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Zeitliche und kunstlandschaftliche Schwerpunkte

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Itala-Fragmente

Die Buchproduktion der Antike erlebte mit dem Untergang des weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert einen dramatischen Verfall. Nur langsam übernahm das Christentum dieses Erbe. Es waren zunächst die Klöster, die die Buchkultur mühsam am Leben hielten und Schritt um Schritt zu neuer Blüte führten. Für den Zeitraum vom 4. bis zum 7. Jahrhundert lässt allerdings die enorme Verlustrate der Bücher kaum eine Rekonstruktion der Entwicklungsschritte zu. Sicher ist, dass der antike Formen- und Typenschatz zunächst die Grundlage blieb, ehe das Frühmittelalter den spätantiken Naturalismus und Illusionismus zugunsten einer stilisierten Bildsprache aufgab. Ungefähr gleichzeitig mit der kopierenden Fortsetzung antiker Texte – berühmte Beispiele sind der um 400 entstandene Vergilius Vaticanus und der rund hundert Jahre jüngere Vergilius Romanus (beide in der Vatikanischen Bibliothek, Vat. lat. 3225 und Vat. lat. 3867) – setzten auch die ersten Bibeleditionen ein, wie die im späten 4. oder frühen 5. Jahrhundert entstandenen Quedlinburger Itala-Fragmente (Berlin, Staatsbibliothek, Ms theol. lat. fol. 485) zeigen.

Mit der Christianisierung der Britischen Inseln entwickelte sich die dortige insulare Buchmalerei zu einem ersten Höhepunkt der Gattung in nachantiker Zeit. Nach der Missionierung Irlands durch den heiligen Patrick im 6. Jahrhundert gingen irische Mönche nach Iona und bekehrten von dort aus Schottland. Im Norden Englands, in Northumbrien trafen sie auf Glaubensgemeinschaften, die von Europa aus begründet worden waren und Bücher aus Italien mitgebracht hatten. In meist engster Anlehnung an die gleichfalls oft in Klöstern gepflegte Goldschmiedekunst ergingen sich jene anglo-irischen Miniatoren in ornamentalen Phantasien und verbanden Buchschmuck und kalligrafisch meisterlich gehandhabte Schrift, gipfelnd in den Organismen der Initialkörper. Die bedeutendsten Beispiele sind das Book of Durrow (um 675; Dublin, Trinity College Library, Ms A.IV.5 [57]), das Book of Lindisfarne (Ende 7. Jh.; London, British Library, Cotton Ms Nero D.iv) und das Book of Keils (um 800; Dublin, Trinity College Library, Ms 58 [ol. A.1.6]) (Abb. 1). Die vorgeschichtliche, keltische und germanische Interpretation des Ornamentes als Träger magischer Kräfte vereinte sich darin bruchlos mit dem christlichen Verständnis vom sakramentalen Sinn des Wortes in seiner künstlerischen Umformung. Hinzu kamen mediterrane Anregungen, die zur allmählichen Herausbildung figürlicher Darstellungen führten. Der Dekor aus unentwirrbar verschlungenen Tierleibern, aus hieroglyphischem Flechtwerk, aus labyrinthischen Ornamentmustern entspricht einer mystischen Glaubenshaltung, die das frühbenediktinische Leitmotiv Ora et labora („Bete und arbeite“) auf die künstlerische Tätigkeit überträgt. Dabei bedienten sich die Künstler-Mönche einer Bildersprache, deren Grammatik und Syntax dem heutigen Betrachter freilich enorme Verständnisprobleme bereitet.


Abb. 1 Book of Kells: XPI-Liga-tur (= Chi Rho Jota) als Initiale zum Beginn des Matthäus-Evangeliums, um 800; Dublin, Trinity College Library, Ms A.1.6 (58), fol. 34r.

