmelte sie und streute die Samenkörner auf die heiße Pfanne, wo sie langsam zu qualmen anfingen. Ein starker, betäubender Geruch verbreitete sich unter der niedrigen Decke. Farold sah, wie die Frau mit einigen geflochtenen Wänden den Eingang bedeckte, so dass nur noch der flackernde Feuerschein sein unstetes Licht auf die Gegenstände des Raumes warf. Dann kam sie mit einem Becher zurück, in dem sie roten Wein goss. Mit hohler Hand streute sie schwarze Samenkörner hinein und verrührte sie mit einem Holzstäbchen, wobei sie leise murmelte.

Ein Schwindelgefühl ergriff Farold, so dass er sich mit einer Hand auf der Decke abstützen musste. Seine Augen tränten in der verräucherten Luft, nur schemenhaft sah er das faltige Gesicht der weisen Frau vor sich, die ihm den Becher hinhielt. Seine Hand schloss sich um den Becher und hob ihn an die Lippen, um ihn in einem Zug auszutrinken. Der Wein war stark und süß. Farold ließ sich mit geschlossenen Augen nach hinten sinken.

Der Boden unter ihm neigte sich leicht nach links und rechts, als wäre er an Bord eines Bootes, und seine Hände suchten ohne sein Zutun nach Halt. Das Knistern der Flammen im Hintergrund wurde allmählich lauter, bis es den ganzen Raum ausfüllte und in seinem Kopf widerhallte. Hitzewellen jagten durch seinen Körper und trieben den Schweiß auf seine Haut. Hinter seinen geschlossenen Lidern bewegten sich unförmige Schatten, bis er die schlanke Gestalt einer Frau erkennen konnte, die regungslos dalag. Er wollte auf sie zugehen und bemerkte Hände, die die Lederriemen seiner Tunika öffneten. Blinzelnd schlug er die Augen auf und sah das Gesicht einer jungen Frau, das sich über ihn beugte.

Bestimmt legte sie einen Finger auf seine Lippen, als er etwas sagen wollte. Ihre dunklen Augen weckten Erinnerungen in ihm, doch er wusste nicht, woher er sie kannte. Während sie ihm die Tunika auszog, berührte ihr langes braunes Haar sein Gesicht und ein fremdartiger Geruch umfing ihn. Ihr Gesicht blieb ernst und ohne erkennbare Regung, als sie die Fibel an ihrem Umhang löste und sich zu ihm legte. Ihre Haut war kühl. Er wandte sich zu ihr um und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen.

»Kenne ich dich?«, hörte er sich sagen. Jedes Wort erzeugte einen leichten Nachhall in seinen Ohren. Sie presste ihre Lippen auf seinen Mund, sie schmeckten wie das Wasser des Sees.

Erinnerungen überfluteten ihn, von denen er nicht mehr gewusst hatte, dass er sie überhaupt besaß. Während sich die junge Frau auf ihn legte, sah er Sarhild als Mädchen im Schneetreiben des Hofes stehen, während er mit den anderen Männern das Gehöft betrat. Theodard ging voran und Farolds Herz schlug unter all den fremden Blicken bis zum Hals. Sarhild wurde ernst und ließ die Hände sinken, während sie ihm nachsah.

Von ihrer ersten Begegnung an erlebte er alle Momente noch einmal bis hin zu ihrem Tanz um die heiligen Feuer und die anschließende Nacht im Wald. Mit diesem Eindruck verschwanden die Visionen und es blieb der schlanke Schatten Sarhilds zurück. »Sarhild!«, flüsterte er und seine Stimme hallte durch seinen Kopf. Farold trat durch die anderen Schatten hindurch und blickte auf sie hinab. Sie lag auf den Boden und trug noch immer ihr schlichtes Kleid, schemenhaft konnte er ihre Gesichtszüge erkennen. Er berührte ihre Hand und ihre Augen öffneten sich, sahen ihn an. Schweigend nahm er sie in seine Arme. Er lachte auf, als er ihre vertraute Nähe spürte und den Geruch nach Kräutern und Pflanzen wahrnahm. »Sarhild!«, flüsterte er.

