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Bücher und ihr Dekor Die Magie sakraler Bücher

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Das Christentum ist eine Buchreligion – und verleiht, zumindest in früheren Epochen, dem Buch Zeichen- beziehungsweise Symbolcharakter. Die Vierzahl der Evangelien etwa korrespondiert nach (früh-)mittelalterlicher Überzeugung mit den vier Hauptwinden, den vier Elementen, den vier Himmelsrichtungen, den vier Seiten des mundus tetragonus, der irdischen Welt: Vier Evangelien, vier Bücher – und ein einziges Wort, aber welches? Das Wort Gottes beziehungsweise Gott als Wort, als Logos!

Hugovon St. Victor

Gott hält das Buch im Bildtypus der Majestas Domini demonstrativ als Ausweis seiner Herrscherkraft. Zwei Bücher hat er „geschrieben“, das Buch der Natur, das – zwischen den Zeilen gelesen – wiederum von ihm, dem Schöpfer, handelt, und das Buch der Bücher. Der Wortoffenbarung in der Heiligen Schrift entspricht die Schöpfungsmanifestation in der Natur, die, wie der Theologe und Philosoph Hugo von St. Victor im 12. Jahrhundert sagte, wie ein Buch aus Gottes Hand hervorgeht: scriptus digito Dei – „geschrieben mit dem Finger Gottes“. Zahlreiche Miniaturen präsentieren die Hand Gottes mit Spruchband, als Schreibhand also. Die wechselweise Stellvertretung von Wortverkündigung und handschriftlich fixiertem heiligem Text erweist sich in den Manuskripten besonders sinnfällig, wenn die Initialen zu Bildern werden, wenn sich Buchstaben zu „Ikonen“ transformieren, deren Lautbedeutung weitgehend zurücktritt hinter der Vergegenwärtigungsfunktion des Zeichens. Christus ist zugleich wahrer Mensch und das Wort, das Fleisch geworden ist. Dementsprechend zeigt die Miniatur einer berühmten Bible moralisée um 1230 (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2554, fol. 16r) das Christuskind nicht in einer Krippe liegend, sondern zwischen den Pergamentseiten eines Buches.

Bereits aus dem 4. Jahrhundert ist im Rahmen bedeutender Kirchenversammlungen der Ritus bezeugt, das Evangelium auf den Bischofsstuhl zu legen, um so die präsidiale Rolle Christi zu symbolisieren, dessen unsichtbare Gegenwart das Buch sichtbar macht. An hohen kirchlichen Feiertagen wurden mit den Ostensorien und Monstranzen, mit Kreuzen und Reliquien auch die kostbaren Evangeliare ins Freie getragen und den Gläubigen vorgeführt – Bücher zum Sehen, nicht zum Lesen und Hören.

Bucheinbände

Codex Aureus von St. Emmeram

Der zumeist kostbare Bucheinband umhüllt das Wort, insbesondere die Evangelienbotschaft. Bereits für die Zeit um 400 belegen Quellen die Existenz edelsteinbesetzter Evangeliare, und Abbildungen beweisen, dass im 5. und 6. Jahrhundert in Ost und West der Edelsteinschmuck auf Buchdeckeln kreuzförmig angeordnet war, wie es auch spätere Epochen beibehielten. Im 30. Kapitel von Cassiodors Institutiones divinarum et saecularium litterarum, einer Enzyklopädie der theologischen und profanen Literatur aus dem 6. Jahrhundert, ist zu lesen, dass den Schreibern gelehrte Künstler zur Seite treten sollen, um den heiligen Schriften ein zum Inhalt passendes schönes Antlitz zu geben. Das heißt nicht, dass der Deckeldekor der 1 liturgischen Bücher ikonografisch strikt auf den jeweiligen Schriftinhalt abgestimmt sein musste. Der Schmuck des Einbands hatte jedoch in ästhetischem und materiellem Aufwand dem verehrungswürdigen Text angemessenzu sein. In diesem Sinne bildete jeder Buchdeckel „gleichsam das Tor zum Worte Gottes wie zur Liturgie der Kirche und kündete von Christus als Weg, Wahrheit und Ewigem Leben“ (Frauke Steenbock). Der sowohl in künstlerischer wie in materieller Hinsicht kostbarste mittelalterliche Prachteinband ist der um 870 für den Codex Aureus von St. Emmeram entstanden – ein Evangeliar, von dem wir noch hören werden.


Nicht selten verwendete man im frühen Mittelalter als Schmuck- und Schutzhülle insbesondere für liturgische Bücher, vor allem Evangeliare und Sakramentare, schreinförmige Kästen, von denen in Irland einige erhalten blieben. Zumeist aber waren es herrlich dekorierte Buchdeckel, Einbände mit Applikationen aus getriebenem Edelmetall, figürlichen Treibarbeiten, aufgesetzten Metallleisten, mit wiederverwendeten antiken oder neu angefertigten Elfenbeinreliefs, mit Perlen und Edelsteinen in dekorativer Anordnung, die eine solche Aufgabe übernahmen. Zu den ältesten erhaltenen Exemplaren zählen die im Domschatz des oberitalienischen Monza, Meisterwerke langobardischer Goldschmiedekunst des frühen 7. Jahrhunderts.

