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Mensch und Tier – ein widersprüchliches Verhältnis
ОглавлениеIm Mai 2020 dokumentierten mehrere Handy-Kameras in Frankfurt am Ufer des Mains eine Szene, die kaum symbolischer für unser widersprüchliches Verhältnis zu Tieren hätte sein können.2,3 Zwei Angler hatten einen kolossalen, 1,5 m langen Wels an Land gezogen und dadurch zahlreiche Schaulustige angezogen, die sich staunend um den Fisch versammelten. Die bewundernde Stille und das vereinzelte heitere Gelächter wichen jedoch blanker Empörung, als einer der beiden Angler den nach Luft schnappenden Giganten mit einem Holzknüppel durch Schläge auf den Schädel betäubte und ihn anschließend tötete. Der Mann wurde daraufhin von den dabeistehenden Passant*innen wüst beschimpft. Eine ältere Dame fragte fassungslos, was denn das für ein Mensch sei, der so etwas tue, und es wurde sogar nach der Polizei verlangt.
Die Angler ließen sich von der gekippten Stimmung und den verbalen Anfeindungen allerdings nicht verunsichern und einer von ihnen richtete sich direkt an die Personen, die am lautesten gegen das Geschehen protestierten: »Essen Sie Tiere? Essen Sie Schwein?« – Eine Rückfrage, deren Legitimität sich kaum bestreiten lässt und eigentlich dazu hätte führen müssen, dass sich bedrücktes Schweigen einstellt, denn eines dürfte klar sein: Auch die Menschen, die mit so viel Entsetzen und Wut auf die Tötung dieses Fisches reagiert haben, werden sich höchstwahrscheinlich noch am gleichen Tag Wurst aufs Brot, ein Schnitzel in die Pfanne oder eben einen Fisch auf den Teller gelegt haben. Stattdessen setzten sie die moralisch aufgeladenen Anfeindungen fort und begriffen dabei nicht die Widersprüchlichkeit ihrer Aufgebrachtheit.
Dieser Vorfall führte in aller Deutlichkeit vor Augen, dass viele Menschen es mittlerweile nicht mehr ertragen, hautnah mitzuerleben, was es letztlich bedeutet, Fisch oder Fleisch zu essen. Zwar gibt es auch in der heutigen Zeit immer noch Menschen, die keinerlei Skrupel haben ein Tier zu töten, aber mehr und mehr Personen scheuen davor zurück ein direkter Teil der Tötung eines Lebewesens zu sein. So sagte auch Ex-Beatle Paul McCartney: »Wenn Schlachthäuser Wände aus Glas hätten, wären alle Menschen Vegetarier.«4 Würden Menschen zudem den immer wiederkehrenden Kreislauf der Milchwirtschaft aus unmittelbarer Nähe miterleben, in der Kühe zwangsgeschwängert, ihres Nachwuchses beraubt, ausgebeutet und weit vor ihrer eigentlichen Lebenserwartung geschlachtet werden (siehe Kapitel 11) oder die industriellen Produktionsmethoden der Eierindustrie kennen, in der männliche Küken am ersten Tag ihres Lebens vergast oder geschreddert werden, weil sie »wertlos« sind und ihre Geschwister unter unwürdigen Bedingungen eng zusammengepfercht durch Lichtmanipulation und die auf maximale Legeleistung hin optimierte Qualzucht im Akkordtempo solange Eier produzieren müssen, bis auch ihre Legeleistung nachlässt und sie getötet werden (siehe Kapitel 10), dann wären wohl sehr viel mehr Menschen nicht nur Vegetarier*innen, sondern Veganer*innen.
Die biologischen Erkenntnisse und ethischen Diskurse der letzten Jahrhunderte haben im Zusammenspiel mit der besseren Versorgungssicherheit sowie der wachsenden Verbreitung der Haustierhaltung offenkundig zu einer tiefgreifenden Veränderung des Mensch-Tier-Verhältnisses geführt. Nicht zu übersehen ist indes, dass diese Veränderung keineswegs abgeschlossen ist, sondern derzeit mit steigender Geschwindigkeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt voranschreitet, sodass unser gegenwärtiger Umgang mit Tieren noch von derartig vielen Widersprüchen geprägt ist, dass sich damit ein ganzes Buch füllen lässt.
Zahlreiche Menschen kritisieren, dass männliche Küken in der Eierproduktion direkt nach dem Schlupf vergast oder geschreddert werden, aber es gilt als »wichtiger Schritt in Richtung Tierwohl«,5 wenn in der sogenannten Bruderhahn-Aufzucht die männlichen Küken nicht direkt nach dem Schlüpfen getötet werden, sondern stattdessen einige Wochen später als junge Hähne getötet und zu Fleisch verarbeitet werden. Was ändert sich am Akt des Tötens und wie kann es ein wichtiger Schritt in Richtung Tierwohl sein, wenn die Tötung einfach nur zeitlich um einige Wochen verschoben wird? Wir lieben unsere Haustiere und bezahlen bereitwillig hohe Tierarztkosten, damit es unseren Schützlingen gut geht, während wir parallel dafür zahlen, dass andere Tiere, die in keiner ethisch ausreichend relevanten Hinsicht von Hunden, Katzen oder Wellensittichen unterschieden werden können, unter scheußlichen Bedingungen aufgezogen, aus wirtschaftlichen Gründen oft nicht ausreichend medizinisch behandelt und letztlich gewaltsam aus dem Leben gerissen werden. Wir können uns auch nicht damit herausreden, dass wir nicht wüssten, wie die Tiere, die uns Eier, Milch und Fleisch liefern, in der Regel behandelt werden. Es gibt kaum einen Monat, in dem nicht neue Horroraufnahmen aus genau den Anlagen auftauchen, über die fast die gesamte Nachfrage nach diesen Produkten gedeckt wird. Die Bevölkerung weiß dank der Medien genau, dass sich etwas ändern müsste: »Mehr als vier von fünf Befragten (82 %) sind der Meinung, dass der Tierschutz von Nutztieren im Allgemeinen besser sein sollte, als das derzeit der Fall ist.«6 Und obwohl 85 % der Deutschen der Aussage zustimmen, dass Tiere wenigstens ein gutes Leben gehabt haben sollten, wenn sie für unsere Ernährung geschlachtet werden,7 meldete Der Spiegel 2020: »In den Regalen deutscher Supermärkte und Discounter dominiert Billigfleisch das Angebot. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung der Umweltschutzorganisation Greenpeace bei neun Ketten, darunter Aldi, Lidl, Rewe und Edeka. 88 Prozent des Frischfleisches der großen Lebensmittelhändler stammt demnach aus prekären Haltungsbedingungen.«8
Wer mit offenen Augen durch den Alltag geht oder in den Medien gezielt darauf achtet, wird beinahe täglich Beispiele für das finden, was der amerikanische Rechtsprofessor und Tierethiker Gary Francione als unsere »moralische Schizophrenie« im Umgang mit Tieren bezeichnet.9 Der Veganismus stellt den gegenwärtig erfolgreichsten Ansatz dar, dieses Durcheinander durch ein neues, konsequentes Mensch-Tier-Verhältnis zu ersetzen.