Als Farold erwachte, war er alleine in dem Unterschlupf. Finsternis umgab ihn, die nur von der Glut der Holzscheite schwach erhellt wurde. Er lag unbekleidet unter einem Wolfsfell und sein Kopf fühlte sich merkwürdig taub an. Stöhnend setzte er sich auf. Die Gegenwart Sarhilds lag noch wie ein leichter Hauch des Glücks auf ihm, doch wurde er immer schwächer und er vermochte nicht, ihn festzuhalten. »Ich wünschte, ich wäre dageblieben!«, flüsterte er und presste die Zähne aufeinander, bis er ein leises Knirschen hörte. Mechanisch begann er, seine Sachen zusammenzusuchen, und zog sich an. Von der alten Frau fehlte jede Spur.

Er schlug die Decke vom Eingang zurück und stand in der Morgendämmerung des anbrechenden Tages. Ein leichter Nebel hing über dem See, die Luft roch klar und frisch. Am Ufer kniete er sich nieder, um seinen Durst zu stillen. Beim ersten Schluck durchzuckte ihn die Erinnerung an die junge Frau mit den dunklen Augen, die in seinen Träumen bei ihm gelegen hatte. Forschend sah er über die Wasseroberfläche, doch sie lag still und reglos da wie ein mattes Schild, und verschwand nach wenigen Schritten im Nebel. Er trank, so viel er konnte, und verließ den See.

Den ganzen Tag ging er, ohne eine Pause einzulegen. Das Unterholz wurde teilweise so dicht, dass er immer wieder neue Wege suchen musste, denn Pfade gab es in diesem abgelegenen Teil des Waldes nicht mehr. Bei Einbruch der Dunkelheit, als Farold sich gerade ein Nachtlager suchen wollte, zog ihm der Duft eines Feuers in die Nase. Zuerst glaubte er an einen Irrtum, doch der Wind trug einen immer deutlicheren Geruch heran. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass in unmittelbarer Nähe das Fleisch eines Tieres über dem Feuer briet.

Er schlich von Baum zu Baum, bis er den hellen Schein eines Lagerfeuers ausmachen konnte. Raue Stimmen drangen zu ihm hinüber und er sah zwei Dutzend Männer um ein großes Feuer sitzen. Sie trugen verschlissene, wild zusammengewürfelte Kleidung und waren mit Messern, Hiebschwertern und Speeren bewaffnet. Es roch nach Fleisch und Bier, worauf Farolds Bauch einen leisen, knurrenden Ton von sich gab, wie um ihn daran zu erinnern, dass er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Farold besah sich die Männer genauer, bei denen es sich zweifellos um Räuber und Töter handelte. Er wusste, dass jeder freie Mann das Recht hatte, diese Wesen zu erschlagen, wo immer er sie fand, aber das war jetzt ein Schicksal, das er mit ihnen teilte. Er war nicht besser als sie, war auf ihre Stufe gesunken. Ein Neiding.

Ruhig trat er hinter dem Baum hervor und ging auf das Lager zu. Schon nach wenigen Metern bemerkte ihn der erste der Männer und griff nach seinem Schwert. Die anderen Männer, eben noch am Trinken und Lachen, schienen schlagartig nüchtern zu werden. Überall wurden Waffen gezogen. Sie sprangen auf und umringten den Fremden, der regungslos in ihrer Mitte stand.

Farold spürte, wie ihn die Männer von oben bis unten musterten und einzuschätzen versuchten. Er wusste, dass man ihm die Übernachtungen im Wald ansehen musste, und kam zu dem Schluss, dass sein Äußeres diesen Männern sehr ähnelte.

Ein hünenhafter, breiter Mann trat auf Farold zu, dessen roter Bart ihm bis auf den dicken Bauch reichte. Seine kleinen blauen Augen blinzelten bösartig, als er sich vor ihm aufbaute.

