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Gefährdete Schönheit
ОглавлениеJean de Joinville
„Und wie der Schreiber, der sein Buch gemacht hat, es mit Gold und Silber illuminiert, so illuminierte der besagte König sein Reich mit schönen Abteien […] und mit der großen Anzahl der Hospitäler.“ Mit diesen Worten verglich Jean Sire de Joinville in seiner 1309 verfassten Vie de Saint Louis im Rückblick auf die Leistungen des kanonisierten französischen Königs Ludwig IX. den herrlichen Schmuck seinerzeitiger Luxusmanuskripte mit dem Dekor, den kirchliche und soziale Einrichtungen ins Leben riefen. Zur Zeit Joinvilles stellten die Juwelierskunst und das illuminierte Buch die höchste Leidenschaft der Fürsten dar, jener Auftraggeber, die mit solchen Stücken prunken und gleichzeitig ihre Frömmigkeit demonstrieren konnten. Das exzellent ausgestattete Buch war als Sammlungsobjekt mehr geschätzt als etwa die Gemälde, und mit seinen Illuminationen unendlich viel kostbarer als diese. Um 1400, zur Zeit der Internationalen Gotik, zeigten viele Miniaturen in fürstlichen Prunkhandschriften hinreißende optische Wirkungen (um von den künstlerischen ganz zu schweigen), indem sie dem gewöhnlichen Farbstoff Goldemulsion und rot oder grün lasierte Gold- oder Silberauflagen hinzufügten. Neben die faszinierende Pracht der Bilder traten nicht minder beeindruckend die Kalligrafie der Schrift und die Eleganz des Bordürenschmucks. Zudem dienten der Gliederung des Textes bunt akzentuierte „Signale“, an erster Stelle die mit roter Tinte geschriebenen Rubriken, welche die einzelnen Textabschnitte ankündigen und benennen. Unter künstlerischem Aspekt wesentlich wichtiger als die Rubriken sind die Initialbuchstaben, mit deren Hilfe eine Feingliederung des Textes erfolgte. Auch die Größe und Dekoration solcher Zierinitialen unterlagen einer subtilen hierarchischen Ordnung.
„arts de luxe“
Gewiss, zu allen Zeiten existierten Bücher einfacheren und wesentlich billigeren Zuschnitts, die auf Illustrationen verzichteten oder sie lediglich sparsam und mit geringem Materialaufwand einsetzten. Doch die Überlieferungsgeschichte der Bücher und folglich auch die kunstwissenschaftliche Beschäftigung mit der Buchmalerei hat es in erster Linie mit Prachtausgaben, zumindest mit künstlerisch ambitionierten Handschriften zu tun. Die wichtigsten Überlieferungen der Buchmalerei dokumentieren von der Spätantike bis ins ausgehende Mittelalter und in die beginnende Neuzeit hinein ein Segment aus den epochenspezifischen arts de luxe. Im Laufe eines guten Jahrtausends repräsentierte diese Gattung eine Abfolge künstlerischer Glanzleistungen, die lediglich in der unruhigen Zeit der Völkerwanderung stagnierte (ohne völlig zu erlöschen), sich ansonsten jedoch ungebrochen fortsetzte, wenn auch unter der von Epoche zu Epoche wechselnden Regie verschiedener Kunstzentren.
„Es leuchten die Seiten … “: Die mit dieser Metapher ausgedrückte Schönheit und Kostbarkeit der illuminierten Handschriften, die nicht zuletzt aus dem Materialluxus und der Zusammensetzung der Farbpigmente resultieren, bewirkten einerseits, dass zumindest ein Bruchteil dieser bibliophilen Kostbarkeiten in Sammlungen und Bibliotheken erhalten blieb, sie trugen aber andererseits auch zu ihrer Fragilität bei, auf die aktuelle konservatorische Überlegungen Rücksicht nehmen müssen. Deshalb sind die Preziosen der Buchkunst kaum noch in Ausstellungen zu sehen, auf ausgedehnte Ausstellungstourneen können und dürfen sie schon gar nicht mehr geschickt werden. Auch an ihren ständigen Aufbewahrungsorten, das heißt in den großen Bibliotheken, sind die illuminierten Bücher der Allgemeinheit nicht zugänglich, nur wenige Spezialisten dürfen sie in die – behandschuhte – Hand nehmen. Und selbst das ist nicht immer möglich, denn in besonders prekären Fällen hat man, um ihr Überleben zu garantieren, die gefährdeten Bücher zerlegt und Blatt um Blatt zwischen Acrylplatten montiert.