Im 14. und 15. Jahrhundert traten an die Stelle des Goldes, sofern man sich nicht auf Leder- oder Stoffeinbände beschränkte, Silbertreibarbeiten beziehungsweise durchbrochen gearbeitete Kupfertafeln. Eine letzte Renaissance erlebten wertvolle Metalleinbände in der sogenannten Silberbibliothek des Herzogs Albrecht von Preußen aus dem 16. Jahrhundert, deren sündhaft teure Einbände weitgehend von Königsberger Goldschmieden angefertigt wurden.

Book of Durrow

An nicht wenige der liturgischen Bücher knüpften sich magische Vorstellungen und Handlungen. In erster Linie war dies bei Evangelienhandschriften der Fall. Sie waren es vor allem, auf die die thaumaturgischen, das heißt Wunder bewirkenden Kräfte jenes Heiligen übergingen, den die Legende als ihren Schöpfer oder Erstbesitzer auswies. Von irischen Hagiografen wird einem derart nobilitierten Codex topisch, das heißt in formelhafter Wortwahl, nachgesagt, dass es ein Eintauchen in Wasser ohne Schaden überstand. Im 17. Jahrhundert richtete indes das Wasser, in das man das Book of Durrow tauchte, um kranke Rinder zu heilen, sehr wohl großen Schaden an. Offenbar hat man zu dieser für den materiellen Zustand des Codex fatalen Zeremonie aber nur bestimmte Lagen benutzt, nämlich die Folia 208 bis 221 mit Auszügen des Johannes-Evangeliums. Ein Loch im oberen rechten Eck legt die Vermutung nahe, dass dort ein Strick die Blätter zusammenhielt. Kein Wunder, dass sie nach dieser wiederholten Prozedur Wasserschäden aufweisen.

Insulare Ornamentmagie

Das Book of Kells ist zweifellos einer der größten Kunstschätze der Welt. Es inspirierte James Joyce zu Finnegans Wake (1922–1939), einem Stück Literatur, das Bild und Sinnbild der Welt sein wollte. Und vorher, im Zusammenhang mit dem großen Roman Ulysses (1922) be- hauptete Joyce, dass viele Initialen des Book of Kells die substanzielle Eigenart seiner Kapitel besäßen.


Die XPl (=Chi Rho Jota-)-Ligatur zu Beginn des Matthäus-Evangeliums (vgl. Abb. 1) gilt als buchmalerischer Höhepunkt des insularen Stils. Inmitten einer verwirrenden Vielfalt von Verzierungen, von kinästhetischen Wirbeln, Entrelacs und Passformen tauchen, zusätzlich zu geflügelten Gestalten, wohl Engeln, minutiös ausgearbeitete Tiergestalten auf: Ein Otter, Katzen, Mäuse nagen an Fisch und Hostie, hinzu kommt ein Paar Nachtfalter – sie alle sind wohl als eucharistische Symbole oder als Zeichen der kosmologischen Einheit von Erde, Wasser und Luft zu deuten. Die geschwungenen Balken des X erfüllen die Zierseite mit einer Dynamik, die noch weiter gesteigert wird durch das An- und Abschwellen des Buchstabenkörpers. Die Enden der Buchstabenschäfte laufen in herrliche Spiral- und Trompetenmuster aus. Die Antwort auf die Frage, was sich an diesem rätselhaften und doch so beherrscht gemalten Labyrinth auf heidnische Magie, auf Schnur- und Knotenzauber, besinnt, bleibt spekulativ.

Subtiler war die Buchmagie, die das frühkarolingische Godescalc-Evangelistar dokumentiert (vgl. Abb. 2): Wenn es im Widmungsgedicht heißt: „Aurea purpureis pinguntur grammata scedis/Regna poli roseo pate-sanguine-facta tonantis/Fulgida stelligeri promunt et gaudia caeli … “ („Goldene Buchstaben sind gemalt auf purpurne Blätter. Sie offenbaren das durch das rosenfarbene Blut des Donnerers geöffnete Himmelreich und die glänzenden Freuden des gestirnten Himmels … “) – setzt dies das Wissen um Materalikonografie im Rahmen antikisierender Symbolik voraus. Die Ausdeutung der für das Buch aufgewendeten Werkstoffe wird in den anschließenden Versen weiter verfolgt, nun aber in christlicher Ausrichtung; Rot steht für die Taten der Märtyrer, Gold für Jungfräulichkeit, Silber für den Ehestand. Schließlich ist von der „mit kostbaren Metallen geschriebenen göttlichen Lehre“ gesagt, sie führe diejenigen, die dem Licht des Evangeliums folgen, ins Himmelreich.

Seit dem 14. Jahrhundert bürgerte es sich ein, in die Segensformeln gegen Blitzschlag und Unwetter alle vier Evangelienanfänge aufzunehmen. Doch nicht nur das Mittelalter kannte entsprechende Handlungen. Die Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Pürten bei Kraiburg am Inn besaß bis zur Säkularisation ein im 10. Jahrhundert aus der Buchmalereischule von Reims hervorgegangenes Evangeliar (heute München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 5250), das man zu Heilungszwecken verwendete: Man schlug es, nachweislich bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, jeweils bei einem Evangelistenbild auf und legte es über Nacht einem Geistesgestörten, Epileptiker oder einem angeblich vom Teufel Besessenen unter den Kopf.

Als Bücher zunehmend zu intellektuellen Kommunikationsmedien wurden, ist im Gegenzug ihre magische Aura zweifellos schwächer geworden. Aber sie ist darüber nicht einfach verschwunden, sondern erlebte einen Transfer eigener Art.

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