Der von den angelsächsischen Missionaren aufs Festland verpflanzte Stil der insularen Miniatoren sollte dort in gewissem Maße zu jenem neuen Höhepunkt beitragen, den die Buchmalerei zur Zeit Karls des Großen und seiner unmittelbaren Nachfolger um und nach 800 erreichte. Im intellektuellen Klima an Karls Hof entwickelten sich ein wegweisender Schrifttypus, die sogenannte karolingische Minuskel, und eine aristokratische Buchmalerei, die neben einigen wenigen insularen Motiven vornehmlich auf antike sowie byzantinische Traditionen zurückgriff. Als Zeichen des Verlangens nach sakralisierter kaiserlicher Repräsentation entstanden Evangelienmanuskripte, die mit Goldtinte auf Purpurpergament geschrieben waren.

Godescalc-Evangelistar

Wiener Krönungsevangeliar

Die erste erhaltene Bilderhandschrift, die im Auftrag des nachmaligen Kaisers geschaffen wurde, ist das kurz nach 780 vollendete Godescalc-Evangelistar (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms nouv. acq. lat. 1203) (Abb. 2). Mit ihr heben die zu den Höhepunkten mittelalterlicher Buchkunst zählenden Prachtcodices der Hofschule an. Das gleiche Prädikat dürfen die Arbeiten der Palastschule beanspruchen, unter ihnen das kurz vor 800 vollendete Wiener Krönungsevangeliar (Wien, Schatzkammer, SCHK, XIII) (Abb. 3).

Um die in Aachen entwickelten Zeugnisse der Gelehrsamkeit und Frömmigkeit zu verbreiten, entsandte Karl „Emissäre“ in die klösterlichen Zentren seines Riesenreiches: Bald florierte die früh- und hochkarolingische Buchmalerei von Tours bis Italien, von Reims bis Würzburg, von Corbie bis Kremsmünster. Auch Fulda, Lorsch, St. Gallen oder Trier installierten markante Schulen damaliger Buchkunst.

Codex Aureus aus St. Emmeram

Im späten 9. Jahrhundert nähert sich die karolingische Buchmalerei mit der westfränkischen Hofschule Karls des Kahlen ihrem Ende. Ein illustres Ausrufezeichen setzte nochmals das ins Kloster St. Emmeram zu Regensburg gelangte Prunkstück des Codex Aureus (870 in einem nordfranzösischen Atelier entstanden und als Geschenk an Kaiser Arnulf gelangt, der in Regensburg residierte; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14.000) (Abb. 4).


Abb. 2 Godescalc-Evangelistar: Heilsquell (Lebensbrunnen), 781; Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms nouv. acq. lat. 1203, fol. 3v.


Abb. 3 Wiener Krönungsevangeliar: Evangelist Johannes, kurz vor 800; Wien, Kunsthistorisches Museum, Schatzkammer, SCHK, XIII, fol. 178v.


Abb. 4 Codex Aureus aus St. Emmeram: Karl der Kahle, begleitet von Waffenträgern und den Personifikationen Francia und Gotia, 870; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14.000, fol. 5v.

„Ottonik“ hat sich als Stilbezeichnung in der deutschen Kunstgeschichte eingebürgert und umfasst im Kern die Zeitspanne vom mittleren 10. bis zum frühen 11. Jahrhundert. Ottonische Kunst ist höfisch-aristokratische und reichsklösterliche Kunst. Auftraggeber waren Angehörige des Kaiserhauses, Reichsbischöfe, Äbte und Äbtissinnen aus den vornehmsten Familien. Neben dem hochrepräsentativen Anspruch prägt eine neue Suche nach seelischem Ausdruck und nach ekstatischer Gebärdensprache die Buchmalerei, mit der das Gebiet der deutschen Königsherrschaft unbestritten die künstlerische Führung im europäischen Kontext innehatte.

Gregor-Meister

Die Hauptskriptorien (Schreib- und Illuminationswerkstätten) knüpften nahtlos an karolingische Traditionen an. Als besonders brillant erwies sich die Miniaturenkunst des Bodensee-Klosters Reichenau, das die einzigartigen Anregungen des Meisters des Registrum Gregorii aufgriff und weiterentwickelte (Abb. 5). Seinen Notnamen erhielt dieser Anonymus nach dem zwischen 983 und 990 entstandenen Einzelbild des thronenden Papstes Gregor des Großen (Trier, Staatsbibliothek), ein Fragment von einem Manuskript mit der als Registrum Gregorii bekannten Briefsammlung des Papstes. Möglicherweise lebte der Gregor-Meister als Mönch in der größten Benediktinerabtei Triers, St. Maximin, oder als Kanoniker in einem der Trierer Stifte. Vielleicht war er aber auch ein aus Italien gekommener Laie im Dienste des Trierer Erzbischofs Egbert.

