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Was es bedeutet, vegan zu leben

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Die Einbeziehung von Tierrechten in die Ethik und der häufig damit einhergehende bewusste Verzicht auf tierische Nahrung – insbesondere auf Fleisch – sind keineswegs Phänomene der Neuzeit, sondern können über die Jahrtausende hinweg bis weit in die Antike zurückverfolgt werden.10,11,12,13 Der Veganismus kann also auf eine lange Traditionslinie verweisen, obwohl seine konkreten Ursprünge eher auf Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in England zurückzuführen sind: Aus dem – im frühen 19. Jahrhundert oft auch nur als »vegetable diet« bezeichneten14 – Vegetarismus, der nicht selten einen vollständigen Verzicht auf tierische Lebensmittel und teils auch die Vermeidung von Leder, Wolle etc. bezeichnete,15,16,17 wurde über Jahrzehnte hinweg primär der Vegetarismus, wie wir ihn heute kennen: eine Ernährungsweise, die zwar Fleisch, aber nicht Eier und Milch(-Produkte) ausschließt. Da sich die ethischen Probleme des Eier- und Milchkonsums nicht übersehen ließen, waren die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts von einer lebhaften Diskussion darüber geprägt, was eine vegetarische Lebensweise aus- oder eben einschließen sollte.

Die Verweigerung der 1847 gegründeten Vegetarian Society, ein strengeres Verständnis des Begriffs Vegetarier zugrunde zu legen, führte in den 1940ern dazu, dass sich eine kleine Gruppe rund um Donald und Dorothy Watson sowie Elsie Shrigley nach etwas Neuem sehnte. Das Ergebnis war die 1944 gegründete Vegan Society, die sich von Anfang an scharf gegen die Ausbeutung von Tieren aussprach.18 Es sollten jedoch noch mehrere Jahrzehnte vergehen, bis sich die Mitglieder auf die Veganismus-Definition einigen konnten, die heute wohl auch von den meisten vegan lebenden Personen herangezogen wird:

»Der Veganismus ist eine Philosophie und eine Lebensweise, die danach strebt, alle Formen der Ausbeutung von und Grausamkeiten gegenüber Tieren – soweit es möglich und praktisch durchführbar ist –, sei es für die Ernährung, für Kleidung oder für irgendeinen anderen Zweck, zu vermeiden. Darüber hinaus fördert er zum Vorteil von Mensch, Tier und Umwelt die Entwicklung und Nutzung tierfreier Alternativen. Auf die Ernährung bezogen, bezeichnet der Veganismus die Praxis, auf alle Produkte zu verzichten, die ganz oder teilweise von Tieren stammen.«19

Abb. 1: Auszug aus der ersten Vegan News von November 1944 zum Thema Milchkonsum20


Auch wenn im Normalfall nur der erste Satz herangezogen wird, um in Gesprächen über den Veganismus eine Definition zu benennen, dürfte es sinnvoll sein, die Definition in ihrer Gesamtheit zu betrachten, denn so lassen sich einige wichtige Punkte adressieren, die in Diskussionen immer wieder für Verwirrung sorgen können.

Die von der Vegan Society gewählte Definition enthält gleich mehrere klärungsbedürftige Details. Dass sie derartig erläuterungsbedürftig ist, ist jedoch nicht pauschal ein Indiz dafür, dass es sich um eine unachtsam formulierte Definition handelt. Sie versucht ganz im Gegenteil auf durchaus weitsichtige Weise, einen sinnvollen Minimalrahmen abzustecken.

•»Der Veganismus ist eine Philosophie und Lebensweise, die danach strebt …«

Unter Philosophie ist in diesem Kontext eine ethische Einstellung gemeint. Die Vegan Society stellt also klar, dass der Veganismus ein (tier-)ethisches Anliegen ist. Der Ausdruck des Strebens nach dieser Lebensweise deutet bereits an, dass es nicht um Perfektion in der Umsetzung geht, da eine hundertprozentige vegane Lebensweise nach den Idealvorstellungen zumindest gegenwärtig praktisch nicht möglich ist (siehe Kapitel 6).

•»… alle Formen der Ausbeutung von …«

Unter Ausbeutung ist eine ungerechte Nutzung zu verstehen.21,22 Es geht folglich nicht darum, dass sich in jedem Fall zwingend jede Form der »Nutzung« von Tieren unter keinen Umständen mit den Idealen des Veganismus vereinen lässt, sondern dass in jenen Fällen, in denen es keine Alternative gibt (was entsprechend selten der Fall ist) eine für beide Seiten gerechte Lösung angestrebt wird und dabei keine Ausbeutung stattfindet. Vor allem mit Blick auf zukünftige Technologien wie Cultivated Meat muss deutlich zwischen Nutzung und Ausbeutung unterschieden werden. Vielmehr strebt der Veganismus danach, dass alle Formen der ungerechten und ungerechtfertigten Nutzung vermieden werden.

