Читать книгу Danke Lena - Patrick Reichelt - Страница 10
Der große Traum platzt am Schießstand
ОглавлениеAlles gerichtet also eigentlich für einen weiteren WM-Feiertag. Die Sonne strahlte über der Chiemgau Arena, die ein weiteres Mal mit 26.000 Zuschauern fast aus den Nähten platzte. Auch die Strecke präsentierte sich so gut wie nie bis dahin in den tollen Tagen von Ruhpolding. Doch es deutete sich ernüchternd früh an, dass Neuners großes Medaillenmärchen an diesem Nachmittag nicht fortgeschrieben werden würde. Gleich beim ersten Schießen ließ die Wallgauerin zwei Scheiben stehen. Und fügte sich damit ziemlich nahtlos ins Bild des deutschen Teams ein. Auch Andrea Henkel und Tina Bachmann patzten bei dieser ersten Liegendeinlage zweimal, nur Miriam Gössner kam zunächst mit einem Fehler davon. Da war es auch ein schwacher Trost, dass es Darja Domratschewa noch schlechter ergangen war – der Weißrussin blieb nach vier Fehlern nicht einmal mehr ein Hoffnungsschimmer. Was war geschehen? Die Windverhältnisse am Schießstand hatten sich nach dem Anschießen vor dem Start entscheidend verändert. Natürlich haben die Betreuer die Athletinnen auf der Strecke auf die drehenden Luftbewegungen hingewiesen. Passierte es im falschen Stil, wie Magdalena Neuner später anmerkte? »Die Trainer haben eine gewisse Nervosität verbreitet«, erklärte sie, »so etwas überträgt sich natürlich auch einmal auf die Athleten.« Wie auch immer – in jedem Fall zogen Neuner & Co. beim Anblick der Windfähnchen offenkundig die falschen Schlüsse. Und mussten sich dafür später ihrerseits Kritik von den Übungsleitern gefallen lassen. »Mich wundern die Fehler schon«, merkte Frauen-Bundestrainer Ricco Groß an, »die Verhältnisse waren nicht leicht, aber die Läuferinnen sind alle so erfahren, dass man von ihnen eigentlich schon verlangen kann, auf diese Situation richtig zu reagieren.«
Und so hatte man eben schon mit dem ersten Schießen gehörig Druck auf die eigenen Schultern gebracht. Magdalena Neuner kämpfte verbissen. Gehörte in der Spur wieder zu den schnellsten, bei der zweiten Schießeinlage stand immerhin die Null. Was den Horizont angesichts von rund einer Minute Rückstand auf Platz drei zumindest noch leicht in Bronze schimmern ließ. Daran änderte auch nicht viel, dass Neuner beim dritten Besuch am Schießstand erneut ein Ziel verfehlte. Die Amerikanerin Susan Dunklee, die sich mit der Startnummer eins (»Ein beängstigendes Gefühl, so ein Rennen vor so vielen Leuten zu eröffnen«) fast unbemerkt im Spitzenfeld festgebissen hatte, hatte der Deutschen immer noch nur gut eine Minute voraus. Ein makelloses viertes Schießen und Neuner wäre mit dem Rückenwind des leise Hoffnung schöpfenden Publikums wohl wieder in den Medaillenkampf zurückgekehrt. Die 25-Jährige riskierte viel und verlor alles: Drei Scheiben blieben stehen. Auf der Schlussrunde blieb nicht mehr als Schadensbegrenzung. Während sich Tora Berger mit nur einem Fehler ihre zweite Goldmedaille in Ruhpolding nach dem Gewinn der Mixed-Staffel sicherte – die Norwegerin setzte sich vor der Französin Marie-Laure Brunet und Helena Ekholm (Schweden) durch, die sich ebenfalls nur je eine Fahrkarte geleistet hatten. Neuner blieb Platz 23, schlechter war sie im gesamten Winter nie dagestanden. Und auch ihre Teamkolleginnen konnten an diesem verkorksten Tag nicht entscheidend in die Bresche springen, Andrea Henkel (4 Fehler) stand als 20. noch am besten da. So tief auf den Ergebnislisten hatte man deutsche Läuferinnen bei einer WM seit zweieinhalb Jahrzehnten nicht mehr suchen müssen. Und natürlich hatte die Abfuhr auch an einer so ausgemachten Frohnatur wie Neuner gezehrt. In den Minuten danach präsentierte sich die Wallgauerin, die ihren Traum vom sechsfachen Edelmetall in Ruhpolding so unsanft begraben musste (»Hört sich blöd an, aber mir ist es lieber so als Vierte«) merklich gereizt. Zwei Tage danach erklärte sie, die ausgegebenen sechs Medaillen seien doch vor allem das gewesen, was die Reporter gerne hören wollten, »ich muss mir nichts mehr beweisen«. Spätestens hier konnte man ahnen, dass die Last, das Gesicht der größten Biathlon-WM aller Zeiten zu sein – am Ende hatten atemberaubende 240.000 Menschen die elf Wettbewerbe verfolgt – eben auch an einer ausgemachten Frohnatur nicht spurlos vorbei gehen würde.
Doch wie hatte sich dieses Einzel-Debakel auf das Team ausgewirkt? Kollektive Verunsicherung oder vielleicht doch ein Jetzt-erst-Recht-Gefühl für die so prestigeträchtige Staffel am vorletzten WM-Tag? Aus der bis dato so unglücklich geschlagenen Männer-Abteilung gab es immerhin Rückenwind. Schlussläufer Arnd Peiffer, Andreas Birnbacher & Co. hatten sich tags zuvor nur den illustren Ensembles aus Norwegen und Frankreich geschlagen geben müssen und dem Deutschen Skiverband eine viel umjubelte Bronzemedaille beschert. Und die Frauen? Wollten es nun zumindest besser machen als im Saisonverlauf, als man das Podest in drei Anläufen stets verfehlte. Die Trainer hatten sich dabei eine veränderte Taktik ausgedacht. Anders als etwa ein Jahr zuvor in Sibirien sollte Magdalena Neuner nicht als Schlussläuferin, sondern nach der soliden Tina Bachmann bereits an Position zwei starten. Die dahinter steckende Idee war leicht zu erraten: Man wollte diese Staffel aus einer Position der Stärke von vorne gestalten und die vermeintliche Wackelkandidatin Miriam Gössner als dritte Läuferin mit einem möglichst großen Polster auf die Runde schicken.