Reichenauer Schule

Jener geniale Künstler entwickelte eine stilistische Richtung, die, wie gesagt, sogleich von der Reichenauer Schule aufgegriffen, modifiziert und zwischen etwa 990 und 1020 zu unerhört expressiver Kraft gesteigert wurde: mit einem Evangeliar im Aachener Domschatz aus den Jahren um 990 (möglicherweise aber auch in Trier entstanden), dem Evangeliar Ottos III. (bald nach 997; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4453), dem Perikopenbuch Heinrichs II. (1007/12; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452) (Abb. 6) und der Bamberger Apokalypse (um 1000 – vor 1020; Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 140).

In der altbayerischen Residenzhauptstadt Regensburg wuchs das Benediktinerkloster St. Emmeram zu einem der Reichenau ebenbürtigen Zentrum der Bildung und der Buchkunst heran, wobei der erwähnte spätkarolingische Codex Aureus als unerschöpfliche Inspirationsquelle wirkte. Neben Regensburg sind weitere Schulen der Buchmalerei in St. Gallen, Trier, Salzburg, Fulda, Köln, Corvey und Hildesheim hervorzuheben. Fast alle der in diesen Skriptorien geschaffenen Miniaturen verraten, so unterschiedlich sie stilistisch sind, nachhaltige Anregungen seitens der byzantinischen Buchmalerei.

Die mit der Ottonik ungefähr zeitgleiche Stilentwicklung außerhalb der Grenzen der deutschen Königsherrschaft tituliert die Forschung als Vor- oder Frühromanik. Die Hochblüte der Romanik fällt zeitlich mit der Konsolidierung jener politischen Keimzellen, aus denen sich die Nationalstaaten Frankreich und England herauskristallisierten, zusammen. Dementsprechend vermehrten sich die wichtigen Zentren der Kunst und somit auch der Buchmalerei, und es zeichneten sich zunehmend kunstlandschaftliche „Sonderwege“ ab (wenn im Folgenden von Spanien, Italien oder Deutschland die Rede ist, dann nicht deckungsgleich mit den heutigen Staatsgebilden). Außerdem machten sich im 12. Jahrhundert erste Anzeichen einer Säkularisierung der europäischen Gesellschaft und eine damit einhergehende Umgewichtung von Inhalten und Produktionsbedingungen auch auf dem Buchsektor geltend. Verwiesen sei nur auf die wachsende Illustration wissenschaftlicher oder (pseudo-) wissenschaftlicher Werke wie der Bestiarien – Sammlungen moralisierender Tiergeschichten, die als Lehrbücher der Zoologie galten. Die klösterliche Schreib- und Illuminiertätigkeit behielt dennoch weiterhin ihr Gewicht, ja sie wurde durch die neuen Orden der Zisterzienser, Prämonstratenser und Kartäuser um zusätzliche Kräfte bereichert.


Abb. 5 Gregor-Meister: Registrum Gregorii, Einzelblatt mit thronendem Herrscher (Otto II. oder Otto III.), mit den huldigenden Provinzen seines Reiches, um 985; Chantilly, Musée Condé, Divers 340.


Abb. 6 Perikopenbuch Heinrichs II.: Verkündigung an die Hirten, 1007, spätestens 1012; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452, fol. 8v.

Die spanische Buchmalerei verblieb weitgehend bei jenem extrem farbenfrohen und flächigen, dem sogenannten mozarabischen Stil, der eine Reihe von Anregungen aus den dekorativen Künsten der islamischen Reiche auf dem Boden der Iberischen Halbinsel aufgenommen hatte (vgl. Abb. 10).