•»… und Grausamkeiten gegenüber Tieren …«

Das Oxford Dictionary definiert Grausamkeit wie folgt: »Ein Verhalten, das anderen physische oder psychische Schmerzen zufügt oder sie leiden lässt, insbesondere absichtlich.«23 Es zählt also die Kombination aus Absicht und Handlungsfolge. Auf der Basis dieser Definition sind unbeabsichtigte Ernteopfer, tote Insekten an der Frontscheibe eines Autos und vergleichbare Fälle keine direkten Widersprüche zur veganen Lebensweise, auch wenn sie selbstverständlich nicht als ethisch bedeutungslos betrachtet werden sollten. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff Tier nicht weiter eingeschränkt wird, schließt die Definition alle Tiere ein. Inwiefern sie Ausbeutung erfahren, ist im Einzelfall von ihren jeweiligen Interessen abhängig zu machen.

•»… soweit es möglich und praktisch durchführbar ist …«

Diese Formulierung ist die zentrale Aussage der Definition. Sie verdeutlicht, dass der Veganismus von Menschen keine völlige Selbstaufopferung fordert. Im Zusammenspiel mit dem Begriff Ausbeutung ergibt sich die Interpretation, dass Menschen, die zwingend darauf angewiesen sind, Tiere zu Ernährungszwecken zu nutzen, berechtigt sind, dies zu tun, und sich dennoch als »vegan lebend« bezeichnen können – mehr dazu an späterer Stelle der Einleitung.

•»… sei es für die Ernährung, für Kleidung oder für irgendeinen anderen Zweck, zu vermeiden …«

Dieser Teil stellt klar, dass es dem Veganismus nicht ausschließlich um die Ernährung, sondern um alle Formen der ungerechten Nutzung geht. Abseits der Ernährung und Kleidung beschreibt dies auch Tierversuche für Kosmetik und Medizin, Tiernutzung zu Unterhaltungszwecken (Zoo und Zirkus) usw.

•»… Darüber hinaus fördert er zum Vorteil von Mensch, Tier und Umwelt die Entwicklung und Nutzung tierfreier Alternativen …«

Die Vegan Society wollte augenscheinlich sicherstellen, dass der Veganismus auch das Ziel verfolgt, die Entwicklung und Nutzung tierfreier Alternativen zu fördern. Eine Auskunft darüber, auf welche Weise diese Förderung erfolgen soll, trifft die Definition allerdings nicht. Von größerer Bedeutung ist, dass dieser Satz so gedeutet werden kann, dass der Veganismus sowohl für Menschen und Tiere als auch für die Umwelt Vorteile hat. Den digitalisierten frühen Ausgaben der Vegan News kann entnommen werden, dass die Gründungsmitglieder der Vegan Society davon überzeugt waren, dass eine Ernährung, die so weit wie möglich auf Tierisches verzichtet, neben den ökologischen Vorteilen auch am gesündesten für den Menschen sei.24 Dieser Teil der Definition wird an späterer Stelle dieser Einleitung ebenfalls noch im Detail besprochen und kritisch geprüft.

•»… Auf die Ernährung bezogen bezeichnet der Veganismus die Praxis, auf alle Produkte zu verzichten, die ganz oder teilweise von Tieren stammen …«

Der abschließende Satz der Definition der Vegan Society beschreibt, wie eine vegane Ernährung für die allermeisten Menschen aussieht: frei von jeglichen tierischen Produkten wie Fleisch, Fisch, Milch, Käse, Eier, Honig, Gelatine etc. Wenn in Zukunft tierische Lebensmittel im Rahmen der zellbasierten Landwirtschaft auch ohne Tierausbeutung produziert werden können, steht allerdings die Frage im Raum, ob dies dazu führen müsste, die Definition des Veganismus anzupassen. Eine offizielle Stellungnahme seitens der veganen Interessensvertretungen wie der Vegan Society oder ProVeg International steht zum aktuellen Zeitpunkt noch aus. Der letzte Teil der Veganismus-Definition steht außerdem (zumindest in einzelnen theoretischen Fällen) in einem gewissen Widerspruch zu der ebenfalls in der Definition enthaltenen Formulierung, dass die Vermeidung nur »soweit es möglich und praktisch durchführbar ist« gehen muss. Dies bedeutet zwar für den Großteil der Menschen einen kompletten Verzicht auf sämtliche tierische Produkte, aber ermöglicht im Falle von überlebenswichtigen Situationen, notwendige Ausnahmen zu machen.

Vegan ist Unsinn!

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