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John Rawls’ »Schleier des Nichtwissens«

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John Rawls’ Gerechtigkeitstest51 entwirft – vereinfacht dargestellt – ein hypothetisches Szenario, in dem sich alle vernunftbegabten Menschen an einen Verhandlungstisch setzen und einen Gesellschaftsvertrag aufsetzen, der die Organisation des Zusammenlebens regelt. Um den menschlichen Hang, für sich selbst das Beste herauszuschlagen, zu umgehen, soll innerhalb dieses fiktiven Szenarios unklar bleiben, in welcher Rolle man als Verhandlungspartner*in teilnimmt (»Schleier des Nichtwissens« – Veil of ignorance). Vor der Vertragsunterzeichnung ist also nicht bekannt, ob man als Frau oder Mann, als Kind oder Greis, als Schwarzafrikaner oder Mitteleuropäer in der zu entwerfenden Gesellschaft leben wird. Ebenfalls ist nicht bekannt, ob man eher intelligent oder weniger intelligent, ob man sportlich oder unsportlich, dick oder dünn, gesund oder krank usw. ist.

Dieses Gedankenexperiment kann dazu beitragen, Missstände unserer Gesellschaften deutlicher ins Bewusstsein zu rücken, indem es dazu anregt, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen: Wäre man in dieser Gesellschaft als Frau von Problemen betroffen, die man als Mann nicht hätte? Würde es das eigene Leben schwieriger machen, eine andere Hautfarbe zu haben? Hätte man in der Schule als weniger intelligente Person einen schwerwiegenden Nachteil? Würde man sich als eine im Alter pflegebedürftig gewordene Person in dieser Gesellschaft gut aufgehoben fühlen?

John Rawls’ Entwurf eines Willkür ausschließenden Gedankenexperiments wies neben einer viel diskutierten Vernachlässigung von Menschen mit schweren Behinderungen52 eine große, wenig überzeugend begründete Lücke auf: Tiere wurden aus seinem Gerechtigkeitstest vollständig ausgeschlossen.53 So plädiert der britische Philosoph Mark Rowlands zu Recht für eine Erweiterung des Schleiers des Nichtwissens auf Tiere.54 Sowohl der Einschluss von Menschen mit Behinderungen als auch der von Tieren, die direkt von unseren Handlungen betroffen sind, lässt sich durch eine Modifikation des hypothetischen Szenarios ermöglichen: Während bei Rawls eigentlich nur diejenigen ein »Recht auf gleiche Gerechtigkeit« haben, die »moralische Subjekte«, also »eines Gerechtigkeitssinnes fähig« sind,55 ließe sich schlicht die Prämisse hinzufügen, dass bei der Aushandlung eines Gesellschaftsvertrages ebenfalls unklar bleibt, ob man nicht als ein Mensch mit schwerwiegenden Behinderungen zu einem Teil der entworfenen Gesellschaft wird oder ob man nicht vielleicht sogar als ein Tier an dieser Gesellschaft partizipiert. Es könnte dann gefragt werden: Würde man sich in der Gesellschaft auch als Person mit schwerer geistiger Beeinträchtigung gut aufgehoben fühlen? Wäre man ferner dazu bereit, für den eigenen Fleischkonsum das Risiko einzugehen, als ein typisches »Nutztier« ein jämmerliches, gewaltsam endendes Leben führen zu müssen, obwohl der Nährstoffbedarf der Menschen auch anders gedeckt werden könnte? Auch wenn es sich hierbei lediglich um ein hypothetisches Szenario handelt, führt es dennoch bildlich vor Augen, wie wichtig eine gerechte Gesellschaft ist.

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