»Ich würde sagen, du bist in schlechte Gesellschaft geraten!«, sagte der Rotschopf. Ohne Vorwarnung versetzte er Farold einen kräftigen Schlag ins Gesicht verpasste.

Von der Wucht des Schlages ging Farold in die Knie, und als er wieder klarer wurde, hatte man ihm sein Sax abgenommen. Er spürte den scharfen Geschmack von Blut im Mund und spuckte aus, bevor er sich mühsam erhob.

»Seht nach, ob er wertvolle Sachen bei sich hat!«

Raue Hände durchwühlten seine Kleidung, stießen ihn unsanft hin und her. Farold ließ die Prozedur über sich ergehen, denn wenn ihn sein Heil verlassen hatte, gab es nichts mehr für ihn zu hoffen. Schließlich ließen die Hände von ihm ab. Den silbernen Kreuzanhänger unter seinem breiten Gürtel fanden sie nicht.

»Er hat nichts, Brandolf«, sagte einer der Männer.

Der Mann, den man Brandolf nannte, trat noch einen Schritt näher an ihn heran, so dass Farold seinen leicht säuerlichen Schweißgeruch wahrnehmen konnte.

»Du kommst als Gast ohne Gastgeschenk«, sagte der Hüne leise, der Farold um zwei Köpfe überragte. »Was sollte uns davon abhalten, dich hier auf der Stelle zu töten und Wodens Raben zum Fraß zu überlassen ...«

Farold sah ihm ruhig in die Augen. Er spürte keine Angst, nur eine Gleichgültigkeit, die die Männer mit Mut verwechseln konnten. »Die Nornen haben unsere Schicksalsfäden schon längst gesponnen, Brandolf. Ich bin Farold, meine Sippe hat mich verstoßen und es gibt nicht mehr viel zu hoffen für mich auf dieser Welt. Nehmt mich in eure Gemeinschaft auf oder tötet mich gleich, es ist mir einerlei.«

Brandolf trat einen Schritt zurück und ging langsam um ihn herum. »Ein Ausgestoßener ... Ein Ausgestoßener möchte sich uns anschließen ...« Dann hob er sein Schwert und setzte es Farold an die Kehle. Farold spürte die scharfe Schneide an seiner Haut, die ihm leicht ins Fleisch ritzte, sah aber weiterhin ruhig geradeaus.

»Bist du ein brauchbarer Kämpfer, Mann, den man Farold nennt?«

»Gebt mir mein Sax und ich werde es euch beweisen.«

Brandolf gab ein tiefes Lachen von sich. »Klein bist du, Farold, wie eine Katze unter Hunden, kein Mann hier ist schmächtiger als du. Du scheinst mir keine große Hilfe im Kampf zu sein.«

»Eine Katze hat scharfe Krallen, und mehr als einmal sah ich sie einen Hund in die Flucht schlagen!«

Erneut lachte Brandolf, diesmal etwas lauter. Farold konnte spüren, dass sein Leben auf dem Prüfstand stand. Seine Worte würden überzeugen oder ihm auf der Stelle den Tod bringen. Bei solch einem ruhm- und kampflosen Tod würde keine Walküre ihn nach Walhall begleiten.

»Du redest wie ein Heiling und doch bist du ein sippenloser Mann. Ich werde dich jetzt nicht töten, Farold, aber meine Augen und die meiner Männer werden wachsam auf dir ruhen.« Langsam senkte Brandolf sein Schwert. »Gebt ihm sein Sax. Sein Waffenarm soll uns morgen Verstärkung sein. Wenn er besteht, soll er bleiben, findet er den Tod, lassen wir ihn liegen.«

Mit diesen Worten wandte sich Brandolf um und ging zum Lagerfeuer zurück. Einer der Männer reichte ihm sein Hiebschwert, dann wandten auch sie sich wieder ihrem Bier und Essen zu und ließen ihn unbeachtet stehen.

Der Neiding

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