Die Buchmalerei Italiens teilte sich während der fraglichen Zeitspanne in einen extrem von Byzanz beeinflussten und in einen Teil, der – zumal über das Kloster Montecassino – Anschluss an die westliche, vor allem französische Buchkunst herstellte.

Apokalypse von Saint-Sever

Gegen 1000 zeichnen sich in Frankreich die Konturen einer innovativen Illuminationsleistung ab. Der im Südwesten angesiedelte aquitanische Stil weist enge Berührungen mit Spanien auf. Nicht umsonst entstand hier um die Mitte des 11. Jahrhunderts mit der berühmten Apokalypse von Saint-Sever (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms lat. 8878) die einzige nicht in Spanien hergestellte Handschrift aus der Reihe der Beatus-Apokalypsen, von denen später erneut die Rede sein wird. In den großen Klöstern des Nordens – Saint-Bertin, Saint-Vaast und Saint-Amand –, die seit jeher enge Kontakte zu England hatten, pflegte man dagegen den angelsächsischen Stil, der eine florierende Ornamentik bevorzugte.

In England wurden seit 1100 die großen kirchlichen Zentren – Canterbury, Salisbury, Exeter, Durham, Worcester, St. Albans und Bury St. Edmunds –, ferner die benediktinischen Klöster von einiger Bedeutung seit circa 1120–1150 systematisch mit Bücherbeständen ausgestattet. Darunter fanden sich zusätzlich zu liturgischen und anderweitig religiösen Werken juristische Codices, lateinische Grammatiken, klassisch-antike Autoren, der jüdische Historiker Flavius Josephus und eine Reihe von Chronisten, ferner astrologische, medizinische und botanische Traktate. Als Inkunabel der romanischen Buchmalerei in England gilt der herrliche Albani-Psalter, der zwischen circa 1130 und 1145 (nach 1155 noch Nachträge im Kalendar) verfertigt wurde (Hildesheim, Dombibliothek, Ms St. Godehard 1). Der Stil der Miniaturen knüpft partiell an die flächenbetonte ottonische Buchmalerei des 11. Jahrhunderts an. Konträr dazu favorisierte die Schule von Winchester einen nervös knittrigen Zeichenstil von ungeheurer Expressivität sowie eine hochkultivierte Ornamentik.

Evangeliar Heinrichs des Löwen

Die romanische Buchmalerei Deutschlands war trotz eines solch exorbitanten Werkes wie dem um 1175–1188 realisierten Evangeliar Heinrichs des Löwen (Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 105 Noviss. 2o und München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 30.055) in der Breite qualitativ nicht mehr mit der der vorangehenden ottonischen und salischen Phase zu vergleichen.

Ingeborg-Psalter

Die Gotik setzte in der Buchmalerei später als in den anderen Kunstgattungen ein, und zwar um 1195 in Nordfrankreich, mit dem herrlichen, für die Königin von Frankreich bebilderten und auch in der Entwicklung der gotischen Minuskel-Schrift bahnbrechenden Ingeborg-Psalter in Chantilly (Musée Conde, Ms 9). Die europäische Vorrangstellung der französischen Buchmalerei, die damals in einen intensiven Dialog mit der Glas- und der Tafelmalerei eintrat, verfestigte sich im 13. Jahrhundert und sollte rund zweihundert Jahre andauern. Im 14. Jahrhundert belegt die führende Werkstatt der Zeit, nämlich die des von 1320 bis 1334 in Paris nachzuweisenden Jean Pucelle (vgl. Abb. 25), dass die italienische Trecentomalerei die Miniatoren nördlich der Alpen zu Experimenten mit Perspektive und Raumdarstellung sowie zur Grisaille-Technik (Grau-in-Grau-Malerei) anregte. Seit Pucelle fungierten Pariser Buchmalerei-Werkstätten als Drehkreuze künstlerischer Strömungen, als Orte der Harmonisierung heimischer und fremder Stilrichtungen. Die Synthese scheinbar kontroverser Elemente gedieh zum Hauptmotor der Internationalen Gotik. Zug um Zug lüftete sich damals der Schleier der Anonymität, immer mehr Illuminatoren werden als Persönlichkeit konkreter fassbar.

