Читать книгу Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde - Michael Kleine-Cosack - Страница 114
III. Annahmevoraussetzungen
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Die Annahme der Verfassungsbeschwerde durch das BVerfG hat zur Voraussetzung, dass ein Annahmegrund vorliegt und Erfolgsaussichten bestehen. Wenn auch dem BVerfG formal kein Ermessen eingeräumt ist, so eröffnet die Regelung des § 93a Abs. 2 BVerfGG dem BVerfG – vor allem beim zweiten Annahmegrund – dem Ermessen vergleichbare weite Auslegungsspielräume, die auch oftmals dem fachkundig beratenen Bürger nicht durchgehend einleuchtend sind und daher aussichtslose Verfassungsbeschwerden nicht vermeiden helfen.[1]
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Faktisch nimmt das BVerfG ein massives – freies – Ermessen bei der Annahme für sich in Anspruch. Die Erörterungen in der Rechtswissenschaft mit der Verneinung von Ermessen sind blanke Theorie.[2] Wenn Richter bzw. eine Kammer nicht annehmen wollen, dann wird auch entsprechend verfahren, selbst wenn die Verfassungsbeschwerde begründet ist.
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Die Annahme hängt nicht nur von rechtlichen Voraussetzungen wie der Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde sowie den Kriterien des § 93a Abs. 2 BVerfGG ab. Entscheidend sind erfahrungsgemäß auch vor allem das Interesse, die Weitsicht, Kompetenz und Entscheidungsfreudigkeit sowie die Courage des zuständigen Richters, seines „Umfelds“ – wie seiner Mitarbeiter – und die Zusammensetzung der zuständigen Kammer oder gar des Senats. Es ist ein offenes Geheimnis, dass eine fragwürdige Besetzungspolitik gelegentlich zu schlichten Fehlbesetzungen führt. Nicht selten führen Richterwechsel zu einer Änderung der Entscheidungspraxis in positiver wie negativer Hinsicht; sie können den „Aufbruch zu neuen Grundrechtsufern“ bedeuten oder auch umgekehrt zu einer „Austrocknung von Grundrechtslandschaften“ bzw. einem „Stillstand des Grundrechtsschutzes“ führen.
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Es ist schlichtes normatives Wunschdenken, wenn demgegenüber die h.A. in der Literatur allen Ernstes behauptet: Raum für freie Ermessenspielräume bestehe nicht; die Entscheidung des Gerichts bleibe streng an das Gesetz gebunden; andernfalls wäre das Verfahren mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nicht zu vereinbaren.[3] Die Praxis entspricht dieser Theorie leider nicht; nur bleibt dieser Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit folgenlos, da es abgesehen vom EGMR kein Gericht gibt, das eine angeblich gesetz- oder verfassungswidrige Praxis „ahndet“.