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Rotuli und Codices

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Lateinische Ausdrücke wie „Volumen“ für einen einzelnen Buchband (eingegangen ins Englische, Französische und Italienische als jeweils volume) und „Explizit“ für das Ende eines Werkes (zu übersetzen mit „es ist ausgerollt“) erinnern noch an das Monopol der Buchrolle im antiken Buchwesen, an den im Durchschnitt neun bis zehn Meter langen Rotulus. Noch im 3. nachchristlichen Jahrhundert galt er gegenüber dem „billigen“, deshalb oft für den Schulgebrauch bestimmten Codex als die vornehmere Buchform. Seit dem 4. nachchristlichen Jahrhundert verdrängte aber dann der Codex die Rotuli, die im Mittelalter nur noch als sporadische Phänomene begegnen.

Josua-Rolle

Die 10,64 Meter lange Josua-Rolle ist das einzige erhaltene Beispiel eines in ganzer Breite mit Miniaturen in ununterbrochener Reihung geschmückten Rotulus. Sie kam 1623 aus der Heidelberger Palatina-Bibliothek in die Biblioteca Apostolica Vaticana (Pal. gr. 431). Der in griechischer Sprache beschriebene Rotulus besitzt 36 Illustrationen und Texte zum alttestamentlichen Buch Josua, in einer Überarbeitung der Septuaginta. Die in den Zeitraum zwischen 913 und 959 zu datierende Buchrolle gilt als das buchkünstlerische Hauptwerk der nach dem byzantinischen Herrscherhaus des 9. und 10. Jahrhunderts benannten „Makedonischen Renaissance“, die sich nachdrücklich an antiken und frühbyzantinischen Vorbildern orientierte. Die sich „entrollenden“ Bildszenen, die die jüdische Eroberung des Gelobten Landes darstellen, erinnern strukturell an die Bildfriese antiker Triumphsäulen, mögen aber den modernen Betrachter auch an das serielle Prinzip eines Comicstrip oder an Filmsequenzen denken lassen. Die Diskussion, ob der Rotulus nicht nur in die Geschichte der byzantinischen, sondern auch in die der abendländischen Buchmalerei gehört, ist in der Forschung noch nicht entschieden. Einerseits wird die Meinung vertreten, er sei die Kopie einer frühchristlichen Bilderrolle und erlaube damit Aufschlüsse auf die Frühzeit der Bibelillustration, andererseits wird angenommen, es handle sich bei ihm um eine archaisierende, auf den Stil um 700 rückbezogene, kompilierende (das heißt, verschiedene Einflüsse verarbeitende und vereinigende) Erfindung des Mittelalters. Die antikisierenden Bilder der Josua-Rolle sind in transparenter Ton-in-Ton-Malerei vorgetragen, wobei ein späterer Miniator vor allem an den Figuren mit Blau und Purpurviolett Ausmalungen vornahm.


Exultet-Rollen

Archaisierend gemeint und damit als kirchliches Statussymbol eingesetzt waren die in Süditalien, nicht zuletzt im Kloster Montecassino, zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert verbreiteten Exultet-Rollen, auf denen der Hymnus der Osterkerze geschrieben ist. Das früheste erhaltene Exemplar (mit fünf Miniaturen) entstand 985–987 in Benevent und befindet sich unter der Signatur Vat. lat. 9820 in der Vatikanischen Bibliothek. Wenn der Priester auf der Kanzel aus einer solchen Exultet-Rolle vorlas, hatte die Gemeinde die in Bezug auf den Text auf dem Kopf stehend gemalten Bilder auf der über die Brüstung hängenden Rolle richtig erkennbar vor Augen.

Codex

„Buch“

Im Gegensatz zum kontinuierlichen Schrift-Bild-Verlauf des Rotulus besteht der Codex aus gefalteten und zusammengehefteten Blättern, die zum Schutz einen mehr oder weniger stabilen Einband erhielten; außerdem dienten schwerere Buchdeckel dazu, ein zu starkes Sich-Wellen der Pergamentblätter zu verhindern. Dieser uns heute so selbstverständliche Buchtypus hatte antike Vorläufer in den Diptychen, zwei mit Scharnieren zusammengehaltenen Holztäfelchen: Auf deren mit Wachs belegten Innenseiten konnte man mithilfe eines Griffels kurze Notizen schreiben. Da der Corpus dieser Diptychen vorwiegend aus Buchenholz bestand, entwickelte sich daraus das deutsche Wort „Buch“, Vom lateinischen caudex, der Bezeichnung für einen Holzblock, leitet sich dagegen der Terminus „Codex“ her.

Ein Codex war bei weitem praktikabler als ein Rotulus, den man beim Nachschlagen bestimmter Passagen umständlich zur Gänze aufrollen musste. In den großen Bibliotheken waren Codices einfacher und platzsparender aufzubewahren als die Rotuli, die man übereinander stapeln und durch heraushängende Zettel inhaltlich klassifizieren musste. Kein Wunder also, dass sich seit spätantik-frühchristlicher Zeit der Codex durchsetzte und dass die Miniaturmaler konsequent die künstlerischen Vorteile wahrnahmen, die er gegenüber der Rolle ins Spiel brachte. Sie konnten entsprechend dem in sich geschlossenen Format jeder Seite nunmehr ihre Inspirationen vom Tafelbild, vom Fresko oder Mosaik beziehen und mussten auf dem flachen Buchblatt nicht mehr die Brüchigkeit der Farbe befürchten, eine Gefahr, die die aufgewickelte Rolle unausweichlich mit sich gebracht hatte. So besaß der Codex neben seinen lesetechnischen auch konservatorische Vorteile. Und er präsentierte sich samt seiner Buchhülle als durchgestalteter Organismus, der sich für verschiedene Optionen der Auratisierung stärker oder auf andere Weise anbot als der Rotulus. Noch im 13. Jahrhundert wertete deshalb der Liturgiker Guglielmus Durandus den Unterschied von Schriftrolle und Codex in seinem Rationale divinorum officiorum symbolisch aus. Erstere erklärte er zum charakteristischen Attribut von Patriarchen und Propheten, wohingegen er das Buch in Form des Codex den Evangelisten zuwies und auf diese Weise den Gegensatz zwischen dem Alten Testament mit seiner noch halbverhüllten heilsgeschichtlichen Wahrheit und dem Neuen Testament mit seiner dauerhaften kanonischen Lehre herausstellte.

Buchmalerei verstehen

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