Gleichzeitig antworteten die Handschriften hier und anderswo auf die wachsende Säkularisierung der Gesellschaft und ihrer Kultur. Mit den Universitäten entstanden neue intellektuelle Brennpunkte, die auch einen mit der Antike untergegangenen Berufsstand Wiederaufleben ließen: den der Buchhändler. Der Wunsch eines gebildeten, städtischen Publikums nach wissenschaftlicher Literatur trat neben die beeindruckend luxuriöse Produktion für aristokratische Auftraggeber, die Andachtsliteratur, Epen und höfische beziehungsweise Ritterromane favorisierten.

Um 1220 drang der Stil der französischen Gotik in die englische Buchmalerei ein und erfüllte die insulare Tradition der im Kolorit sparsam akzentuierten Federzeichnung mit neuem Leben. Der Höhepunkt dieser Entwicklung findet sich in den Illustrationen des Geistlichen Matthew Paris, des Leiters des Skriptoriums von St. Albans. An den nach wie vor mehr linearen denn malerischen Stil von St. Albans lehnte sich das Skriptorium von Salisbury an. In der Universitätsstadt Oxford etablierten sich im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts Malateliers nach Pariser Vorbild. Die engsten Berührungen mit der französischen Gotik zeigen die Werkstätten im Umkreis des englischen Hofes.

Auch Deutschland orientierte sich am international gewordenen Idiom eines delikaten gotischen Stils. Im Übergang von der Spätromanik zur Gotik waren es vor allem die Bildprägungen des sogenannten Zackenstils, die in der Verschmelzung heimischer Traditionen mit französischen Neuerungen herausragende Ergebnisse zeitigten. Eines der schönsten Werke in dieser Hinsicht und der vielleicht bedeutendste Codex der deutschen frühgotischen Buchmalerei ist das um 1250 entstandene Goldene Mainzer Evangeliar mit seinem virtuosen Bilderzyklus (Aschaffenburger Hofbibliothek, Ms 13).

Gebrüder Limburg

In Frankreich erreichte die Buchkunst im ausgehenden 15. Jahrhundert einen weiteren Höhepunkt, wobei ausländische Künstler, in erster Linie Niederländer und Italiener, nach Paris kamen und die Ausdrucksweise der Miniaturen vermehrt an naturalistischen Gesichtspunkten orientierten. Daraus entwickelte sich eine faszinierende Synthese aus internationaler, höfisch verfeinerter Gotik, italienischer Trecento-Modernität und realistischer Wirklichkeitsschilderung. Künstler wie die Gebrüder Limburg (vgl. Abb. 23, 26, 27), der Boucicaut-Meister oder der Bedford-Meister (vgl. Abb. 11) schufen an den Höfen König Karls V. und seiner Brüder – Ludwig von Anjou, Jean Duc de Berry und Philipp der Kühne von Burgund – die schönsten Stundenbücher, die die Kunstgeschichte kennt; genannt seien die alles überragenden Très Riches Heures, mit deren Illumination der Herzog Jean de Berry die Gebrüder Paul, Jean und Herman von Limburg beauftragte (1410–1416; spätere Ergänzungen; Chantilly, Musée Condé).

Von Italien und von Frankreich war auch die wunderbare Kunst der Buchillustration in Prag ausgegangen, die unter dem teilweise in Paris erzogenen Kaiser Karl IV. und besonders um 1400 unter seinem Sohn Wenzel gepflegt wurde, ohne dabei jedoch heimische Quellen ganz zu vergessen.