Faksimile
Das breite Publikum ist also, will es sich mit dem Phänomen Buchmalerei auseinandersetzen, auf die Abbildungen in der Sekundärliteratur und anderweitige Reproduktionen angewiesen. Die sogenannten Faksimiles (lat. fac simile bedeutet „mache es ähnlich“) suchen die bestmögliche Nachahmung der Originalvorlage. Die jeweiligen Ausgaben wenden das mimetische Prinzip nicht nur auf die Bildbearbeitung samt der besonders schwierigen Wiedergabe der Goldpartien (Blattgold und Pinselgold in ihrer unterschiedlichen Erscheinungsweise) an, sondern auch auf den Druck und die Bindung der Bücher, ja gelegentlich sogar auf die Replik des mehr oder weniger aufwendigen Einbandes. Dementsprechend teuer sind diese Editionen, die längst einen eigenen Sammlermarkt bedienen und – selbst in der Version von Teilfaksimiles – nur eine begrenzte Klientel erreichen. Der Wissenschaft sind Faksimiles als Ergänzung zu den authentischen Handschriften insofern willkommen, als sie ein zeitintensives Studium der Miniaturen erlauben, das aus konservatorischen Gründen am Original nur eingeschränkt möglich wäre. Außerdem werden solche Faksimile-Ausgaben in der Regel von Begleit- und Kommentarbänden sekundiert, die von ausgewiesenen Kennern verfasst sind und den aktuellen Forschungsstand zu den faksimilierten Handschriften ausbreiten.
Der interessierte Laie hat es also keineswegs leicht, in die Materie der Buchmalerei einzudringen. Zumal ihn die erwähnten Kommentarbände allein aufgrund ihrer oft kryptischen Fachterminologie auf eine harte Probe stellen. Da ist beispielsweise die Rede von „Ms lat. …“ in der Biblioteca Laurenziana, da liest man „fol. 1v“ oder „fol. 100r“, man erfährt etwas über „Lagen“, „Rubriken“, „Muschelgold“ et cetera. Auch das vorliegende Buch kommt um solche Termini und Kürzel nicht herum.
Abkürzungen und Signaturen
Wissenschaftliche Literatur zur Buchmalerei verwendet zahlreiche Abkürzungen. Hier einige der wichtigsten:
fol. (folio) = Blatt
fol. …r (recto) = Blatt…, Vorderseite (d.h. bei aufgeschlagenem Codex die rechte Seite)
fol. …v (verso) = Blatt…, Rückseite (also die linke Seite)
p. (pagina) = Seite (mittelalterliche Codices sind nur selten durchpaginiert)
Die korrekte Titulatur einer Handschrift besteht aus Angabe der Stadt und Bibliothek, in der sie sich befindet, gefolgt von Cod. (= Codex) oder Ms (= Manuskript) und einer Zahl, hinzu kommt oft eine sog. Fondangabe: z.B. germ. = germanicus, gr. =graecus, lat. = latinus.
Viele große Bibliotheken führen Hinweise auf mit neuer Zählung beginnende Sammlungsbestände, z.B. Add. (= Additional) in der British Library London, nouv. acq. (= nouvelle acquisition) in der Pariser Bibliothèque nationale de France.
Auch geänderte Signaturen sind gelegentlich angegeben, z.B.: Dublin, Trinity College 58 (ol. A. 1.6) für das Book of Kells, einst (= olim) A. 1.6.
Weitere Siglen: etwa Clm/Cgm = Codex latinus/Codex germanicus, oder Vat. lat./gr. = Vaticanus latinus/graecus. Die British Library verzeichnet auch die einzelnen Bibliotheken, aus denen sich die Gründungsbestände 1753 zusammensetzten: Cotton (Sir Robert Cotton pflegte im 17. Jahrhundert seine Bücherschränke nach römischen Kaisern und Kaiserinnen zu benennen, gefolgt von Regal- und Buchnummern, also: Cotton Nero D IV = Book of Lindisfarne), Harley, Sloane – seit 1973 kam eine Reihe weiterer solcher Bezeichnungen hinzu.
(Zusätzliche Hinweise bei Christine Jakobi-Mirwald: Buchmalerei, Berlin 1997, S. 175ff.)
Eine grundsätzlichere Schwierigkeit für das Verständnis liegt in der Tatsache, dass sowohl die Texte als auch die Miniaturen den heutigen Leser und Betrachter mit weit zurückliegenden Sachverhalten und Weltanschauungen konfrontieren. Fragen der Liturgie in religiösen Manuskripten und die historische Bildersprache der zugehörigen Illustrationen sind heute nur den Wenigsten vertraut, auch widersprechen die wissenschaftlichen und historischen Inhalte mittelalterlicher Bücher häufig heutigen Denkgewohnheiten. Doch all diese Wissens- und Glaubensstoffe sowie die symbolisch verschlüsselten wie auch die alltäglichen „Weltbilder“ machen, so fremd sie auf den ersten Blick erscheinen, einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes aus. Entschlüsselt man sie und die zugehörigen Illustrationen, dann wird die Buchmalerei auch auf diesem Wege zu einem Faszinosum.