Breviarium Grimani

Im Verlauf des 15. Jahrhunderts ermöglichte das Mäzenatentum der Herzöge von Burgund, die von 1384 bis 1477 regierten, ehe ein großer Teil ihres Staatsgebietes durch Erbschaft an das Haus Habsburg fiel, eine unvergleichliche Prachtentfaltung. Damals gelang der burgundisch beeinflussten altniederländischen Malerei der Durchbruch zu innovativen Schöpfungen, die mit Namen wie Jan van Eyck und Barthélemy d’Eyck (vgl. Abb. 20, 29) verbunden sind und mit genialer Lichtbehandlung und detailgenauer Naturbeobachtung der weiteren flämischen Buchmalerei den Weg vorzeichneten. Im Zeitraum zwischen 1470 und 1520 lieferten flämische Ateliers in Brüssel, Gent, Brügge und zahlreichen anderen Städten dann nicht mehr nur Luxusprodukte, vornehmlich Stundenbücher, sie fertigten zusätzlich in hoher Stückzahl Bücher für einen breiten “ bürgerlichen Markt. Dennoch, die Gent-Brügger Schule, vertreten durch den sogenannten Meister der Maria von Burgund, Gerard Horenbout oder Simon Bening, malten weiterhin Miniaturen, die zu den herausragenden Zeugnissen dieses Mediums gehören. Sie fanden, wie vorher die französischen Werke eines Simon Marmion, Jean Fouquet (vgl. “ Abb. 28) und vieler anderer, Nachahmer und Liebhaber in ganz Europa. Simon Bening lieferte beispielsweise 1530–1534 einige der Bilder für die Genealogie des Infanten Dom Ferdinand von Portugal (London, The British Library, Add. Ms 12.531). Und an der Bebilderung des Breviarium Grimani, der wichtigsten aller flämischen Handschriften des 16. Jahrhunderts, war ebenfalls Simon Bening beteiligt; 1520 ging das Buch in den Besitz des Kardinals Grimani in Venedig über (Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, Ms lat. [XI167 7531]).


Die italienische Buchmalerei erhob sich seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu eigenständigem Rang. Ihre Zentren waren zunächst Florenz und Siena mit der Giotto-Schule und mit Simone Martini. Um die Mitte des Jahrhunderts wurde dann die Bologneser Buchmalerei federführend. Die künstlerische Modernität des in Mailand tätigen Giovannino de Grassi (vgl. Abb. 14) brachte nicht nur den Übergang von der Illustration zur autonomen Zeichnung mit sich, sie wirkte sich auch prägend auf die burgundische Buchkunst und auf die in Mailand folgende Produktion aus.

Mit der Renaissance stieg im 15. Jahrhundert die Nachfrage nach weltlichen Handschriften und Ausgaben antiker Klassiker sprunghaft. Parallel dazu nahmen die weltlichen Bibliotheken an Zahl und Kapazität zu. Eine Eigenheit der italienischen Buchmalerei des Quattrocento liegt darin, dass mehr als anderswo in Europa Künstler, die Fresken oder Tafelbilder malten, auch Miniaturen ausführten. Als Beispiel sei Andrea Mantegna erwähnt, der, wie die Forschung fast übereinstimmend glaubt, jenes kostbare kleine Manuskript illuminierte (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 940), das ein venezianischer General am 1. Juni 1453 an den Seneschall der Provence gesandt hat. Anatomisch studierte, nach Maß- und Proportionsregeln aufgebaute Körper, exakte Raumdarstellung und die Demonstration perspektivischer Kunststücke erfüllten die damaligen Bildarrangements.

Sei es in Frankreich oder Flandern, sei es in Italien oder Polen, in Augsburg oder in Nürnberg – die Lage war überall identisch: Nach einer letzten intensiven Hochblüte von 1480 bis 1520 läuft die Produktion illuminierter Handschriften in ganz Europa allmählich aus und endet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, um 1540. Gerade die Universalität des Prozesses spricht gegen die oft geäußerte Behauptung, die Reformation habe der Buchmalerei den Todesstoß versetzt. Dass diese Gattung damals auch in Ländern zum Erlöschen kommt, die von der Reformation nicht oder nur unwesentlich betroffen waren, ist ein schlagendes Gegenargument. Außer Zweifel steht, dass die Anfertigung illuminierter Handschriften zeitgleich zur Reformation dramatisch zurückging. Von einem sofortigen und vollständigen Verschwinden zu sprechen, ist jedoch unzutreffend. Inwieweit die Konkurrenz des gedruckten Buches eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat, soll in einem späteren Kapitel diskutiert werden.

Buchmalerei verstehen

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